Ein Muslim betrachtet katholisch-fromme Bilder

Hans-Jürgen Benedict

Navid Kermani Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, C.H.Beck, München 2015

Im Mai 1934 notierte der katholische Schriftsteller Julien Green nach dem Besuch einer Ausstellung im Louvre „Das Kreuz in der französischen Kunst“ in seinem Tagebuch: „Liegt nicht etwas wirklich Befremdliches darin, von der Wiege bis zur Bahre in Kirchen, Häusern und mitunter Straßen Bilder der Qual zu sehen? Ein Mann an zwei Hölzer genagelt: das führt uns das Christentum unablässig vor Augen. Das Christentum ist in einer Marterorgie geboren (…) Wenn einer nicht wüßte, was das Christentum ist und man brächte ihn in den Louvre, er wäre wahrscheinlich beim Verlassen ganz krank vor Ekel.“

Ähnlich dachte Ernst S., der auf Entfernung der Kruzifixe mit Corpus, später des Kreuzes allgemein klagte, weil er seine Kinder nicht unter so einem Leidensbild erzogen haben wollte. In Bayern abgelehnt mit der Begründung, das Kreuz sei Ausdruck bayrischer Schulkultur, gab das Bundesverfassungsgericht (BVfG) in seinem Urteil 1995 hingegen dem Kläger Recht - das Kreuz sei „Symbol der missionarischen Ausbreitung des Christentums“.

Daran musste ich denken, als ich jetzt in Navid Kermanis Buch Ungläubiges Staunen (schon sein zweites in diesem Jahr, man kommt kaum mit der Lektüre nach) jene Bildmeditation las, die vor 6 Jahren zu einem Skandal geführt hatte. Als Stipendiat der Villa Massimo in Rom hatte Kermani neben anderen Bildern ein Kreuzigungsbild von Guido Reni in der Kirche San Lorenzo in Lucina in der Neuen Zürcher Zeitung kommentiert und dabei seine Schwierigkeiten mit der Verklärung des Schmerzes in Kreuzigungsdarstellungen formuliert. Daraufhin wollte man ihm den Hessischen Kulturpreis aberkennen, für den er mit einem katholischen und einem evangelischen Theologen ausgewählt worden war. Dabei hatte Kermani, der die Schmerzverklärung auch im schiittischen Islam mit seinen Aschura-Riten nicht akzeptabel findet, eine interessante Deutung des Reni-Gemäldes angeboten. Der am Kreuz in den Himmel blickende Christus Renis „frage nicht, warum hast du mich, sondern warum hast du uns verlassen.“ Jesus leidet nicht, damit Gott selbst zum Mitleidenden, zum Opfer wird, nein er klage an. Das zeige Renis Bild, indem es das Leiden aus dem Körperlichen ins Metaphysische überführte und Christus jeder Tote, an jedem Ort sei.

Diese neuartige Interpretation zeigt die Produktivität des fremden Blicks auf die christliche Tradition. Sie kritisiert die schwer nachvollziehbare, um Sünde, Strafe und stellvertretendes Leiden zentrierte christliche Erlösungslehre, um die Gemeinschaft der Leidenden zu erweitern. Kermani hat nach den römischen Bild-Meditationen sich weiter mit der christlichen Bildwelt beschäftigt und ein umfangreiches, mit vielen Bildern versehenes Buch vorgelegt - mit dem schönen Titel Ungläubiges Staunen. Wobei darin schon eine gewisse Koketterie zu erkennen ist – denn so viel naive Gläubigkeit wie Kermani den katholischen Bildern entgegenbringt, findet man bei den katholischen Christen immer seltener. Der Kölner Erzbischof müsste ihn nach diesem Buch fast zum Ehrenkatholiken ernennen.

