Ästhetisierung von Religion?


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Zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik

Was lässt sich aus Peter Weiss 'Die Ästhetik des Widerstands' heute lernen?[1]

Hans Jürgen Benedict

Ist es möglich, den Kunstwerken, die immer auch Dokumente der Barbarei sind, den Funken Hoffnung anzufachen auf Überwindung eines von Gewalt gekennzeichneten Kulturzustandes? So fragen in Peter Weiss Roman Die Ästhetik des Widerstands im Jahr 1937 junge Kommunisten vor dem Pergamon-Fries im gleichnamigen Berliner Museum - der Erzähler, kurz vor der Abreise nach Spanien, wo er sich den Internationalen Brigaden anschließen will, die kommunistischen Freunde Coppi und Heilmann, die den Kampf gegen den Nationalsozialismus im Untergrund fortführen wollen.

Im November 2001 stand ich mit 50 Erstsemester-Studenten, vor dem Figurenfries des Pergamonaltars. Zur Vorbereitung hatte ich die ersten 10 Seiten von Peter Weiss’ berühmter Ästhetik des Widerstands fotokopiert, dazu eine bebilderte Erklärung des Frieses. Kann die soziokulturelle Arbeit von Sozialpädagogen unter freiheitlichen Bedingungen beitragen zur Erreichung dieses Zieles, welcher künstlerischen Mittel müsste sie sich dazu bedienen? Was ist von Peter Weiss Ästhetik des Widerstands heute zu lernen?[2]

1.

Peter Weiss versucht auf den ersten 70 Seiten seines Romans die Darstellung des Siegs der Götter über die Giganten, die Söhne der klagenden Erdgöttin Ge, als frühen Ausdruck von Klassenkämpfen zu entschlüsseln. Geschichtlicher Hintergrund des Frieses mit der Gigantomachie (165 v.Chr. begonnen, zu den Weltwundern gezählt, ehe er im Schutt eines Jahrtausends versank) ist die Unterwerfung der von Norden her eindringenden gallischen Völker durch das Diadochenreich des Eumenes in Kleinasien. Aus dieser Unterwerfung war ein Triumph adliger Reinheit über wüste und niedrige Kräfte geworden. In mythischer Verkleidung wurde Überpersönliches den Versklavten gezeigt. Aber auch der einheimischen Bevölkerung: „kaum wagte das Volk, als es vorbeizog“, schreibt Weiss, „aufzublicken zum Abbild seiner eigenen Geschichte.“ „Das Dasein der Himmlischen war für sie unerreichbar, in den knienden vertierten Wesen aber konnten sie sich erkennen. Diese trugen, in Grobschlächtigkeit, Erniedrigung und Geschundenheit ihre Züge.“

Während die Wissenden und Privilegierten die Harmonie der Stein gewordenen Bewegungen priesen, spürten die einfachen Menschen in den Kämpfen den Schlag der Pranke im eigenen Fleisch. Dass es nicht um den Kampf des Guten gegen die Bösen sondern um den Kampf zwischen den Klassen geht, so hofft der Erzähler, wurde nicht nur in unserer heutigen Betrachtung, sondern auch schon von manchem geheimen Blick damaliger Leibeigener erkannt: „So sahen wir im gedämpften Licht die Geschlagenen und Verendenden. Der Mund eines der Niedergezwungenen, dem der reißende Hund über der Schulter hing, war halboffen, ausatmend. Seine linke Hand lag matt auf dem vorstürmenden lederbekleideten Fuß der Artemis, sein rechter Arm war noch in Notwehr erhoben, in den Hüften aber wurde er schon kalt und seine Beine waren zu schwammiger Masse geworden. Wir hörten die Hiebe der Knüppel, die schrillenden Pfeifen, das Stöhnen, das Plätschern des Bluts. Wir blickten in eine Vorzeit zurück, und einen Augenblick lang füllte sich die Perspektive des Kommenden mit einem Massaker, das sich vom Gedanken an Befreiung nicht durchdringen ließ.“(I,13f)

