In Geschichten verstrickt ...

Jörg Herrmann und Andreas Mertin

Vorbemerkung

Hans-Jürgen Benedict, dem dieses Heft des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik zum 75. Geburtstag gewidmet ist, geht seit vielen Jahren in unterschiedlichen Kontexten dem Zusammenhang von Literatur und Theologie nach. Davon zeugen nicht zuletzt seine Beiträge in diesem Magazin seit dem Jahr 2007.

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Vor 33 Jahren haben wir unsere literarisch-wissenschaftlich-theologische Produktion mit einem Text zur Narrativen Theologie begonnen, eine theologische Richtung, die zwar zwischenzeitlichen etwas aus dem Fokus der Forschung geraten ist, neuerdings aber wieder neue Aufmerksamkeit findet [Vgl. dazu Thomka, Beáta (2014): Die narrative Theologie als Meta-Narratologie. In: Neohelicon 41 (1), S. 97–109.]. Wir haben daher beschlossen, unseren Text – quasi als Dokumentation gemeinsamer Interessen mit Hans-Jürgen Benedict – noch einmal zu publizieren. Außer einigen orthografischen Korrekturen haben wir den Text in seinem Originalzustand belassen. Er erschien 1983 in der Zeitschrift forum religion im Kreuz-Verlag.

Jörg Herrmann & Andreas Mertin

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1. Kleine Geschichte der „Narrativen Theologie“

Das Stichwort „narrative Theologie“ lässt sich nicht in einem Atemzug mit kerygmatischer, dialektischer oder liberaler Theologie nennen. Hinter dem 1973 von dem Linguisten Harald Weinrich[1] kreierten Programmwort „narrative Theologie“ verbirgt sich kein „neues Stadium in der Theologiegeschichte der Nachkriegszeit“[2], wie einer ihrer Vertreter urteilt, sondern eine eher kleine, interkonfessionelle Diskussion um die Bedeutung des Erzählens für Theologie, Kirche und Religionsunterricht. Versucht man aus all dem, was bis heute in 10 Jahren zu diesem Thema gedacht worden ist, ein Gesamtbild zu imaginieren, so entsteht ein Puzzle mit vielen weißen Flecken und vielen unausgeführten Einzelteilen. Die erkennbarsten Strukturen dieses Puzzles versuchen wir nachzuzeichnen, wobei sich hier einige zentrale Begriffe als Inseln relativer Klarheit erweisen, die sogar einige aufschlussreiche Bohrungen in ihr Untergestein zulassen. 1973 eröffneten der Linguist Harald Weinrich und der katholische Theologe Johann Baptist Metz die Diskussion um die „Narrative Theologie“ mit zwei programmatischen Aufsätzen in der Zeitschrift „Concilium“. Sie wollten damit die Kategorie des Erzählens für die theologische Diskussion fruchtbar machen. Während Weinrich auf die narrativen Strukturen der Bibel und der ersten Christenheit verwies („Das Christentum ist eine Erzählgemeinschaft“), zog Metz in seiner „Kleine(n) Apologie des Erzählens“[3] die Begriffe Erfahrung, Erinnerung und Leidensgeschichte zur Begründung heran. Das Stichwort „Christentum als Erzählgemeinschaft“ taucht inzwischen bei der Mehrzahl der „narrativen“ Theologen auf. So schreibt auch Metz, dass „das Christentum nicht primär eine Argumentations- und Interpretationsgemeinschaft, sondern eben eine Erzählgemeinschaft ist“[4]. Der Neutestamentler Lohfink kommt zu dem Schluss, dass nicht nur in den Evangelien, sondern auch in den Briefen „den narrativen Texten, obwohl sie viel geringeren Umfang haben, eine deutliche Primärfunktion zukommt“[5]. Dagegen ist mit guten Gründen eingewendet worden, dass das Christentum historisch zwar Erzählgemeinschaft gewesen sein mag, diese aber seit der Neuzeit nicht mehr besteht. Von diesen Kritikern wird das Leben in und mit Erzählungen als „vorneuzeitliche und vorkritische Geistesbeschäftigung“ bezeichnet und sie stellen sich die Frage, „ob narrative Theologie anders als im Gewände reaktionärer Gesinnung einhergehen kann“ bzw. „ob sie sich gegen eine reaktionäre Rezeption schützen kann“[6]. Auch wenn man diese Bedenken nicht teilt (die durchaus gelungene „narrative Theologie“ der „Bauern von Solentiname“ in Lateinamerika wäre ein Gegenbeispiel), ist doch offensichtlich, dass gegenwärtig von einer „Erzählgemeinschaft“ des Christentums nicht die Rede sein kann. „Erzählgemeinschaft“, wenn man sie für etwas Positives hält, ist dann erst etwas, das wieder geschaffen werden muss, etwas, was Christen sich mühsam aneignen müssen. „Darüber nachzudenken, ist sicher eine sinnvolle Aufgabe der Theologie. Es ist gut, wenn sich Theologie auf Erzählungen bezieht. Besser ist es, wenn ein Theologe zu erzählen lernt.“[7]

