Vielfältige Inszenierungen der Vernunftherrschaft im alten Reich

Zu Steffen Martus ‚Aufklärung‘

Hans-Jürgen Benedict

Martus, Steffen (2015): Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert - ein Epochenbild. Berlin: Rowohlt Berlin.

Deutschland gilt gemeinhin als „verspätete Nation“ (H. Plessner). Während andere Nationen wie England und Frankreich ihre Nationwerdung und Aufklärung einschließlich Revolution längst hinter sich hatten, existierte in der Mitte Europas immer noch das „Heilige römische Reich deutscher Nation“ unter der Führung Habsburgs mit seinen kleinteiligen Fürstentümern und Herrschaften und entfaltete sich als eine vielfältig anregungsreiche „Kulturnation“. 1806 aufgelöst wirkte es in der politischen Praxis weiter. Noch 1834 musste Heinrich Heine in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland seinen französischen Lesern erklären, weswegen die Deutschen in der Theorie, sprich Philosophie so radikal, in der politischen Praxis aber so konservativ-rückständig seien. „Ein methodisches Volk wie wir mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen.“ Heine exemplifiziert die deutsche Radikalität im 18. Jahrhundert an Christian Wolff, Moses Mendelsohn und Lessing (den er als Nachfolger Luthers apostrophierte) und kommt dann zu Immanuel Kant. Er deutet dabei Kants Kritik der reinen Vernunft mit ihrer Erledigung der Gottesbeweise, „er hat die ganze Besatzung (des Himmels) über die Klinge springen lassen“, als Auftakt zur Abschaffung der Adelsherrschaft.

Kants berühmte These „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“, zwei Jahre nach der Kritik 1784 publiziert und zum werbewirksamen Motto der Aufklärung in Deutschland geworden (von Heine merkwürdigerweise nicht zitiert) nimmt nun Steffen Martus in seinem großangelegten Werk Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert“ (1033 Seiten!) zum Ausgangspunkt für eine Neuerzählung, für ein elegant und spannend erzähltes hochdifferenziertes Epochenbild dieses Jahrhunderts, das uns in seiner zweiten Hälfte vor allem als Zeit der Klassik und damit als einer auf Bildung setzenden Haltung als Bedingung von Freiheit vertraut ist. „Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit,“ heißt es bekanntlich bei Kant weiter, „wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Anleitung eines anderen zu bedienen.“ Aber wie kommt es zu dieser Unmündigkeit, wenn es, wie doch ersichtlich, im 18. Jahrhundert so viele kluge Geister und Aufklärer gegeben hat, fragt Martus. Und er gibt kund, eine Epochengeschichte der Aufklärung schreiben zu wollen, die neben den literarischen Strategien der Aufklärung die Ebenen von Politik, Kultur, Wissenschaft und Religion in ihrer Darstellung berücksichtigen wird. „Wie aber verhielten sich die Ideen zu den Ereignissen, Akteuren, Institutionen oder Gesellschaftsstrukturen?“ (S. 18) Und das eben unter den besonderen Bedingungen des alten Reichs. Er setzt sich damit von der älteren Forschung ab, die „im Alten Reich nur Mangel und Verspätung ausgemacht (hat): mangelnde Staatlichkeit, mangelnde politische Führung, mangelnde kulturelle Verbundenheit und eine daraus resultierende verspätete Einigung Deutschlands im 19. Jahrhundert mit katastrophalen Folgen im 20. Jahrhundert.“ (S. 197) Nein, Martus will das 18. Jahrhundert im deutschen Reich positiver sehen. Es bot ein breites Spektrum von Handlungsspielräumen an, in denen sich aufklärerische Ideen entfalten konnten. Es war politische Gemeinschaft, Verfassungs-, Informations-, Policey-, Wirtschafts-und Verteidigungsgemeinschaft zugleich, nicht auf Expansion, sondern auf Bestand und Erhaltung gerichtet. In diesem Kontext konnten sich in Deutschland in verschiedenen Bereichen aufklärerische Ideen entfalten. Ausführlicher als in Rezensionen sonst üblich werde ich sie vorstellen.

