Berechtigte Kritik am Despotismus der Freiheit und zugleich Begründung deutscher Revolutionsangst

Eine Rezension

Hans–Jürgen Benedict

Hans-Jürgen Schings, Revolutionsetüden. Schiller. Goethe. Kleist, Würzburg 2012

Am 3. September 1792 kam es zu einem der schrecklichsten Verbrechen der französischen Revolution – zur Ermordung, öffentlichen Verstümmelung und Schändung der Prinzessin von Lamballe, einer engen Vertrauten der Königin Marie-Antoinette. Dies geschah während des Septembermassakers, dem, verübt von Mörderbanden, nach vorsichtigen Schätzungen 1100-1400 Menschen zum Opfer fielen. In der aufgeheizten Atmosphäre des Koalitionskrieges suchte man in Paris nach der Einnahme von Verdun nach Schuldigen und ermordete Parteigänger des Ancien regime auf grausame Weise.

Die Schändung der Prinzessin von Lamballe ist dabei das widerlichste Verbrechen und hat auch die mit der Revolution sympathisierenden Schriftsteller wie Schiller und Klopstock zur Distanzierung gebracht und jene, die ohnehin die Revolution als „schrecklichstes Ereignis“ ablehnten wie Goethe, in ihrer Kritik an der revolutionären Unordnung bestärkt. In Schillers Lied von der Glocke wird diese Entgleisung der Revolution zu einem Schreckensbild, das für das deutsche Bildungsbürgertum ihre gängige Perhorreszierung begründete.

„Freiheit und Gleichheit! hört man schallen
Der ruh‘ge Bürger greift zur Wehr
Die Straßen füllen sich, die Hallen
Und Würgerbanden ziehn umher.
Da werden Weiber zu Hyänen
und treiben mit Entsetzen Scherz,
noch zuckend mit des Panthers Zähnen
Zerreissen sie des Feindes Herz.“

Dabei war dies nicht erfunden oder übertrieben, wie der in Deutschland gelesene Augenzeugenbericht Konrad Oelsners in der Zeitschrift Minerva (1792 / Bd. 3) belegt: Es seien Frauen, „welche in allen stürmischen Auftritten der Revolution immer zuerst Entsetzlichkeiten ersannen und ausübten“ (zit. bei Schings, 123)

Der Germanist Hans-Jürgen Schings kann in seinen detaillierten Revolutionsetüden zeigen, dass es zunächst weniger Affekte und Meinungen waren, die diese Ablehnung begründeten als vielmehr konkrete Nachrichten über die Debatten und Ereignisse im revolutionären Paris.

In dem umfangreichsten Essay (130 Seiten mit 397 oft langen Anmerkungen) gelingt es Schings, durch eine genaue Philologie des Schreckens die kritische Auseinandersetzung Friedrich Schillers, des deutschen Freiheitsschriftstellers par excellence, mit der Radikalisierung der französischen Revolution verständlich zu machen. „Wenn es je einen Fall gegeben hat, wo man nicht neutral bleiben kann, ohne sich der strafbarsten Gleichgültigkeit gegen das, was dem Menschen das Heiligste seyn muß, schuldig zu machen“, so ist dies die Französische Revolution, schreibt Schiller noch 1793 (zit. Schings 15). Gleichwohl vollzieht er seit der Erstürmung der Tuilerien durch das Volk am 10. August 1792 eine Abwendung von ihr. Und das, obwohl er am 26. August 1792 vom französischen Konvent gerade mit 12 anderen zum Ehrenbürger Frankreichs ernannt worden, übrigens eine Urkunde, die er erst 1798 „aus dem Reich der Toten“ (Goethe) ausgehändigt erhielt, denn die Unterzeichnenden Danton und Claviere waren längst guillotiniert worden bzw. hatten Selbstmord verübt.