 Dass Erzählen die Sprache der Erfahrung und damit auch der Glaubenserfahrung ist, begründet für Metz die Notwendigkeit einer „Narrativen Theologie“, die zu einem kompetenten Erzählen anleitet. Dabei greift Metz Überlegungen des Philosophen Walter Benjamin auf, der das Erzählen „als Vermögen Erfahrungen auszutauschen“[8] charakterisiert hat: Die Geschichte als beispielhafte Bearbeitung von Erfahrungen weiß dem Hörer Rat. Benjamin hatte aber gleichzeitig beobachtet, dass die Kunst des Erzählens verloren zu gehen drohte. Dies wäre nach Metz für die Theologie besonders verhängnisvoll, denn „eine Theologie, der die Kategorie des Erzählens abhandengekommen ist oder die das Erzählen als vorkritische Ausdrucksform theoretisch ächtet, kann die ‚eigentlichen‘ und ‚ursprünglichen‘ Erfahrungen des Glaubens nur abdrängen in die Ungegenständlichkeit und Sprachlosigkeit und kann dementsprechend alle sprachlichen Ausdrucksformen des Glaubens ausschließlich als kategoriale Objektivationen, als wechselnde Chiffren und Symbole für ein Unsagbares werten. Dadurch aber wird die Erfahrung des Glaubens selbst unbestimmt und ihr Inhalt wird dann ausschließlich in der Sprache der Riten und der Dogmen festgehalten, ohne dass die darin zur Formel gewordene Erzählgestalt selbst noch die Kraft des Austausches von Erfahrung zeigt“.[9] Indem Erzählen die tradierten Erfahrungen des christlichen Glaubens gegenüber herrschenden Meinungen geltend macht, wird es zur „gefährlichen Erinnerung“. Dass Erinnerung, wo sie aufbricht und zur Geltung gebracht wird, für die bürgerliche Gesellschaft gefährlichen Charakter bekommt, hat im Anschluss an den Sozialphilosophen Theodor W. Adorno vor allem Herbert Marcuse deutlich gemacht: „Die Erinnerung an die Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint die subversiven Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten ... Das Gedächtnis ruft vergangene Schrecken wie vergangene Hoffnung in die Erinnerung zurück“.[10] An diesen Erinnerungsbegriff knüpft Metz mit seiner These an: „Biblische Traditionen und die aus ihnen erwachsenen Bekenntnisformeln sind ‚Formeln der memoria‘.“[11] Damit ist freilich nicht die verklärende Erinnerung gemeint, die sich mit der Vergangenheit aussöhnt und dadurch zugleich die Gegenwart bestätigt, sondern jene „gefährliche Erinnerung ..., die die Gegenwart bedrängt und in Frage stellt, weil sie an unausgestandene Zukunft erinnert. Solche Erinnerung durchstößt den Bann des herrschenden Bewusstseins. Sie reklamiert unausgetragene, verdrängte Konflikte und unabgegoltene Hoffnungen“.[12] Diese Kategorie der „gefährlichen Erinnerung“ hat „erzählende Tiefenstruktur“. Sie artikuliert sich in gefährlichen, freiheitssuchenden Geschichten. In Absetzung von theologischen Lehren, die Sinn des Leidens dogmatisch verordnen, sucht Metz nach einem Medium, die Heilsbotschaft in der Leidensgeschichte zur Geltung zu bringen und findet es in der memorativen Narratio. Der Begriff der Leidensgeschichte, den er dabei verwendet, ist dem Gedankengut kritischer Theorie im weitesten Sinne entnommen.