Mit Walter Benjamins Geschichtsphilosophischen Thesen geht es Weiss darum, Kunst und Literatur gegen den Strich zu behandeln (I, 41), alle Vorrechte der Eliten, die damit verbunden sind, auszuschalten und die eigenen Ansprüche in sie hineinzulegen, wissend dass jeder Äußerung der Kunst Gewalt zugrunde liegt. Und so wird in der verriegelten Küche von Coppis Mutter, Rosenthaler Straße, Ecke Lindenstr, am Hackeschen Markt, die Geschichte des Erdteils nachgespielt, den Alexander der Große zurückgelassen hat, die lange kriegerische Geschichte, die zu der kurzen Blüte von Pergamon führte. Im Pakt mit dem mächtigen Rom konnte Eumenes II um 180 v. Chr. Pergamon in der Welt berühmt machen. Die Elite Pergamons hatte das Bewusstsein, einer anderen Zeit anzugehören. Materialistische Welterklärung und Lebensart herrschten vor (Anaximander und Thales von Milet). Götterordnung war nur noch Überbau, zur Einschüchterung der Unteren beibehalten. Eumenes wollte seine Macht mit der Aura von Kunstwerken umgeben und so schufen die Bildhauer ein Werk, das sich über alle zeitgemäßen Gegebenheiten hinweg setzte. Auch wenn die Bildhauer und Steinmetzen die Herrschaftsideologie abbilden mussten, dank ihrer handwerklichen Kunst und der Wahrnehmung für das Aufbegehren um sie herum, um den Aufstand des Aristonikos, der mit den landlosen Bauern, den unzufriedenen Soldaten, den Sklaven einen gerechten Staat gründen wollte, brachten sie doch die Leiden der Unterdrückten in einem schonungslosen Realismus zum Ausdruck. Die Gesichtszüge der Göttlichen waren starr und kalt, unwirklich in ihren Erscheinungen, die Unterliegenden aber blieben trotz aller Verunstaltungen, menschlich, gezeichnet von Ängsten und Leiden (I, 49).

Schließlich fragt Coppis Mutter, in der Schüssel stehend, in der sie ihren geschwollenen Füßen Linderung verschaffen wollte, „ob nicht die Last der Peinigungen, mit der das Zustandekommen der Kunstwerke bezahlt worden war, diesen für alle Zeiten etwas Abstoßendes geben müsse.“(I, 50) So könne sie die Kalkbrenner verstehen, für die die Statuen und Gesimse nur ein Marmorbruch waren aus dem sie Kalk gewinnen konnten, Rohmaterial für verkäuflichen Mörtel. Bevor der deutsche Archäologe Humann 1878 mit den Grabungen begann, die Reste des Frieses dem Schutt entriss und für einen Spottpreis in 1000 Kisten nach Berlin verfrachtete, wo monarchischer Kunstsinn und neue Museen ausstellenswerte Schätze brauchten. Und dann geht die Schilderung der Gigantomachie, die Brutalität der Kriegführung der Göttlichen in die der aktuellen Situation über, in die der Gewaltherrschaft der Nazis. „Mit Steinen nur könne sich die Riesen wehren gegen die Gepanzerten und Schwerbewaffneten, sie knien, kriechen, zerbrechen und fallen ins aufgerissene Straßenpflaster, preisgegeben den Wasserkanonen, Gasgranaten und Maschinengewehren. (Coppis) Mutter sah den Kampf in unserer okkupierten Stadt, unserm besetzten Land, und es half nichts, dass Ge um Erbarmen flehte für ihren Sohn Alkyneos. Sie starrte, nachdem sie die Schüssel geleert hatte, der schemenhaften Bildwand entgegen, überall nur das Triumphieren der Peiniger erkennend über das Gewühl der Entmachteten. Und nach längeren Schweigen sagte Heilmann, dass Werke wie jene, die aus Pergamon stammen, immer wieder neu ausgelegt werden müssten, bis eine Umkehrung gewonnen wäre und die Erdgeborenen aus Finsternis und Sklaverei erwachten und sich in ihrem wahren Aussehen zeigten.“( I, 53)

Der Ort der Hoffnung, die Umkehrung wird dann genau markiert; der Oktober 1917, heißt es, „dann aber war der Beweis dafür, dass sich in all den Anläufen eine Kraft aufgespeichert hatte, die mehr Gewicht besaß, als alles, was uns früher gebunden hatte. In dem spiralförmigen Entwicklungsbild sahen wir uns zuweilen in der Nähe der Geschlagenen aus früheren Jahrhunderten, ihre Raserei und Lethargie wurde von uns nachvollzogen. Und waren wir den Sklaven und Leibeigenen auch noch nah, so befanden wir uns jetzt doch in einem Zeitalter, in dem unsere Zielsetzungen“ trotz des zwischenzeitlichen Siegs des Faschismus, „sich zu verwirklichen begannen.“(I, 74) Der leere Platz des Herakles im Fries, um den vor allem Heilmann erzählerisch eine Rettungsphantasie skizziert, ist endlich besetzt: es ist die siegreiche Arbeiterklasse im Sozialismus. Weiss hält an der Hoffnung auf eine sozialistische Umgestaltung der Welt fest, trotz der Irrtümer des Kommunismus.