In dieser Zeit liest Schiller sehr genau den Moniteur, d.h. die Berichte über die Debatten in der französischen Nationalversammlung vom August 1792 bis Januar 1793. Schings zeichnet diese Radikalisierung in den Debattenbeiträgen nach. Wie in einem Drama werden die Argumente der der politischen Gegner vorgestellt, und es ist beeindruckend, lesend nachzuvollziehen, wie Girondisten und Montagnards sich auf hohem Niveau verbal-argumentativ bekämpften, bis hin zu jenem Höhepunkt am 13. November 1792, in der der Girondist Morisson noch einmal das Rechtsbewusstsein und Humanitätsgefühl des 18. Jahrhunderts beschwört und auf den Bedingungen eines rechtlichen Verfahrens für den König besteht: nulla poene sine lege. Nach Morisson ergreift St. Just das Wort, bricht alle Brücken zum bisherigen Denken ab und begründet, dass der König in jedem Fall getötet werden muss. Aufgekündigt wird, wie Schings sagt, die „Taminoformel“ aus der ein Jahr zuvor uraufgeführten Zauberflöte Mozarts: „Er ist Prinz! – Noch mehr - Er ist Mensch!“ St. Just ruft aus: „Man kann kein schuldloser Regent sein. Jeder König ist ein Rebell und Usurpator.“(zit. Schings 87ff) Am 3. Dezember legt Robespierre nach und propagiert die Volksjustiz, die das Opfer des Königs verlangt – „auf dem Platz vor den Tuilerien, auf dem am 10. August die edlen Märtyrer der Freiheit gestorben sind.“ „Festigt die Wiege (der neuen Republik) mit dem Blut eines meineidigen Königs“ (zit. Schings 97f). Mit einem Blutopfer, so scheint es, soll der Mythos der Republik begründet werden (Georg Büchner nimmt darauf in Dantons Tod Bezug, indem er Robespierre „den Blutmessias“ nennt, „der opfert und nicht geopfert wird“). Es vollzieht sich eine blutige Entsakralisierung des Königtums, die sich um die zuvor verkündeten Menschenrechte nicht mehr schert. Der Despotismus der Freiheit übernimmt das Regiment.

Als alles auf die Verurteilung und die Hinrichtung des Königs zusteuert, erwägt Schiller eine Verteidigungsschrift zugunsten Ludwig XVI. Nach der Hinrichtung am 21. Januar 1793 verurteilt er in scharfen Worten die Revolutionäre als Schinderknechte: „Ich kann seit 14 Tagen keine französische Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schinderknechte mich an.“ (zit. Schings 69)

Schings zeigt, dass Schiller theoretisch auf die Entwicklung in Frankreich vorbereitet war. Zum einen durch seine Schrift über den spartanischen Gesetzgeber Lykurg, der die Vaterlandsliebe als Staatszweck zum höchsten Wert erklärte, was Schiller verurteilte: der Staat selbst ist niemals Zweck, „der Zweck der Menschheit ist kein anderer als die Ausbildung aller Kräfte des Menschen, Fortschreitung.“ Noch in dem von Schings zitierten ersten Flugblatt der Weißen Rose vom Juni 1942, eine wichtige Erinnerung, schimmert diese Kritik Schillers am sich selbst absolut setzenden Staat durch. Zum andern durch den Don Carlos, in dem Schiller zum einen Kritik am instrumentellen Verhältnis zum Menschen übt, wie es Marquis Posa in seiner Freundschaft zu dem Infanten Carlos praktiziert, zum andern aber Posa, als „Abgeordneter der ganzen Menschheit“ bezeichnet er sich hochgemut, als Prediger der Menschenwürde gegenüber dem König agieren lässt , den er nicht aus der Brüderlichkeit der Humanität ausschließt und für veränderungsfähig hält, ein Kritiker der Entwürdigung des Menschen durch Kirche und Adel, der Malteserritter als Illuminat avant la lettre. In Aufnahme eines Gedanken des großen französischen Revolutionshistorikers Michelet formuliert Schings: „Die Menschenrechte müssen gegen den Widerstand einer theologisch eingeschwärzten Anthropologie zurückgewonnen werden. Die Revolution beseitigt falsche Erbschaften der Vergangenheit, den Adel ebenso wie sein Gegenstück, die Erbsünde.“ (Schings 45) Das heißt aber nicht, den König, den Klerus oder andere Uneinsichtige und Opponenten nun seinerseits aus der Menschheit auszuschließen. Eben das aber geschieht sukzessive in den Debatten der Nationalversammlung. Schings mutet dem Leser die zweisprachige Lektüre dieser Debatten in seitenlangen Zitaten zu, damit er besser versteht, wie zunächst von der Revolution begeisterte Deutsche wie Reinhard, Schiller, Klopstock und Campe zunehmend von der Radikalisierung und dem Terreur abgestoßen wurden. Schiller antwortet auf den „Despotismus der Freiheit“ Robespierres mit seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795). Gegen den Tugend-Terror der Revolution setzt er die Maxime, „Freiheit zu geben durch Freiheit.“ In einer schönen Darstellung der „schönen Geselligkeit“, die diese, sich gegenseitig erläuternd, mit Edmund Burkes Betrachtungen über die Französische Revolution liest, skizziert Schings, was „ästhetische Humanität“ leisten könnte als „Asyl nach den Verirrungen des großen politischen Anlaufs.“ (Schings 144) Man weiß aber auch, auf wie dünnem Boden ein „ästhetischer Staat“ steht, in dem „alles – auch das dienende Werkzeug ein freier Bürger (ist), der mit dem edelsten gleiche Rechte hat.“ (zit Schings 142)