Systematisch ausformuliert findet er sich in Walter Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, in welchen Benjamin den Engel der Geschichte beschreibt, welcher dort, wo wir nur eine Kette von Begebenheiten erblicken, „eine einzige Katastrophe (sieht), die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“[13]

Bei Adorno finden sich gleichfalls zahlreiche Abschnitte, die sich mit der Thematik der Leidensgeschichte beschäftigen. Summarisch schreibt er: „Tatsächlich erhält eine Ontologie sich die Geschichte hindurch, die der Verzweiflung.“[14] So kommt Adorno auch zu der Schlussfolgerung: „Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.“[15]

Daran knüpft Metz an. „Eine begrifflich-argumentative Versöhnung zwischen universaler Heilsgeschichte (als Ausdruck der in Jesus Christus vollbrachten Geschichte der Erlösung) einerseits und menschlicher Leidensgeschichte andererseits scheint mir ausgeschlossen.“[16] Vielmehr lässt sich die Heilsgeschichte mit der Leidensgeschichte nur erinnernd-erzählend vermitteln. Eine Theologie, die diese Einsicht berücksichtigt, wäre dem Paradigma biblischer Tradition verpflichtet und könnte dazu beitragen, auch in der gemeindlichen Praxis wieder etwas von dem zurückzugewinnen, wovon bei Metz und Weinrich unter dem Stichwort Erzählgemeinschaft die Rede war.

Als Vertiefung und Relativierung narrativer Theologie kann das „story“-Konzept angesehen werden, das die Theologen Ritschl und Jones in den deutschen Sprachraum eingebracht haben. Sie stellen fest, dass allen theologischen Lehrsätzen und Abstraktionen kleine und kleinste narrative Elemente - Storys - zugrunde liegen, dass also die „Story als Rohmaterial der Theologie“ aufgefasst werden muss. Ausgehend von dieser Erkenntnis beginnen sie, Storys unter den verschiedensten Gesichtspunkten zu differenzieren und klassifizieren. Storys stellen sich so z.B. als die geeignetste Form dar, Identität auszudrücken, insofern sie als „Lebensgeschichte“ oder als Detail-Story Typisches einer Person oder Gruppe offenbaren. Grundsätzlich lässt sich differenzieren nach Detail-Storys, die über einzelne Ereignisse, Vorfälle berichten, und Meta-Storys, die die gesamte Lebensgeschichte von Personen oder Gruppen erzählen. Mit den so gewonnenen Kategorien lassen sich verschiedene Bereiche des Lebens, wie etwa Wirklichkeit, Wahrheit, Vorurteil, Konflikt etc., nach dem Story-Konzept aufschlüsseln. Wenn Sprache nun Wirklichkeit entdeckt und schafft, dann ist Alltagssprache „Rohmaterial“ für alle möglichen Interessenhorizonte. Ob Zeitungsbericht, Geschichtsdarstellung, Krankengeschichte oder Jesus-geschichte, sie können alle Rohmaterial für die Theologie sein. „Inwiefern? Insofern, als alle ... Ausgangsmaterial für Entscheidungen, Urteile, Hoffnungen, Gebete usw. sein können: dann entsteht die Notwendigkeit theologischer Arbeit ... Sprachlogisch kann man so den Entstehungsort der Theologie bzw. die Notwendigkeit ihres Operierens im Übergang von Alltagssprache zu den das Verstehen, Handeln, Beten, Hoffen prüfenden und regulierenden Gedanken sehen.“[17] „Bündig gesagt würde dies bedeuten, dass der erste Schritt in der theologischen Arbeit ... in der Analyse ... der gegenwärtigen Situation besteht.“[18]

Im Unterschied zu den bisher erwähnten mehr theorieorientierten Ansätzen narrativer Theologie ergibt sich für den ökumenischen Theologen J. W. Hollenweger die Notwendigkeit einer interkulturellen Theologie, die sich narrativer Formen bedient, vor allem aus seinen Erfahrungen mit Theologie und Christentum in der Dritten Welt.[19] Er findet dort einen „theologischen Modus, der die Erzählung der Deduktion vorordnet“.[20] Diese Primärfunktion mündlicher Formen, wie Lieder. Erzählungen, Visionen und Zeugnisse unterscheidet diese „mündliche“ Theologie von der „schriftlichen“ Europas und Amerikas. Ein herausragender Vertreter solcher mündlicher Erzählkunst ist der brasilianische Armenbischof Helder Camara. Hollenweger nennt ihn einen „revolutionären Minnesänger“,[21] der das Klagelied der Entrechteten anstimmt. Sein Beispiel macht deutlich, dass die Erzählpraxis lateinamerikanischer Christen keine Fluchtbewegung, sondern eine politisch subversive Praxis ist. Um eine drohende, endgültige Spaltung in „mündliche“ und „schriftliche“ Theologie zu verhindern, gilt es, „andere als begriffliche Kommunikationsmedien in die theologische Werkstatt“[22] aufzunehmen, um so den Dialog zwischen den verschiedenen kontextuell bedingten Theologien zu ermöglichen. Narrative Theologie betrachtet er als „möglichen Weg zu einer Theologie innerhalb einer Kultur, die aber gleichzeitig anderen Kulturen gegenüber offen ist“.[23] Seit 1968 experimentiert Hollenweger selbst - mit wachsendem Erfolg, wie auf den letzten Evangelischer Kirchentagen zu beobachten war - mit narrativen Kategorien. Sein Verhältnis zu der von Metz und Weinrich provozierten Diskussion kommentiert er selbst folgendermaßen „Was mich mit den erwähnten Theoretikern über die Narrativität verbindet, ist die Entdeckung des Narrativen als einer theologischen Kategorie. Was mich in einem gewissen Sinne von ihnen unterscheidet, ist der Wille, dies Erkenntnis in der Praxis auf ihre Tragfähigkeit zu testen.“[24]