Drei Orte macht Martus zunächst aus, an denen sich die Aufklärung entfaltete: den Hof, die Universität und die Stadt. Martus setzt ein mit der Krönung des Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg zum „König in Preußen“ in Königsberg im Dezember 1700 – eine aufwendig inszenierte Rangerhöhung durch Selbstkrönung, mit der der Kurfürst im Konzert der europäischen Fürstenhöfe einigermaßen gleichrangig mitspielen will. Dem gleichen Ziel diente 1693 die Gründung der Universität in Halle. Die Umwandlung der örtlichen Ritterakademie in eine Landesuniversität war nicht unbedingt ein Akt der Aufklärung, sondern vor allem Teil fürstlicher Interessenpolitik der Rangerhöhung. Gegen die Zusage, Truppenkontingente im pfälzischen Erbfolgekrieg zu stellen, erhielt der Kurfürst vom Kaiser das Privileg, akademische Grade zu verteilen, Notare zu ernennen, uneheliche Kinder anzuerkennen und neue Ämter zu vergeben.  Das nutzte er dazu, um seinen sechsjährigen Sohn zum ersten Rektor der Universität zu ernennen. Auch die Professoren beherrschten wie die Höflinge schnell das Intrigenspiel und liebten die feierliche Selbstdarstellung. Der Star der Fridericiana war neben Wolff der Philosoph und Jurist Christian Thomasius. Der klagte nicht nur über den „elenden Zustand“ der lernunwilligen Studenten, sondern legte sich auch mit dem aufsteigenden Stern der Universität, dem Pietisten August Hermann Francke, wegen dessen Verdammung von Tanz und Theater an. Das waren für Thomasius Adiaphora. Doch Francke hatte die besseren Beziehungen zum Hof, Thomasius wurde wegen Atheismus gerügt. Martus lässt sich die Erfolgsgeschichte Franckes nicht entgehen – wie dieser in Glaucha, einem Dorf vor Halle, mit den berühmten 4 Talern und 16 Groschen im Opferstock die später so genannten Franckeschen Anstalten gründete und ein weitreichendes sozial-pädagogisches Beziehungsnetz, das bis nach Übersee reicht, zur aufklärerischen Verbesserung der Gesellschaft aus pietistischem Geiste aufbaute. Er verband „die Pflege einer allen Menschen gemeinsamen Innerlichkeit“ (S. 140) mit der Beibehaltung der ständischen Ordnung; Arme und vornehme Kinder wurden bei ihm an getrennten Schulen unterrichtet. Wenn man will, kann man hierin schon die Anfänge jener „machtgeschützten Innerlichkeit“ (Thomas Mann) sehen, die im 19. Jahrhundert für das deutsche Bürgertum typisch wurde.

Besonders spannend und aufschlussreich ist (zumal für einen Rezensenten aus Hamburg) die Schilderung des „Hamburger Patriotismus zwischen Stadt und Reich“ (S. 155ff). Martus‘ Arbeitsweise der Zusammenschau verschiedener Ebenen ist hier gut nach zu verfolgen. Sie wird dramatisch eröffnet mit der Darstellung der Hinrichtung des Reeders Jastram und des Kaufmanns Snitger im Oktober 1686, die 1684 den Bürgermeister wegen Korruption und Vetternwirtschaft abgesetzt und damit den Rat entmachtet hatten. In den folgenden Auseinandersetzungen mit den angrenzenden Territorien und dem Reich hatten die Aufrührer der Revolte (in der DDR-Ge­schichts­schreibung als frühbürgerliche Revolution gedeutet) Kontakte zu Dänemark gesucht. Als die Dänen mit 16.000 Mann vor den Toren Hamburgs aufmarschierten, kippte die Stimmung. Man suchte den Schutz des in Celle residierenden Herzogs von Lüneburg-Braun­schweig, Jastram und Snitger wurden abgesetzt, des Landesverrats angeklagt, verurteilt und hingerichtet, obwohl sie den Landesverrat auch unter der Folter bestritten. Ihre Köpfe wurden am Millerntor und am Steintor auf Stangen gespießt und hingen dort jahrelang zur Abschreckung. Schauspiele über Prozess und Hinrichtung machten als „Theater der Grausamkeit“ Furore, vergleichbar dem Medientheater des IS mit seinen gefilmten und ins Netz gestellten Hinrichtungen.