Schings zweite Absicht ist es zu zeigen, wie die Septembermassaker, besonders die Tötung und Schändung der Prinzessin von Lamballe, als untergründiger Text in den literarischen Produktionen Schillers, Goethes und Kleists ihre Spur hinterlassen haben. Bei Schiller in der Glocke, bei Kleist in der Hermannsschlacht in der Zerstückelung der vergewaltigten Germanin, deren Leiche in 15 Teilen den deutschen Stämmen zur Erzeugung hemmungslosen Hasses auf die Eroberer zugeschickt wird. Hierzu gibt es nicht nur die biblische Vorlage im Richterbuch, sondern neben der Zerstückelung der Lamballe auch noch den Vorschlag des Fleischers Legendre zwei Tage vor der Hinrichtung des Königs, man solle den König in Stücke hauen, diese einpökeln und in die Provinzen Frankreichs schicken, um sie dort vor den Freiheitsbäumen zu verbrennen.

Höchst aufschlussreich ist die kleine Studie über Goethes Drama Die natürliche Tochter. Hier wird dem Herzog in einer Intrige von einem Weltgeistlichen der angeblich tödliche Unfall seiner Tochter mit allen grausamen Details der Zerstörung des Körpers geschildert. „Nicht eher ruht die Rhetorik des Weltgeistlichen, bis sie den Körper Eugenies, ihr schönes Bild, für die Imagination vernichtet hat.“ Schings zeigt nun, dass die fiktive körperliche Verstümmelung der Eugenie „hergeschleift, entstellt und blutig, zerrissen und zerschmettert und zerbrochen, unkenntlich“ (zit. Schings 154) eines der blutigsten Zeugnisse der französischen Revolution in Erinnerung ruft, eben die bereits erwähnte Ermordung, öffentliche Verstümmelung und Schändung der Prinzessin von Lamballe. Das Grauen dieses Gemetzels gerann zu einem weithin sichtbaren Schreckensbild, das Goethe 30 Jahre nach dem Ereignis der fingierten Verstümmelung der Eugenie zugrunde legt. Auch in Kleists Penthesilea findet es in der Tötung und Verstümmelung des Achill durch die Hunde Penthesileas einen Widerhall, sie nennt es selbst „den Toten töten.“ Goethe erinnert sich in der Campagne in Frankreich an „die gräßlichen ersten Septembertage“, unsinnig, toll, überschwänglich furchtbar - „die Welt erschien mir blutiger und blutdürstiger als jemals.“ (zit. Schings 171) Dass auch die Koalitionsarmee und besonders ihr preußischer Teil nicht zimperlich war, hat, worauf ich hinweise, seinen bewegenden literarischen Niederschlag in Johann Peter Hebels Der Husar in Neiße gefunden, mit den unvergänglichen Merksätzen: „Merke: Man muss in der Fremde nichts tun, worüber man sich daheim nicht darf finden lassen. Merke: Es gibt Untaten, über die kein Gras wächst.“ Bei Hebel ist es der französische Sergeant, dessen Schwester von dem Husaren ermordet wurde, der keine Rache übt, als die Armee Napoleons Preußen besetzt.