In dem Streit um eine marxistisch fundierte Ästhetik, wie sie in den 20er und 30er Jahren zwischen den Vertretern der realistischen Gestaltungsweise und der Verfechtern eines innovativ-offenen Kunstbegriffs geführt wurde, nimmt er Partei für die letzteren. Der Erzähler lässt Heilmann für den künstlerischen Avantgardismus votieren; auch in der Kunst gibt es die Spiralbewegung, in deren Verlauf Modernes immer in der Nähe des Früheren sich befindet, das primitiv genannte, die Felsenmalerei in Lascaux und die Steinmonumente der Osterinseln ist heutiger Kunst vorbildlich, kretische Fresken sind der Naturauffassung der Impressionisten ähnlich, ägyptische Reliefs bereiten den Kubismus vor, der Surrealismus aktualisiert babylonische und aztekische Figuren. Vor allem ist Kunst nicht nur vom Klassencharakter bestimmt sondern eine Kraft der Erneuerung an gesellschaftlichen Schwellen. Deshalb: Was zur Literatur, zu den bildenden Künsten gehörte, durfte keine Zurechtlegung von oben erfahren. „So verlief unser Bildungsgang nicht nur konträr zu den Hindernissen der Klassengesellschaft, sondern auch im Widerstreit zu einer sozialistischen Kultursicht, nach der die Meister der Vergangenheit sanktioniert und die Pioniere des 20.Jahrhunderts exkommuniziert wurden. Wir bestanden darauf, dass Joyce und Kafka, Schönberg und Strawinski, Klee und Picasso der gleichen Reihe angehörten“ (I, 79), in der sich die empfohlenen Klassiker Balzac, Stendhal, Goethe, Rembrandt, Shakespeare und Dante befanden. Eine heute wahrscheinlich abständige kritisch-marxistische Geschichts- und Kunstbetrachtung.

Was 1937 schreckliche Realität war, der siegreiche Faschismus, in dessen Hinrichtungskammern auch Coppi und Heilmann als Mitglieder der Roten Kapelle enden, jene trostlose Erfahrung, wie sie angesichts der Unterliegenden im Pergamonfries aufleuchtet - „einen Augenblick lang füllte sich die Perspektive des Kommenden mit einem Massaker, das sich vom Gedanken an Befreiung nicht durchdringen ließ“, ist auch mit der Befreiung im Mai 1945 nicht gänzlich überwunden. In einer rückwärts gewandten Prophetie blickt der Erzähler zum Schluss des 1000seitigen Romans angesichts des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und des beginnenden Kalten Kriegs in die Zukunft: „Und wenn ich dann Kunde von Heilmann und Coppi erhielte, würde meine Hand auf dem Papier lahm werden. Ich würde mich vor den Fries begeben, auf dem die Söhne und Töchter der Erde sich gegen die Gewalten erhoben, die ihnen immer wieder nehmen wollten was sie sich erkämpft hatten... und Heilmann würde Rimbaud zitieren, und Coppi das Manifest sprechen, und ein Platz im Gemenge würde frei sein,“ und dann noch einmal zurückgreifend auf das Motiv der Löwentatze am Pergamonaltar, „die Löwenpranke würde dort hängen, greifbar für jeden, und solange sie unten nicht abließen voneinander, würden sie die Pranke des Löwenfells nicht sehen, und es würde kein Kenntlicher kommen, den leeren Platz zu füllen, sie müssten selber mächtig werden dieses einzigen Griffs, dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten.“ (III, 267f)

Weiss’ Ästhetik des Widerstands, dieses gewaltige Epitaph auf die Geschichte der Arbeiterbewegung in der Zeit des Faschismus, zeigt mit dem Rückgriff auf die befreiende Gewalt-Geste die Verlegenheit einer politischen Lösung an. Ästhetisch aber rettet er durch Entschlüsselung die in den Kunstwerken verborgene Hoffnung, ihr Innerstes, jene im Traum beheimatete visionäre Kraft der Kunst. Eine politische Praxis, die diesen Bezug zu den innersten Wahrheiten des Menschen verloren hat, die nicht träumt aus dem Innersten heraus, muss erstarren und schließlich ihre Menschlichkeit verlieren.