Peter Schenck der Ältere, Hamburg 1682

Die Hamburger Lage war komplex – einerseits als reichsunmittelbare Stadt dem habsburgischer Kaiser untertan, musste man mit den protestantischen Landesfürsten der umgebenden Territorien Hannover, Lüneburg-Braunschweig und Brandenburg-Preußen auskommen, sich gegen Dänemarks Übergriffe wehren und als Handelsstadt immer darauf achten den Handel aufrechtzuerhalten (selbst mit Reichsfeinden wie Frankreich). Die doppelpolige Herrschaftsstruktur mit dem Rat und der aus den fünf Kirchspielen sich rekrutierenden Bürgerschaft führte dazu, dass die Konflikte zwischen Patriziern und Handwerkern schnell auf der Straße ausgetragen wurden. So kam es nur vier Jahre nach der Hinrichtung Jastrams und Snitgers zum Hamburger Pietismus-Streit, als pietistisch eingestellte Pastoren die Unterschrift unter eine Eidesformel, den Revers, verweigerten, die zur Treue gegenüber den „etablierten Kirchen-Ceremo­ni­en“, sprich den lutherisch-orthodoxen verpflichtete. Doch der Konflikt zwischen pietistischen Neuerern und Orthodoxen eskalierte, es kam zu Unruhen, 1708 rückten kaiserliche Truppen gegen die Stadt vor, die Rädelsführer der Unruhen landeten im Gefängnis. Ein „Hauptrezeß“ von 1712 sollte endlich alle Fragen regeln, die paritätische Zweiteilung der Herrschaft zwischen Rat und Bürgerschaft wurde bestätigt mit dem Vorrang des Rates, zu dem nur wenige erbgesessene Bürger Zugang hatten. Liberalität und religiöse Toleranz waren in Hamburg nicht angesagt (1617 kam es zum Sturm auf die katholische Kapelle, die der Gesandte des Reichs neben seiner Residenz für seine Privatandacht hatte errichten lassen, wofür sich 1721 eine Hamburger Gesandtschaft beim Kaiser in Wien persönlich entschuldigen musste). Letztlich siegte die konservative Reaktion.

Aus dieser Oberschicht aber kamen jene Hamburger Aufklärer wie der Ratsherr Johann Hinrich Brockes, der in der moralischen Wochenschrift Der Patriot anonym die Hamburger sozialen Verhältnisse kritisierte, Verschwendungssucht und Angeberei bloßstellte. Anders als die Flugschriften, die in Hamburg in großen Mengen zirkulierten, und die sich auf Schmähungen konzentrierten und gelegentlich (stellvertretend für den Autor) auch öffentlich verbrannt wurden, wollte der Patriot die sozialverträgliche Zulassung von Meinungsverschiedenheiten befördern.

In seinem Hauptwerk Irdisches Vergnügen in Gott, in dem Brockes scheinbar „das Bild eines frommen Biedermanns vermittelt, der mit großer Gleichmut, Sorgfalt und Freude Blümchen und Käferchen betrachtet, um die Natur als Werk eines ‚lieben‘ Gottes zu erweisen“ (S.245), geht es letztlich darum, Beziehungen zwischen Verschiedenem herzustellen. Brockes Absicht ist es ,„mit virtuosem Eklektizismus ein lyrisches Integrationsangebot“ zu machen, das angesichts der zerrütteten Verhältnisse Hamburgs eine heilsame Wirkung entfaltet. Der Mensch soll in den Schöpfungsprozess einbezogen werden und in einem prinzipiell unruhigen Universum in aller Ruhe sich seiner Betrachtung widmen. Und damit sogar den Tod als sanften Übergang, als erholsamen Schlaf verstehen (worauf Lessing später in seiner berühmten Schrift Wie die Alten den Tod gebildet eingegangen ist).