2. Erzählen im Religionsunterricht

Das Stichwort „Praxis“ deutet auf einen Bereich, der in den bisher zitierten Überlegungen seltsamerweise gar nicht vorkam, obwohl er eigentlich ganz zentral zum Thema gehört, weil es dort immer auch wesentlich um Erzählpraxis ging: die Religionspädagogik. Welche Bedeutung hatte das Erzählen in der Geschichte der RU? Wie wurden die Anregungen narrativer Theologie religionspädagogisch rezipiert?

Insbesondere seit dem Pietismus werden in den Schulen biblische Geschichten erzählt. Für diese Tradition steht der Name Johann Hübners, dessen „Historien“[25] den RU als Bibelunterricht bis ins 19. Jahrhundert hinein wesentlich geprägt haben.[26] Seine „Historien“ wollen den Schülern den lehrhaften Kern biblischer Geschichten so klar und bibelnah wie möglich vermitteln. Dabei war ihm der Rückbezug auf den Grundtext wichtiger als jedes Interesse an sprachlicher Neugestaltung. Seine „Historien“ sind deshalb keine eigenständigen Neuerzählungen, sondern „Zusammenschnitte“ biblischer Texte.

Max Pauls „Erzählungen für Herz und Gemüt der Kleinen“[27] von 1906 markiert im Kontext der Reformpädagogik einen vorläufigen Höhepunkt der Erzählkultur im RU. Ein von der historischen Forschung der liberalen Theologie motivierte historische Relativierung trifft sich bei ihm mit der pädagogischen Forderung nach Anschaulichkeit. Der knappe biblische Text bedarf einer veranschaulichenden Umgestaltung, damit seine Darbietung für die Schüler zum „Erlebnis“ wird, so dass „intensive Gefühle in ihnen emporquellen.“[28] Die Priorität des psychologischen Aspektes führt zu einer einseitig psychologisierenden Erzähltechnik mit der Tendenz, die Sache des Textes zu verschleiern.

Unter dem Einfluss der kerygmatischen Theologie wird das Erzählen biblischer Geschichten im RU neu problematisiert. Zum Hauptthema wurde die Frage nach der Aussage biblischer Texte, dem sogenannten Kerygma, das als unanschaulich verstanden wird. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang das Votum Stallmanns zum Problem des Erzählens: „Die veranschaulichenden stilistischen Mittel machen die Unanschaulichkeit der von den Evangelisten gemeinten Wirklichkeit noch ‚anschaulicher‘, statt sie einzuschränken oder gar zu überwinden.“[29] Die dieser theologischen Position entsprechende didaktische Grundform des Unterrichts ist die Textinterpretation, die darauf zielt, die kerygmatischen Aussagen der Texte herauszuarbeiten. An dieser Auffassung ist, wie ich finde zu Recht, kritisiert worden,[30] dass der Glaube sich eben nicht einfach an einer Lehre oder Botschaft entzündet, sondern wesentlich von der Anschauung gelebten Glaubens, bzw. der Praxis Jesu lebt. Damit aber werden biblische Geschichten wieder als konkrete Geschichten, als anschauliche Paradigmen der Praxis Jesu relevant.

Aber wie soll man sie erzählen? Darf man umgestalten, verändern, also neu erzählen, oder gilt es, die ursprüngliche Sprachgestalt zu wahren? Dieses Problem wird von Steinwede[31] und Neidhart[32] unterschiedlich reflektiert und realisiert. Steinwede geht es darum, biblische Geschichten kindgemäß umzugestalten. Dabei ist Texttreue leitendes Prinzip, „ohne dass man sich im Einzelnen an Worte oder Sätze des Bibeltextes klammern muss, kann der sachliche und sprachliche Grundbestand der biblischen Überlieferung erhalten bleiben. Die ... Geschichte bleibt dieselbe. Ihre Identität ist gewahrt.“[33]

Neidhart, dessen Geschichten Steinwede konsequenterweise ablehnt, betont dagegen die Subjektivität des heutigen Erzählers, der den biblischen Stoff aus seiner Perspektive für seine Hörer neu erzählerisch gestaltet.[34] Seine Erzählungen sollen den Schülern die Identifikation und Auseinandersetzung mit den wichtigsten Rollen der Geschichte ermöglichen.