Kermani versenkt sich buchstäblich in die christlich-katholische Bildwelt – er tut es weder als Kunstwissenschaftlicher noch als historisch-kritischer Intellektueller. Nein, er tut es offenen Herzens, manchmal mit gespielter(?) Naivität, wenn er die johanneischen Geschichten (Hochzeit zu Kana, Auferweckung des Lazarus) und ihre bildliche Umsetzung ganz wörtlich nimmt, manchmal als kluger kenntnisreicher Literaturwissenschaftler, wenn er (schwer verständlich) Hölderlin heranzieht, manchmal mit lebensgeschichtlich alltagsweltlichen Auslegungen. Und dies immer mit dem Alleinstellungsmerkmal – ein muslimischer Autor setzt sich mit dem Christentum und seiner Bildwelt auseinander. Kermani als aus dem iranisch-schiittischen Bereich stammend steht ja der Mystik, dem Sufismus besonders nahe; er ist einer, der die Gottesliebe und die Erfahrung erotischer Liebe zu verbinden weiß. Einer, der die Schönheiten seiner eigenen Tradition lange genug umgewälzt hat (die Dissertation Gott ist schön wie der Roman Dein Name haben jeweils über 1000 Seiten), um sich jetzt der Vorläuferreligion des Islam, dem Christentum zuzuwenden, in dem er sich seine Bilder und Gestalten betrachtet. Und zwar vorreformatorisch fast ausschließlich die der katholischen Bilderreligion. Er hat einen katholischen Freund (Martin Mosebach?), der mit Erklärungen und Initiationen aushilft. Kermani weitet so den Blick – er stellt existentielle Fragen, formuliert Ängste (einen Traum über den Tod der Mutter bei Betrachtung einer Pieta). Er entdeckt die Erotik in manchen Bildern, etwa bei Jesu Abschied von seiner Mutter (bei El Greco), sieht Jesu Weiblichkeit bei dem das Kreuz tragenden Christus Botticellis. Er macht sich (soll man sagen natürlich?) zum Verfechter des Arianismus anhand des Ravenna-Mosaiks vom Guten Hirten und fragt spöttisch, hätte es den Islam gegeben, wenn der Arianismus gesiegt hätte (das hatte übrigens auch schon Adolf von Harnack getan, als er den Islam als Rache für die Ausgrenzung der Judenchristen und der Monophysiten deutete).

Es ist in jeder Hinsicht eine durchaus subjektive Betrachtungsweise der christlichen Bildkunst. Kermani verschont uns mit kunstgeschichtlichen Details, die die Museumspädagogen den von ihnen geführten Gruppen so gerne andienen, damit aber Distanz aufbauen. Kermani ist ein existentialistisch-religiöser Deuter der großen religiösen Kunstwerke des Westens, wobei er den von Belting diagnostizierten Bruch im Übergang „vom Kult zum Bild“ vernachlässigt. Leider fehlt ihm auch ironische Haltung eines Heinrich Heine, der einmal bemerkte, auf manchen Bildern blicke die Madonna so schalkhaft, als wolle sie uns noch ein zweites Christkindlein schenken. Nein, Kermani ist ganz ernsthaft bei den Bildern, ihren Schöpfern und den dargestellten Geschichten. Da bekommt ein protestantischer Leser wie ich, der im lutherischen Hamburg aufgewachsen ist (zumindest einen Cranach hätte er im Cranachjahr in seine Auswahl aufnehmen können, dachte ich), nach einer gewissen Zeit fast ein antikatholisches Ressentiment. Dahinter steckt bei mir aber auch ein Widerstand gegen Kermanis Anspruch, die Totalität des Lebens für Gott zu beanspruchen, wohl eine Eigenart des Islams, die ja schon in seinem Namen anklingt. Kermanis Assoziationen zu den Bildern sind voll von Phantasie, Einfühlung und Entdeckungen (der Kuss zwischen Anna und Joseph in der Scrovegni-Kapelle etwa), aber auch von einer mystischen Rechthaberei bestimmt und von Querverbindungen, deren Verständnis schon eine hohe religiöse Erkundungsbereitschaft voraussetzt. Gerne teilt man aber Kermanis Erfahrung in der Santissima trinita di Monti (oberhalb der Spanischen Treppe in Rom), wo er angesichts der weiß gewandeten und singend sich bewegenden Zelebranten der „Gemeinschaft von Jerusalem“ auf einmal den Eindruck hatte, in einer Moschee zu sein (so wie ich manchmal in den Moscheen Isfahans das Gefühl habe, in einer christlichen Kirche zu sein). Das sind hübsche Transgressionen, die die alte These belegen, dass, weil wir in einer Welt leben, es nur ein Göttliches gibt.