Im zweiten Teil des Epochenbildes geht es Martus noch mal um die Universität und um die Rolle des Philosophen Christian Wolff. Dieser hatte in einer Schrift provozierend sich zu einem Lob der Chinesen hinreißen lassen, die auch ohne christliche Religion ziemlich zivilisiert seien, was unter Androhung der Todesstrafe zu seinem Verweis aus Halle führte. Martus skizziert „eine Aufklärung ohne Grenzen“, schildert die naturwissenschaftliche Experimente, etwa die Wolffs über die Folgen des Atementzugs, Hallers Sektionen von Leichen in Göttingen, wozu er sich bei Bettlern bediente, seine grausamen Tierexperimente, um seine Irritabilitätsthese gegenüber der Sensibilitätsthese zu beweisen. Der erste Statistiker, der Berliner Propst Johann Peter Süßmilch, sammelte Daten über Geburts-und Todesraten und empfahl den Herrschenden die Erhaltung der Armen aus Eigennutz. Viel ist vom Buch der Natur als der zweiten Offenbarungsquelle die Rede.

Hallers Unvollkommene Ode über die Ewigkeit und Brockes Firmament-Gedicht versuchen, die Erfahrung des Schreckens eines grenzenlosen Universums poetisch zu verarbeiten. Wie kann angesichts des heliozentrischen Schocks trotzdem an eine gut geordnete Welt geglaubt werden? Das fragen auch viele große Geister nach dem Erdbeben von Lissabon 1755. Gestreift wird die weibliche Aufklärung, der Weg von der „gelehrten“ zur „verständigen“ Frau, u.a. am Beispiel der Gottschedin.

Die radikale Aufklärung, von Frankreich kommend, hatte auch in Deutschland ihre Vertreter. Nicht nur entfiel die christliche Mythologie, womit Martus die Erlösungslehre meint. Die Welt wird erklärt, als ob es Gott nicht gäbe, das personale Gottesbild wird durch Spinozas Pantheismus ersetzt. Furore machten 1717 die Meditationes philosophicae über Gott, Welt und Mensch von Theodor Ludwig Lau. Gott sei aus der Natur erkennbar, die Bibel nur fehlerhaftes  Menschenwerk. Der Mensch sei aus unterschiedlicher Materie zusammengesetzt, Erlösung und Verdammnis seien überflüssig. Lau landete im Gefängnis. So schlecht erging es Johann Lorenz Schmidt, dem Verfasser einer rationalistischen Bibelübersetzung, der Wertheimer Bibel, glücklicherweise nicht; er wurde von seinem Brotherrn, dem lutherischen Grafen Wertheim, gegen pietistische und katholische Angriffe geschützt. Die Skandal-Bibel gab es allerdings nur in Prachtexemplaren, war deshalb nur für Betuchte erschwinglich, im Übrigen mit der mitreißenden Übersetzung Luthers, so Martus, nicht vergleichbar. Wer eine offenbarungstheologisch fundierte und hierarchische Gesellschaft in Frage stellte, riskierte im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation seine bürgerliche Existenz. Weswegen bekanntlich der Hamburger Gymnasialdirektor Reimarus seine kritische Bibellektüren geheim hielt und erst Lessing mit der Veröffentlichung der Fragmente eines Ungenannten für den Skandal sorgte, den er wollte.

Daraus ist auch noch heute etwas zu lernen: Zwar ist historisch-kritische Auslegung der Bibel in beiden großen Kirchen Standard (was Papst Benedict XVI. nicht davon abhielt, sie in seinen Jesusbüchern weitgehend souverän zu ignorieren), aber allzu tiefenpsychologische Ausleger der Heiligen Schrift wie Eugen Drewermann, die den Offenbarungsgehalt in psychische Erfahrungen verwandeln oder Verfechter einer strikt nichttheistischen Gottesrede (siehe der Hamburger Pastor Paul Schulz) werden immer noch exkommuniziert. Die ungeschützte personalistische Predigtsprache, die sich den Bildcharakter der Gottesprädikate nicht eingesteht, ist hingegen weit verbreitet, als hätte der doch ansonsten hoch verehrte Dietrich Bonhoeffer nie den Satz gesagt: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“