Die beiden letztgenannten Ansätze stehen in gewisser Korrespondenz zu den eingangs erwähnten von Hübner und Paul, wobei Neidhart in der Tradition Pauls steht, während Steinwede Parallelen zu Hübner zeigt.

Damit ist in sehr groben Zügen der Hintergrund skizziert, auf dem die religionspädagogische Rezeption (Angermeyer, Scharfenberg, Pohlmann, Baudler) der Überlegungen zur narrativen Theologie zu sehen ist.

Diese geschieht vor allem unter dem Stichwort der „Erfahrung“: Angermeyer betont die Notwendigkeit, im RU zu erzählen, denn die Narratio (im Sinne Lohfinks) „ermöglicht erst, dass der heutige Hörer in ein Verhältnis der tradierten Erfahrungen des Glaubens kommen kann.“[35] Narratio ist Voraussetzung für sinnvolle Argumentatio. Geht es darum, tradierte Erfahrungen kritisch zu bedenken bzw. in ihrer kritischen Potenz im Blick auf gegenwärtige Erfahrungen wahrzunehmen und mit diesen zu vermitteln, kommt es darauf an, „Probleme wie Lösungsversuche sowohl aus dem gegenwärtigen Leben wie aus Lebensentwürfen der Tradition in ihrer narrativen Gestalt in den Unterricht einzubringen.“[36] Das Einbringen der Tradition fordert ein Neuerzählen, in dem Erfahrungen des heutigen Erzählers mit denen des biblischen Erzählers zusammenfließen. Dies sieht Angermeyer u.a. bei Neidhart realisiert.

Bei Scharfenberg[37] trifft sich der Impuls narrativer Theologie mit einem durch den Symbolbegriff vermittelten Verständnis biblischer Texte. Das Symbol versteht Scharfenberg als anschaulichen, mehrdeutigen Ersatzausdruck für Erfahrungen, die anders, etwa durch Begriffe, nicht ausdrückbar sind.[38] Biblische Erzählungen sind symbolhaltige Geschichten, in denen religiöse Erfahrungen gespeichert sind. Das Symbol einer Geschichte gilt es kommunikabel zu machen. Die Geschichte ist deshalb „von ihrem Symbol her so zu befragen und zu gestalten, dass sie den Hörer auf der Ebene eigener Sinnfragen anspricht und berührt“.[39]

Pohlmann sieht die Bedeutung des Erzählens als „das Zentralproblem der Vermittlung zwischen elementaren Grunderfahrungen und Lebenssituationen der Schüler auf der einen Seite und Grunddaten christlicher Tradition und heutiger Wirklichkeit des christlichen Glaubens auf der anderen Seite.“[40] Zu der Frage, ob das Erzählen in unserer durch Information geprägten Zeit eine Fluchtbewegung darstellt, meint Pohlmann: „Das Erzählen soll gerade in der gegenwärtigen postnarrativen gesellschaftlichen Kommunikationsstruktur als ein gegenläufiges Sprachhandeln verstanden werden, das den Adressaten nicht nur als Konsumenten von Information begreift, sondern ihn befähigen will, seine Lebenswirklichkeit neu und auch kritisch zu interpretieren. Dabei sollten Erzählung und das Besprechen der Erzählung nicht gegeneinander ausgespielt werden.“[41] Den im Begriff einer narrativen Theologie enthaltenen Selbstwiderspruch versucht Pohlmann dahingehend zu klären, dass er narrative Theologie als „Theorie des Erzähl-Handelns und der in ihm erschlossenen und erfahrenen Wirklichkeit“[42] versteht.

3. „Symbolisch-erzählende Theologie“ - eine Möglichkeit für den RU?