In Heilmanns Brief an Unbekannt aus dem Gestapo-Gefängnis versucht er jene sich verwischende Grenze zwischen Wachen und Traum zu beschreiben, in der die künstlerische Phantasie ihren Platz hat, welche sich über die eigenen Beschränktheit wie über die der Realität hinwegsetzt. In ihr meldet sich eine unzerstörbare innerste Wahrheit. Aus Träumen speisen sich künstlerische Visionen, seltsamerweise tut er das kraft „der Abwesenheit der moralischen und ethischen Eigenschaften, die unser waches Dasein bestimmen.“(III, 208). „Im Traum sind wir also unsres teilnehmenden verantwortlichen Ichs entäußert, im Wachen wiederum haben wir den Zugang verloren zu unseren innersten Wahrheiten.“(ebd)

Was fehlt, ist der Bezug auf die christlichen Hoffnungs- und Trostbilder. Die finden sich in einem anderen berühmten im Exil geschriebenen Roman einer kommunistischen Autorin, in Anna Seghers Das siebte Kreuz, 1942 auf englisch, 1943 in deutscher Sprache erschienen.

Aus dem KZ Westhofen sind sieben Häftlinge entkommen. Der Kommandant lässt sieben kreuze auf dem Appellplatz errichten, um zu zeigen, was er mit den wieder Eingefangenen machen wird. Tatsächlich kommt nur einer durch, der Mechaniker Georg Heisler. Das siebte Kreuz bleibt leer. Das heißt auch: das Kreuz als Symbol stellvertretenden Leidens soll nicht mehr notwendig sein. Es muss sich nicht einer für die andern opfern(obwohl es das immer wieder geben wird). Das siebte Kreuz hebt das eine Kreuz oder besser: das Kreuz des einen nicht auf, aber es zeigt eine andere Möglichkeit auf, von der exklusiven Fixierung auf das stellvertretende Leiden wegzukommen durch aktive Solidarität. Zunächst aber hält Anna Seghers fest: In der Solidaritätsgemeinschaft der Erinnerung ist das Kreuz Christi zentral und unaufgebbar- das besagt eine Schlüsselszene des Romans. Georg lässt sich am ersten Fluchttag nachts im Mainzer Dom einschließen, um sich dem Zugriff der Verfolger zu entziehen.

„Von außen erleuchtet ein Licht plötzlich eines der Kirchenfenster. „Georg stockte der Atem. Ein ungeheurer, in allen Farben glühender Teppich jäh in der Finsternis aufgerollt. Jenes äußere Licht schüttete auch, solang es brannte, alle Bilder des Lebens aus. Ja, das müssen die beiden sein, dachte Georg, die aus dem Paradies vertrieben wurden. Ja, das müssen die Köpfe der Kühe sein, die in die Krippe sehen, in der das Kind liegt, für das es sonst keinen Raum gab. Ja, das muss das Abendmahl sein, als er schon wusste, dass er verraten wurde, ja, das muss der Soldat sein, der mit dem Speer stieß als er schon am Kreuz hing. Er, Georg, kannte längst nicht mehr alle Bilder. Viele hatte er nie gekannt, denn bei ihm daheim hat es das alles nicht mehr gegeben. Alles, was das Alleinsein aufhebt, kann einen trösten. Nicht nur was von andern gleichzeitig durchlitten wird, kann einen trösten sondern auch was von andern früher durchlitten wurde.“(57f)

Die christliche Heilsgeschichte wird im Modus der Erinnerung beschworen. Wie bei einer alten Handschrift beginnt Georg die Zeichen und Formen zu entziffern und sich dabei wieder zu entdecken - bin ich nicht wie dieses Kind - verjagt, verraten, ja vielleicht sogar gekreuzigt? Eine überzeugte Kommunistin lässt ihren Helden, auch einen allerdings nicht besonders verlässlichen Kommunisten, in der Gestalt des fliehenden und leidenden Christus wieder erkennen. Im Wiedererkennen wird Solidarität hergestellt mit den Opfern der Geschichte, die das Alleinsein aufhebt und tröstet. Mag sein, dass dahinter eine ideologische Absicht der Marxistin steht, dass die Seghers die biblischen Traditionen von Gerechtigkeit und Frieden aus ihrem eschatologischen Kontext herauslösen und als geschichtlich realisierbare Möglichkeit darstellen will. Aber ist das so falsch? Es geht ja nicht um die große Revolution sondern um die Rettung dieses einen Menschen, die eine Hoffnung in finsterer Zeit bedeutet. Der Bezug auf den leidenden Christus und das Kreuz verweist auf ein Uneingelöstes, ein Mehr, einen Überschuss an Hoffnung - nur im Gedächtnis des Leidens kann eine bessere Zukunft eröffnet werden.