Nach den Glaubensinhalten wendet Kermani sich den gemalten Glaubenszeugen zu – von Hiob, Judith, Elisabeth über Petrus, Bernhard und Franziskus bis Paolo dall’Oglio, dem Begründer des Klosters Mar Musa in Syrien. Von Paolo druckt er „nur“ ein Video-Foto ab und erzählt seine Geschichte, wie schon in dem Buch „Ausnahmezustand“ und jetzt auch wieder in der Friedenspreisrede auf der Frankfurter Buchmesse 2015. Paolo, der katholische Christ und Priester, der in der syrischen Wüste ein verlassenes Kloster wiederaufbaute, den Ramadan feierte, die Amtskirchen wegen ihrer Kollaboration mit Assad kritisierte und die Rebellion in Raqqa verteidigte, ein zeitgenössischer Heiliger, der in christlicher Liebe auch Fremde und Feinde liebte. Paolo, der bei seinem Vermittlungsversuch 2013 von dem IS entführt und jetzt (wie Kermani in Frankfurt mitteilte) offensichtlich befreit wurde. In einem in Rom geführten Gespräch mit der aus dem Libanon stammenden Schwester Carol aus Paolos Orden zeichnet er ein Bild dieser außerordentlichen Christen, die „in der Liebe zum Islam, im Glauben an Jesus“ leben. An diesem ausführlichsten Kapitel seines Buchs merkt man, was Kermani am Christentum vor allem bewundert – jene Christen, die die Nächstenliebe in den Konflikten ihrer Zeit wirklich praktizieren: Menschen wie Pater Paolo, die die radikale Eingemeindung des christlichen Glaubens in ein muslimisches Umfeld fordern – trotz aller islamischen Ablehnung der zentralen christlichen Glaubensinhalte. „Ich bin Muslim aufgrund der Liebe Gottes zu den Muslimen“ sagt Paolo. Dies ist ein neuer, die religiösen Grenzziehungen aufsprengender Synkretismus. Kermani beschließt sein Buch über die Begegnungen mit dem Christentum in Bildern, Texten und Menschen mit einem hochaktuellen Kapitel Freundschaft. Darin skizziert er (anhand der Chartula) einen Franz von Assisi, der in hasserfüllten Kreuzzugszeiten ganz alleine aus diesem Konsens ausschert und zum Frieden mit dem Sultan al-Malik al-Kamil aufruft, dem er zuvor auf seiner Orientreise schon gewaltlos gegenüber getreten war. Ein Sultan, der dem Sufismus nahestand. Und so beschwört Kermani noch mal die Gemeinschaft der Mystiker der großen monotheistischen Religionen, die sich trotz aller Gegensätze in den Glaubenslehren doch verstehen, weil in ihnen Gott bzw. die Liebe Gottes sich inkarniert hat. Alle, die daran glauben und danach handeln, sind Söhne und Töchter Gottes, nicht nur der eingeborene Sohn. Diese Botschaft wäre weiter zu verbreiten. Ob nun gerade die die katholische Frömmigkeit spiegelnden Bilder der großen Maler der Renaissance, des Manierismus und des Barock dafür das geeignete Mittel sind, das scheint mir trotz der ebenso naiven wie tief schürfenden Bildbetrachtungen Kermanis doch zweifelhaft.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/98/hjb45.htm
© Andreas Mertin, 2015