Die am weitesten gehende religionspädagogische Rezeption narrativer Theologie ist die „Einführung in symbolisch-erzählende Theologie“ des katholischen Religionspädagogen G. Baudler.[43] In einem Theorieteil reflektiert er die Notwendigkeit und Möglichkeit eines symbolisch-nar­ra­ti­ven Umgangs mit christlicher Überlieferung (31 ff), um in einem zweiten Teil Vorschläge zu einem solchen Umgang mit zentralen Komplexen christlicher Überlieferung zu machen (117 ff) und in einem dritten Abschnitt Kirche als Gesprächs- und Erzählgemeinschaft zu thematisieren (259ff). Dass der Verfasser selbst mehr Erzähltheoretiker als Erzähler ist, macht das Lesen seiner Einführung nicht eben leichter. Es geht Baudler im Blick auf den RU darum, „Wege zu finden, wie die humanisierende, heilende Potenz ... christlicher Überlieferung in einer weltanschaulich pluralen Gesellschaft zur Sprache gebracht werden kann.“ (13) Als Defizit wird erkennbar, „dass die sprachliche Artikulation christlicher Überlieferung zu einer binnenkirchlichen Gettosprache eingeebnet wurde: zu einem Kunstgewerbevokabular“ (15). Schuld daran ist die „Wort-von-oben-Struktur“ kirchlicher Verkündigungspraxis, die die Basis zum Verstummen bringt und den „lautlosen Abfall“ nach sich zieht. Die praktische Theologie steht damit vor der Aufgabe, den „einfachen Mann“ dazu anzuleiten „seine ihm eigene theologische Sprache zu gewinnen“ (18), mit dem Ziel, Jesus als Messias seines je eigenen Lebens sehen zu lernen. Dieses wird möglich durch die „dialogische Verflechtung der eigenen Lebensgeschichte und der eigenen Sprachwelt mit der Lebensgeschichte und der Sprachwelt des gekreuzigten Messias Jesus“ (25). Ein solcher Kommunikationsprozess kann nicht rein argumentativ, sondern muss ganzheitlich unter Einbeziehung von Gefühl und Phantasie und deshalb in narrativer Weise erfolgen. Die biblische Überlieferung ist darauf angelegt: das Fundament des Christentums ist im Gegensatz zum Buddhismus keine philosophische Einsicht, sondern eine Geschichte, genauer die Jesusgeschichte, die, vom Tod und der Auferstehung Jesu erzählend, seine Botschaft bewahrheitet. Aufgabe des Religionslehrers ist es, diese Geschichte lebendig zu halten: sie so zu erzählen, dass die Schüler sie jeweils neu mit Erfahrungen füllen können. Anzustreben ist, dass die Schüler selbst erfahrungsorientierte „Transformationen“ biblischer Texte erarbeiten. Bei dieser Korrelation von Glaubensüberlieferung und Lebenserfahrung sind zwei Grundregeln (49 ff) zu beachten, damit eine Gesprächssituation wechselseitiger Widerständigkeit entstehen kann, in der weder die Tradition als Rezeptbuch noch der hörende Mensch als Befehlsempfänger funktionalisiert werden. An dieser Stelle führt Baudler den Symbolbegriff ein, denn der Korrelationsprozess geschieht in wechselseitiger Korrespondenz von Lebens- und Glaubenssymbolen. (Das Symbol repräsentiert eine sinnlich nicht wahrnehmbare Wirklichkeit. Anders als der diskursive Begriff ist es nicht eindeutig abgrenzbar, sondern weist über sich hinaus.) Die erste Regel besagt, dass sowohl das Stück Lebenserfahrung als auch das Stück Tradition durch unterrichtliche Impulse zu repräsentativen Symbolen ausgestaltet werden müssen, d. h. es geht um Symbole, die auf das Leben als Ganzes und auf das Zentrum der Tradition (Jesus-Geschehen) verweisen. Die zweite Regel betont das Moment der Subjektivität: die Korrelation „muss subjektiv zum Aus-druck gebracht und intersubjektiv vergewissert werden.“ (62) Gelingt dieser Korrelationsprozess, so entfalten die christlichen Symbole wieder neu ihre heilende Wirkung (Stabilität und Orientierung), die sie heute weitgehend verloren haben, weil sie zu Klischees erstarrt sind. Resymbolisierung der christlichen Symbole heißt, sie nicht von Alltagssymbolen abzugrenzen, vielmehr ist anzustreben, dass profane Symbole (auch aus der populären Kultur) mit der Jesusgestalt in Verbindung kommen.