Es gibt auch Gegenbilder zu den Untaten revolutionärer Akteure, die ihresgleichen auf schändliche Weise zurichteten. Und es ist schön, dass Schings in seiner Kleist-Studie Hermanns Haß. Die Spur der Revolution bei Heinrich von Kleist (Schings 181ff.) auf das Mestizenmädchen Toni in Die Verlobung in St. Domingo hinweist, das aus einem „innersten Gefühl“ heraus sich weigert, sich zum Handlanger der Rachegelüste ihrer Mutter und ihres Stiefvaters zu machen und das Mitleid höher stellt als die Blutsverwandtschaft: „Die Unmenschlichkeiten, an denen ihr mich Teil zu nehmen zwingt, empörten längst mein innerstes Gefühl.“ (zit. Schings 212) So ist Gustavs und Tonis Verlobung „der Sieg, den sie über die Welt der gnadenlosen Erbitterung erringen“ (Schings, 213). Schings hat seine faszinierenden und erhellenden Revolutionsetüden mit einem Beispiel abgeschlossen, das über das Grauen des Terrors hinausweist.


Eine etwas längere Nachbemerkung: So sehr es stimmt, dass ein König, schuldig oder nicht, nicht von vornherein aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen werden darf, wie St. Just und Robespierre es taten, so ist aber auch daran zu erinnern, dass Tyrannenmord in bestimmten Situationen ein ethisch gebotenes Verhalten sein kann, um ein schlimmeres Übel abzuwenden. Die reformiert-protestantischen Tyrannomachen in Frankreich und Schottland erlaubten m.W. den Königsmord für den Fall, dass er den Vertrag mit dem Volk eklatant verletzte. Eine solche Tradition gab es in Deutschland mit seinem lutherischen Obrigkeitsgehorsam nicht, was die langwährenden Skrupel der adligen und großbürgerlichen Attentäter vom 20. Juli 1944 erklärt, obwohl ein erfolgreiches Attentat auf Hitler womöglich Millionen Tote in der letzten Phase des Kriegs verhindert hätte, zu schweigen von dem leider missglückten Attentat des Handwerkers Georg Elser vor Beginn des 2. Weltkriegs. Ich erinnere an Max Webers bekanntes Diktum im vertrauten Kreise, „das nationale Unglück Deutschlands sei, dass man noch nie einen Hohenzollern geköpft hat.“ (zit. bei Georg Lukacs, Von Nietzsche zu Hitler, Frankfurt am Main, 1966, 16)

Insofern hätte es nicht geschadet, wenn Schings seinen drei faszinierenden Revolutionsetüden noch eine vierte angeschlossen hätte, die die Revolutionsfurcht, um nicht zu sagen Dämonisierung der Revolution zum Gegenstand gehabt hätte, die sich in der deutschen Geschichte so negativ ausgewirkt hat. Anders gesagt: den Teufel des Kommunismus fürchtend, der in der Oktoberrevolution die französische fortsetzte, nahm man lieber den Beelzebub der nationalen Revolution der Nazis im Januar 1933 in Kauf, der mit seinem Rassenwahn und Vernichtungskriegskonzept die Welt in ihre bisher größte Katastrophe stürzte und sich so als der schlimmere Teufel erwies. So verständlich der Abscheu deutscher Schriftsteller am Ende des 18. Jahrhunderts vor den Gräueln der französischen Revolution war, er war auch eine belastende Erbschaft für die politische Freiheitsbestrebungen im 19. und 20. Jahrhundert. Georg Büchner hat über die instinktive Abwehr und den Abscheu hinaus 1834 in Dantons Tod den „gräßlichen Fatalismus der Geschichte“ darzustellen versucht, „in der Menschennatur die entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt“ (so in dem Brief an seine Braut). Oder in den Worten Dantons: „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen.“[1] Für Büchner wird die Revolution, die im Terror St. Justs und Robespierres ihre eigenen Kinder frisst, zum Symbol einer metaphysischen Krise des Menschen, der an keine sinnvolle Weltordnung mehr glauben kann. Glücklicherweise haben die Revolutionäre von 1848 nicht diese Haltung gehabt, sondern sind tatkräftig an die Veränderung des deutschen Teils dieser entsetzlichen Verhältnisse gegangen, zunächst scheiternd zwar, aber doch mit einer produktiven Erbschaft, die dann 70 Jahre später in der Weimarer Republik eine Umsetzung fand. Leider allzu kurz und am Ende scheiternd, weil ihre Verteidiger sich uneinig waren.