Im dritten Teil des Epochenbildes „Aufklärung im Widerstreit“ stehen die Kontrahenten Friedrich II. und Maria Theresia als Fürsten, die „mit Herz regieren“, im Zentrum; Friedrich der Philosophenkönig, der sich als erster Diener seines Volks verstand (und Menzels Gemälde von der Überreichung einer Bittschrift armer Leute an den heranreitenden König in der Berliner Alten Nationalgalerie zeigt die Wirkung dieses Mythos). Maria Theresia bezeichnet Martus sogar mit einer modernen Anleihe als „Königin der Herzen“ (Das hätte er schon bei Matthias Claudius finden können, der anlässlich des Todes der Kaiserin im Jahr 1780 sein herzerwärmendes Gedicht verfasste: „Sie machte Frieden, das ist mein Gedicht“). Die Religionspolitik der Habsburger setzte auf konfessionelle Einheitlichkeit (Vertreibung der Salzburger Protestanten), aber auch auf sakrale Identifikationsporträts. Was die Pietisten für die Reform Preußens bedeutete, war für Österreich der Einfluss der Jansenisten, der den der Jesuiten zurückdrängte. Gemäßigte Aufklärung war auch in der katholischen Kirche angesagt.

Ein Kapitel handelt vom Siebenjährigen Krieg, den Martus als „ersten Weltkrieg“ bezeichnet, weil er seinen Ursprung in dem Konflikt zwischen Frankreich und England in Amerika hatte. Eindrucksvoll die Beschreibung der ersten großen Schlacht von Lobositz am 1. Oktober 1756 zum einen aus der Feldherrnperspektive (Friedrich II.), zum andern aus der Froschperspektive als blutiges Gemetzel durch Ulrich Bräker (Der arme Mann in Toggenbrug). Dieser diente in der preußischen Armee, gerät bei einem Durchbruch in einen regelrechten Gewaltrausch, hört aber das „Zetter- und Mordiogeheul“ tausender Opfer und desertiert schließlich. Die Aufklärer waren in der Regel keine Kriegskritiker. Es gab eine „Poesie des Kriegs“ in Gleims Preussischen Kriegsliedern, die den Tod auf dem Schlachtfeld priesen und zu denen Lessing kritisch sagte, der Patriot „überschreie“ darin den Patrioten und versuche ihn vergessen zu machen, dass er „ein Weltbürger“ sei. Es gab Abbts programmatische Schrift Vom Tode für das Vaterland. Es gab den gesuchten Tod Ewald von Kleists auf dem Schlachtfeld, von Lessing wild ironisch betrauert. „Er hatte drey vier Wunden schon, warum ging er nicht. Es haben sich Generals mit wenigern und kleinern Wunden schon umschimpflich auf die Seite gemacht!?“ In die Zukunft verwies jene „ Religion des Kriegs“, wie sie etwa der preußische Pastor Sack in seinen Berliner Predigten verkündete. Dieser versetzte seine Gemeinde unmittelbar auf das Schlachtfeld, auf dem über Heil und Unheil entschieden wurde und der Herr Zebaoth als himmlischer Verbündeter des Königs für Preußen stritt – es war eine Einstellung, die 150 Jahre später in den Kriegspredigten des 1. Weltkriegs noch schrecklicher wiederkehrte (wobei die Predigt überdies als Mittel gegen Entkirchlichung benutzt wurde: „Vorwärts gegen den Feind, zurück zu Gott“, so der Hamburger Hauptpastor Hunzinger im August 1914). Immerhin konnte ein so großer Schriftsteller wie Lessing in seiner Komödie Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück, immer hart am Rande der Tragödie zeigen, dass selbst in einer unglückseligen Nachkriegszeit (zusätzlich zu der halben Million Soldaten waren in Preußen 400.000 Menschen Seuchen zum Opfer gefallen), die dem Major von Tellheim arg zusetzte, sich alles zum Besten wenden kann, wenn einer nur ganz sein Herz sprechen lässt.