Im zweiten Teil macht Baudler Vorschläge „zu einem symbolisch-narrativen Umgang mit wichtigen Komplexen christlicher (katholischer) Überlieferung.“ (117ff) Seine Ausführungen zum Thema „Der Gekreuzigte als König: ein mögliches Sinn- und Orientierungssymbol für freiheitlich-plurale Demokratie?“ seien hier exemplarisch skizziert. Baudler setzt ein mit einer Kritik der „Politischen Theologie“ auf der einen Seite, die in ihrer radikalen Kritik die Gesellschaft sich selber überlasse und damit dem Chao ausliefere (der Terrorismus zeige, „wie nahe der Rand ist an dem das Chaos lauert“ (121). und der politischen Religion auf der anderen Seite, die die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse festschreibe. Demgegenüber plädiert Baudler für eine neue politische Religion, die dazu motiviert, aus der christlichen Überlieferung „Orientierungs- und Identifikationssymbole zu schöpfen, die das individuelle und gesellschaftliche Leben vor dem Chaos bewahren“ (122). Dass das Chaos allerorts lauert, führt Baudler, Walter Scheel zitierend, auf die „Sinnkrise der demokratischen Gesellschaft“ zurück, als deren Symptome er u. a. Terrorismus, Drogenabhängigkeit und Psychotherapieboom erkennt. Zu verhindern, dass ein Gemeinwesen „auseinandergeht wie ein fauler Fisch“ (Flaubert) ist traditionellerweise Sache des Königs gewesen. Er repräsentierte, so Baudler, den tragenden Sinn eines Gemeinwesens. Und „besteht in England oder in den skandinavischen Ländern die Demokratie deswegen relativ ungefährdeter als etwa in der Bundesrepublik, weil dort eine noch ungebrochene Tradition der Königsinstitution die demokratische Staatsform überhöht (...) und dadurch noch ein Stück weit archaisch-religiös legitimiert?“ (127) Könnte nicht Jesus als Messias König wieder neu in dieser Weise Orientierungssymbol werden, fragt Baudler, und betont im selben Atemzug, dass dieser König aber ein ganz anderer sei, ein König von unten der aus der Erniedrigung kommt und dessen Gesicht unter den Unterdrückten und Besiegten aufleuchtet. Mit dem Ethos des „Gekreuzigten als König“ will Baudler den sich gegenseitig relativierenden politischen Ideenkreisen der Neuzeit eine gemeinsame Basis zurückgeben. Entsprechend der Mehrdeutigkeit des Symbols kann sich jeder eine Scheibe davon abschneiden (von Zimmermann bis zu Lafontaine?). Ohne Frage, die Orientierungs- und Sinnstiftungsfunktion des Symbols ist umfassend: Einerseits verweist der „ohnmächtige König“ als Kritik politischer Macht auf die Relevanz der Kritisierbarkeit derer, die politische Macht ausüben, andererseits kompensiert er das Ohnmachtsgefühl des „unbescholtenen Bürgers“, der „immer nur ein winziges Rädchen im Getriebe der geschichtlichen Mächte bildet“ (140), indem er Anteil gibt an seinem „Glanz“ und seiner „Würde“. Dass das Symbol nicht zuletzt entideologisierend wirkt, weiß Baudler mit einer Notiz Wolf Biermanns zur Schleyer-Entführung in „Pardon“ zu belegen: das Zeitungsfoto Schleyers habe sich für Biermann vom symbolischen Kapitalistenkopf in das Bild eines Menschen verwandelt, „der einem Jesus Christus dem Leidenden, viel ähnlicher ist, als den Wechslern, die er aus dem Tempel vertrieb. (...) Er, Wolf Biermann, konnte es nicht verhindern, dass er vom Symbol des Gekreuzigten als König ergriffen wurde und sich dadurch seine ideologisch blinden Augen wenigstens für kurze Zeit öffneten“ (141). In einem dritten Teil entwickelt Baudler sein Verständnis von Kirche als Gesprächs- und Erzählgemeinschaft (259 ff). Er unterscheidet zwei Aspekte von Kirche: die lehramtliche Institution, deren Aufgabe es ist, die Überlieferung vom Messias Jesus authentisch zu bewahren und Kirche „als Gesprächs- und Erzählgemeinschaft, in der christliche Überlieferungssymbole mit dem eigenen Leben verflochten werden“ (267), und die so gewonnene je subjektive Glaubensgewissheit intersubjektiv vergewissert werden kann. Kirche unter dem zweiten Aspekt „ist ansatzhaft Raum der aufgehobenen Entfremdung (E. Biser)“ (267). In Selbsterfahrungs- und Basisgruppen sieht Baudler praktische Neuansätze für Kirche in dieser Funktion. Die Impulse der Basisgemeindenbewegung gilt es kritisch-umge­staltend aufzunehmen, denn es handelt sich dabei um einen religiös-politischen Importartikel. In unserem weder durch politische Unterdrückung noch durch materielle Ausbeutung gekennzeichneten Kontext werden christliche Basisgruppen ein anderes Gesicht tragen: In den Industrienationen sei es vor allem die Leistungsideologie, die Freiheit und Selbstidentität zerstört. Dieser Kontext erfordere eine Gruppe, in der das je individuell „geschehene Subjektsein im Glauben, das eine nicht leistungsbezogene Identität (...) schenkt“ (282) erfahren werden kann, und nicht eine Gruppe, die als Gruppe auch politisch Subjekt wird. Dem naheliegenden Einwand, dass die unheilvolle Leistungsideologie nur ein Symptom der kapitalistischen Gesellschaftsform ist, und dass deshalb derartige Gruppen nichts anderes als eine Form des „Opiums“ sind, weiß Baudler den eschatologischen Vorbehalt entgegenzuhalten: Das Gottesreich auf Erden sei schließlich nicht möglich. Deshalb müsse man sich darauf beschränken, Räume zu schaffen, in denen sporadische Heilserfahrungen möglich sind, die dann vielleicht durch Einzelne auch in das profane Alltagsleben heilend hineinwirken können (Vgl. 286).