Heinrich Heine muss im gleichen Jahr 1834 eine Ahnung über eine mögliche Verunglückung deutscher Geschichte gehabt haben, als er (durchaus den Terror von 1792-1794 vor Augen habend, erwähnt er doch einleitend Sanson, den Pariser Scharfrichter, der 1794 König Ludwig XVI. guillotinierte[2]) den Franzosen zu erklären versucht, warum die Deutschen in der Theorie so radikal und in der Praxis so rückständig seien. Er warnt die Franzosen zum Schluss vor der deutschen Naturphilosophie, die, wenn sie als Revolution praktisch würde, alle bisherigen Schrecken der französischen Revolution weit übertreffen würde. Durch ihren Rückgriff auf die „ursprünglichen Gewalten der Natur“ würde sie die „dämonischen Kräfte des altgermanischen Pantheismus beschwören.“

„Das Christentum, und das ist sein schönstes Verdienst, hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen und Thor mit dem Riesenhammer sprengt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome. Wenn ihr dann das Gepolter und Geklirre hört, hütet euch, ihr Nachbarskinder, ihr Franzosen und mischt euch nicht in Geschäfte, die wir in Deutschland vollbringen. Es könnte euch schlecht bekommen.“[3]  

Dieser deutsch-revolutionäre Gewaltschrecken, den Heine antizipiert, erinnert an die Grausamkeit, mit der Hermann der Cherusker in Kleists Hermannsschlacht den Kampf gegen die römischen Besatzer führt, die Schings als Kopie der französischen Gräuel diagnostiziert. Auch dort werden alle Fesseln des Naturgesetzes, die sich bei Cicero in De officiis (Schonung der Besiegten) und, wie Schings erhellend zeigt, bei Paulus im Römerbrief 2, 14f, finden, abgestreift: Kein Mitleid mit den Besiegten. Die kalte rachsüchtige Tötungsmaschinerie, die Hitler gegen die Mitglieder der Roten Kapelle (Peter Weiss setzte ihnen in seiner Ästhetik des Widerstands ein ergreifendes literarisches Denkmal) und gegen Verschwörer vom 20. Juli in Bewegung setzte, ist ganz von dieser Vernichtungslogik durchdrungen. Es ist das, was Walter Benjamin in seinen Geschichtsphilosophischen Thesen 1940 prognostizierte: selbst „die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.“[4]

Nachdem die Bürger der DDR 1989 in einer gewaltlosen Revolution ein autoritäres Regime und seine gewaltsam befestigte Grenze überwanden, kann nicht länger mehr mit Marx böse gesagt werden, dass die Deutschen bei einer Revolution immer nur „am Tage ihrer Beerdigung dabei“ seien. Schillers Programm eines ästhetischen Staats, „Freiheit zu geben durch Freiheit“ , hat sich durch die unblutig verlaufende Wende im Oktober 1989, eingeleitet durch die von der Nikolaikirche ausgehenden Leipziger Montagsdemonstrationen in gewisser Weise erfüllt, wenn auch ein wenig anders als von Schiller gedacht. In den Worten eines Stasi-Offiziers: „Auf alles waren wir vorbereitet, nur nicht auf Gebete und Kerzen.“ Dass die ästhetische Erziehung dann die massenmediale der losgelassenen Unterhaltungs-und Konsumindustrie wurde, steht auf einem anderen Blatt.

Anmerkungen

[1] Zu dieser Travestie des Kreuzesgeschehens“ s. H.-J. Benedict, Was Gott den Dichtern verdankt, Berlin 2011, 56ff.

[2] Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland , in: Heine, Sämtliche Werke Bd IX, hg. von Kaufmann, München 1964,S. 185

[3] Heine, Sämtliche Werke IX, 283f. Der konservative Diakoniebegründer und Christentumspolitiker Johann Hinrich Wichern hat diese Stelle 1848 in seiner Schrift Der Kommunismus und die Hülfe gegen ihn entstellend zitiert, um die angeblich antichristliche Stoßrichtung der 48er-Revolution zu denunzieren, während Heine ja gerade die Schwächung des die Berserkerwut zähmenden Christentums beklagte, s. dazu H.-J. Benedict, Entstellung und Berührung. Zwei entstellte Heinezitate und zwei unvorhergesehene Berührungen zwischen Wichern und Heine, in: PTh 100, 2011, 243ff.

[4] Walter Benjamin, Illuminationen, Frankfurt am Main 1961, 270f.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/83/hjb18.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2013