Einfühlsam sympathisch schildert Martus Christian Fürchtegott Gellert als Vertreter und zugleich als lebendiges Beispiel eines empfindsamen Aufklärers, der Herz und Kopf in ein Gleichgewicht zu bringen wusste. Gellert war „eine Epochenfigur, die diese verschiedenste Interessen miteinander verband: Poesie und Prosa, Geistliches und Weltliches, Gefühlsintensität und Gefühlskontrolle.“ (S. 557) Seine „Geistlichen Lieder und Oden“ waren weit verbreitet, wurden übrigens von dem Hamburger Bach vertont. „Mein erst Gefühl sei Preis und Dank“ steht im Evangelischen Gesangbuch. Dazu war er ein „Dichtername im Munde des Volkes“ (Karl Philip Moritz). Und zugleich einer, der beste Beziehungen zur Welt des Adels unterhielt, Vertreter einer Aufklärung, deren „Moral, nachdem sie sich von religiösen Gängelungen befreit hatte, wieder einen Versöhnungskurs mit der christlichen Frömmigkeit einschlug, die ja ihrerseits nicht unberührt durch die Konflikte hindurchgegangen war“ (S. 559). Er versenkte die Religion wieder, tief in den „ästhetischen“ Gefilden des Menschen, wo die Sprache des Herzens mit „redendem Gefühl“ daran die eigene Unmündigkeit erinnerte, wenn man sich als Teil der göttlichen Schöpfung empfand.“ (Das tat noch überzeugender eine Generation später Matthias Claudius, der mit der Strophe vom Mond, der „nur halb zu sehen und doch rund und schön (ist)“, an die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis erinnerte). Mit einiger Berechtigung lässt sich anmerken, dass diese ästhetische Verankerung der Religion heute in den besser gestellten Kreisen anzutreffen ist, die die Liebhaber von Schütz, Bach und Mendelssohn sind, auch wenn sie deren dogmatisch- bzw. mystisch-christlichen Texte kaum noch nachvollziehen können.

So langsam lässt Martus dann das Jahrhundert der Aufklärung in Deutschland ausklingen – spricht vom „Ende eines Zeitalters?“. Winckelmanns Entdeckung der Griechen, „stille Einfalt, edle Größe“, schildert eine verunglückte Kaiserkrönung in Frankfurt, die Gründung des Göttinger Hainbunds durch literarisch engagierte Studenten, das Woellnersche Aufklärungsedikt, die Gartenkunst in Dessau-Wörlitz, den bayrischen Erbfolgekrieg, der nicht nur Goethes kluge briefliche Beratung seines Herzogs, ein Glanzstück politischer Prosa, sondern auch Matthias Claudius eindrucksvolles Kriegslied hervorbrachte. Martus übergeht es leider ganz, dabei ist es mit seiner intensiven Schilderung des Gewissenstraums, in dem die Erschlagenen vor dem Dichter wehklagen, ein Antikriegstext, dessen Wirkung bis in die Proteste gegen die Irakkriege 1990 und 2003 reicht.

Der ungeheure Erfolg der Leiden des jungen Werthers, sowohl eine Entkriminalisierung des Selbstmords, als auch eine Entfachung der Leidenschaften rief die Kritik der Kirche wie der Aufklärer hervor – Goeze polterte dagegen, Lessing wünschte sich eine „kalte Schlußrede“. „Erfahrungsseelenkunde“ hingegen forderte Karl Philip Moritz und brachte sie in seinem Roman Anton Reiser in eine literarische Form. Er schildert peinigend die langwierige Entwicklung seines Helden aus ärmlichen Verhältnissen und enger pietistischer Frömmigkeit bis hin an die Universität und ans Theater, getrieben von den ihn determinierenden Umständen seiner Herkunft. Anton Reiser wird so zum Urtyp des modernen Seelenromans, zwar ohne die unterhaltsamen geistreichen Abschweifungen, wie Sternes Tristram Shandy, aber auch mit ironischen Passagen, etwa wenn der Held und sein Freund in der freien Natur empfindsame Literatur lesen, dabei von in die Hosen krabbelnden Ameisen gestört werden, und dann auch noch die Lektüre von Klopstocks Messias nur langweilig finden.