Anmerkungen

[1]    H. Weinrich, Narrative Theologie, in: concilium 9, 1973, 329-333

[2]    Zahrnt, Religiöse Aspekte gegenwärtiger Welt- und Lebenserfahrung, in: ZThK 71, 1974, 94-122, 109

[3]    J. B. Metz, Kleine Apologie des Erzählens, in: concilium 9, 1973, 334-341

[4]    ders., a.a.O. 336

[5]    G. Lohfink, Erzählung als Theologie. Zur sprachlichen Grundstruktur der Evangelien, in: StdZ 192, 1974, 521-532, 524.

[6]    E. Rau, Leben-Erfahrung-Erzählen, in: WPKG 64, 1975, 343-355, 344, 347 f

[7]    ders., a.a.O., 355

[8]    W. Benjamin, Der Erzähler, in: Illuminationen, Frankfurt/M. 19802, 385

[9]    Metz, a.a.O., 335

[10]   H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Darmstadt-Neuwied 1967, 118

[11]   Metz, Reform und Gegenreform heute, Mainz 1969, 39f

[12]   ders. ebenda

[13]   Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Gesammelte Schriften, 1,2

[14]   Adorno, Offener Brief an Hochhuth, Noten zur Literatur, Frankfurt/ M. 1981, 598

[15]   ders., Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1975, 29

[16]   Metz, Kleine Apologie . . ., a.a.O., 399

[17]   Ritschl, Jones, Story als Rohmaterial der Theologie, München 1976, 37f

[18]   ders., a.a.O., 28f

[19]   J. W. Hollenweger, Erfahrungen der Leibhaftigkeit, Interkulturelle Theologie 1, München 1979, 19

[20]   ders., a.a.O., 21

[21]   ders., a.a.O., 24

[22]   ders., a.a.O., 28

[23]   ders., a.a.O., 51

[24]   ders. Umgang mit Mythen, Interkulturelle Theologie 2, München 1982, Anm. 25 146

[25]   J. Hübner, Zwey mal Zwey und fünfzig auserlesene biblische Historien aus dem Alten und Neuen Testament, der Jugend zum Besten abgefaßt, Leipzig 1714

[26]   Vgl. U. Baltz, Theologie und Poesie, (Diss.) Mainz 1981, 185

[27]   M. Paul, Für Hertz und Gemüt der Kleinen, Sechsundfünfzig biblische Geschichten für die ersten vier Schuljahre in erzählend darstellender Form aufgrund Wundtscher Psychologie, Leipzig 192914

[28]   ders., a.a.O., 36

[29]   M. Stallmann, Die biblische Geschichte im Unterricht, 1963, 61

[30]   Vgl. R. Preul, Religion-Bildung-Sozialisation, Gütersloh 1980, 157

[31]   D. Steinwede, Werkstatt erzählen. Anleitung zum Erzählen biblischer Geschichten, (Hg.) Comenius-Institut, Münster 1974

[32]   W. Neidhart/H. Eggenberger (Hrsg.), Erzählbuch zur Bibel, Zürich-Einsiedeln-Köln 1975

[33]   Steinwede, a.a.O., 52

[34]   Neidhart, a.a.O., 29ff

[35]   H. Angermeyer, die elementare Bedeutung biblischen Erzählens, in: WPKG 65, 1976, 167

[36]   ders., a.a.O., 168

[37]   J. Scharfenberg u.a., Erzählen und Spielen von biblischen Geschichten, in: J. Scharfenberg/H. Kämpfer, Mit Symbolen leben, Ölten 1980, 250 ff

[38]   ders., a.a.O., 255

[39]   ders., a.a.O., 252

[40]   D. Pohlmann, Narrative Theologie in der gegenwärtigen Lernsituation, Ev. Erzieher 29, 1977, 366

[41]   ders., a.a.O., 369

[42]   ders., a.a.O., 370f

[43]   G. Baudler, Einführung in symbolisch-erzählende Theologie, Paderborn/München/Wien/Zürich 1982; alle weiteren Seitenangaben beziehen sich auf dieses Buch.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/102/hmx.htm
© Jörg Herrmann / Andreas Mertin, 2016