Martus nennt dies Kapitel die „Individualität der Aufklärung“. Man könnt es auch die Zertrenntheit der Aufklärung in Deutschland nennen – zusammen mit und in den Kleinstaaten entwickeln sich Individualitäten, die anders als im benachbarten Frankreich in wo sie sich in der Auseinandersetzung mit einer Zentralgewalt zur Revolution zusammenfassen, sich zersplittern, viele Musenhöfe, aber keine gemeinsame soziale Bewegung. Jedenfalls sind sie sich angesichts des Terrors der französischen Revolution in der Notwendigkeit ästhetischer Erziehung einig – Freiheit sei nur durch Freiheit zu lernen, so Schiller. Das geht aber über Martus‘ Untersuchungszeitraum hinaus, der mit 1784, also mit Kants programmatischer Schrift Was ist Aufklärung? endet.  Nicht ohne vorher auf die jüdische Aufklärung zu verweisen, wie sie von Moses Mendelssohn vertreten wurde und ebenfalls in der Berlinischen Monatsschrift erörtert worden war. Im Unterschied zu Kant skizzierte Mendelssohn aber ein Bild der Aufklärung mit Schattenseiten. Vielleicht ist es gerade deshalb eine Verbeugung vor seinem Freund Mendelssohn, wenn Lessing dann in Nathan der Weise seinen weisen Juden als unermüdlichen Aufklärer der ihn umgebenden Fanatismen und Schwärmereien zeichnete. Zu ihm spricht die Vernunft nach dem Pogrom „mit sanfter Stimme: Und doch ist Gott.“ Mit der Ringparabel gibt er der deutschen Spätaufklärung ein unüberbietbar hinreißendes erzählerisches Gesicht: „Es eifre jeder seiner unbestochnen von Vorurteilen freien Liebe nach,“ lässt Lessing seinen Nathan-Mendelssohn sagen. Die Vorurteile aber zeigten gerade in dieser Zeit in der Reaktion auf Conrad Wilhelm von Dohms (von Mendelssohn angeregte) Schrift Von der bürgerlichen Gleichstellung der Juden, 1781 veröffentlicht, ihre gehässige Fratze. Die Rechtsstellung der Juden in Preußen war äußerst unsicher. Nicht zufällig bleibt am Schluss von Lessings „dramatischem Gedicht“, wo sich die Protagonisten als Mitglieder einer Familie erkennen und in den Armen liegen („der Vorhang fällt unter allseitigen Umarmungen“), der Jude Nathan ausgeschlossen. Dohms Schrift aber zeigt, dass die antijüdischen Vorurteile gesellschaftlich erzeugt wurden – die Juden würden zu einer bestimmten Lebensführung verurteilt, die dann wieder die Vorurteile bestätigte. Er schlug eine Reihe von Maßnahmen vor, „die Juden zu bessern Menschen und nützlichen Bürgern zu bilden.“ (S. 855) Rechtsgleichheit und Gewerbefreiheit standen an oberster Stelle. Diese bürgerliche Gleichstellung der Juden, die dann Napoleons Code Civil für ein paar Jahre in Deutschland realisierte, hätte also in Preußen, wäre man Dohm gefolgt, schon früher umgesetzt werden können.

Wie wahre Toleranz aussehen könnte, entfaltete dann Moses Mendelssohn in seiner Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783), in der er das Verhältnis von Staat und Religion überzeugend so bedachte: „der Staat ertheilt Gesetze, die Religion Gebote. Der Staat hat physische Gewalt (…), die Macht der Religion ist Liebe und Wohlthun.“ Selbst Kant war davon beeindruckt und schrieb an Mendelssohn, er hoffe die Kirche werde endlich die „unbeschränkte Gewissensfreyheit“ anerkennen und „alles , was das Gewissen belästigen und drücken kann,“ aufgeben (S. 861). Mendelssohn wurde aber von orthodoxen Rabbinern ebenso angegriffen wie die kritischen Aufklärer und Theologen von der Kirche. Trotz bürgerlicher Gleichstellung der Juden im Deutschen Reich wuchs der Antisemitismus. Zum hundertjährigen Jubiläum von Lessings Nathan 1879 kamen von jüdischer Seite die größten Elogen; viele Juden in Osteuropa nannten sich Lessing, eine Namensgebung, die sie zwei Generationen später nicht vor der Vernichtung rettete. Müsste man nicht mit Thomas Mann und seinem Doktor Faustus auch hier sagen, dass Deutschland sein Bestes zum Bösen ausschlug? Der Nathan wurde ja selbst noch unter der Nazi-Herrschaft gespielt.

Martus lässt seine großangelegte faszinierende Studie damit enden, dass er eine Beziehung zwischen der Krönung des Kurfürsten zum König in Königsberg im Dezember 1700 und dem Königsberger Philosophen Kant und seiner Aufklärungsschrift von 1784 herstellt – zwei Selbstkrönungen – der eine wollte selbst regieren, der andere selbst denken, beide wollten einen Anfang setzen und darin liegt, so Martus, die Erfolgsgeschichte der Aufklärung. Die Hoffnung auf bessere Zeiten, auf einen heiteren Himmel analog zum Ende der kleinen Eiszeit, erfüllte sich aber nur für einen kleinen Teil der Bevölkerung. Wie es den Regierten mit den Errungenschaften der Aufklärung erging, das hätte man gerne genauer erfahren. Etwa wie rationalistisch eingestellte Pastoren in ihren Predigten ihre Bauern über besseren Ackerbau und Viehzucht aufklärten. Die von Martus erwähnte Haltung Kants, die Welt aus der Perspektive des Staats und der Regierung wahrzunehmen und die chaotisch wimmelnde Gesellschaft zu vernachlässigen, verweist ja schon voraus auf Hegel und seinen Gang des Weltgeistes, der sich schließlich sowohl in Napoleon hoch zu Pferde wie im preußischen Staat verkörpert.

Martus ist es gelungen, das 18. Jahrhundert mit „seinen unterschiedlichsten Gemengelagen aus staatlicher und vorstaatlicher, territorialer und transregionaler Politik, durch die sich die Regierenden und Regierten hindurch gewurstelt haben“ (S. 886) neu zu erschließen. Irgendwie, so Martus, ist diese Gemengelage als Orientierungshilfe besser für unser postnationales Zeitalter, auch wenn man die Wiederkehr der Religion betrachtet (wenn es denn eine ist), „weil die deutsche Aufklärung ein enges und versöhnliches Verhältnis zum Glauben nie aufgegeben hat.“ (S. 888) Das sanfte Licht der Aufklärung des 18. Jahrhunderts ist sowohl „der bösen Erleuchtung angezündeter Häuser“ (Lichtenberg), sprich der Revolution, als auch den Geistesfackeln der deutschen Naturphilosophie vorzuziehen, vor denen Heine 1834 die Franzosen auf den letzten Seiten seiner Geschichte der Religion und Philosophie warnte. Wenn „die dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus“ sich rühren, wenn der „zähmende Talismann, das Kreuz, zerbricht“ und „Thor mit dem Riesenhammer die gotischen Dome (zerschlägt)“, dann wird in Deutschland „ein Stück aufgeführt werden, vor dem die französische Revolution wie eine Idylle erscheinen möchte.“ Die wir aus den Trümmern dieser von Heine prognostizierten Schreckensherrschaft auferstanden und zu einer der Aufklärung wie dem Christentum sich verdankenden Zivilisation des Rechts und der Demokratie zurückgekehrt sind, mit all ihren Fehlern, ihrer kulturellen Unübersichtlichkeit, ihren sozialen Kompromissen und kapitalistischen Verwerfungen, wir können Martus‘ Epochenbild des 18. Jahrhunderts noch einmal anders wertschätzen – als einen Gang zurück zu den Quellen jetzigen Glücks.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/99/hjb47.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2016