Es heißt, die Zeit der großen Erzählungen sei zu Ende. Und so ist es wahrscheinlich auch vergeblich, wenn ich an die Leerstelle im Pergamon-Fries statt Herakles den gewaltfreien Jesus setzte, an die Stelle der Löwentatze die Heilungen, an die Stelle des weit ausholenden hinwegfegenden Griffs die Gesten von Fußwaschung, Abendmahl und die Worte „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“. Obwohl ich mit Kolakowski meine, dass Jesus immer wieder in die Kultur, die Geschichte eingesetzt werden muss. Denn der Griff zur Gewalt, der Terror als Mittel der politischen Erziehung der Massen wie als individuelle Verzweiflungsaktion führt nur zu neuer Unterdrückung. Gesellschaftlich gewendet: nötig ist ein gewaltfreies demokratisches Gemeinwesen, das den Schwachen zum Maßstab der Verfassung macht, die Menschenwürde nicht von den Freiheitsrechten allein sondern von den sozialen Rechten her bestimmt, und das nicht nur in einem Europa mit Osterweiterung sondern weltweit.

Was 1975 zur Zeit der Veröffentlichung des ersten Bandes der Ästhetik des Widerstands noch einer gewissen, wenn auch beschädigten Hoffnung entsprach (damals schon wurde Weiss politische Parteinahme als idealistisches Bekennertum kritisiert) scheint heute, nach dem Zerfall des bürokratischen Sozialismus, im Zeitalter des siegreichen Kapitalismus und seiner Globalisierung, endgültig überholt. Die Idee einer Ökonomie des Glücks muss unter den Bedingungen einer allgegenwärtigen Unterhaltungskultur und Erlebnisgesellschaft ausgesagt werden. Hier wäre eigentlich ein Exkurs zur Alltagsästhetik und ihrer Bedeutung für das heutige Erleben von schönen Erlebnissen als Lebensaufgabe(G. Schulze) angebracht. Was das Leben nicht als letzte Gelegenheit sondern als gelingendes Leben wirklich sein könnte, wäre zu umreißen. Das kann ich hier nicht leisten. Ich bleibe im Hochkulturschema und frage zunächst: Was kann die Kunst zum guten und schönen Leben beitragen, später: was die soziale Arbeit?

2. Von der Ästhetik des Widerstands zu einer des Eingedenkens

Die heutigen Bilder, die das Leiden der Menschen dokumentieren, sind in unseren Breiten nicht mehr unbedingt die von Klassenkämpfen. Große Kunst der Gegenwart dokumentiert die condition humaine in ihrer fotografischen Vergänglichkeit, rettet einen Sinn gerade angesichts der Hoffnungslosigkeit und Banalität, die aus dem fotografierten Leben des Durchschnittsbürgers spricht.(Roland Barthes: „Fotografiert zu werden verschafft ein Gefühl des Authentizitätsverlustes.“) Auf der Documenta X habe ich 1997 Gerhard Richters riesige Foto-Installation Atlas 1962-1996 gesehen. Auf 600 Tafeln und damals 5000 Bildern eine durchstrukturierte Dokumentation der Zeit von 1945 bis in die unmittelbare Gegenwart. Privates mischt sich bunt mit Öffentlichem: Urlaubsfotos, verschiedenen Gemäldefragmente, Bilder von lokalen Ereignissen, Köpfe der Zeitgeschichte, Stadtansichten, Gebirgszüge, unscharfe Bilder von RAF-Mitgliedern usw. Das erinnert zwar an die eigenen Fotofamilienalben, an selbst gesammelte Zeitungsarchive und ist doch mehr: durch das Arrangement des Künstlers tritt in Erscheinung, was die Ideologie massenmedialer Bebilderung des Zeitgeschehens verbirgt

Der 1944 in Paris geborene Christian Boltanski tut das eindrücklich in der Installation Tote Schweizer, die in der Galerie der Gegenwart zu sehen ist. In einem Gang zwischen hoch aufgestapelten Blechdosen ist eine Unzahl anonymer schwarzweißer Porträtfotografien aufgehängt.. Die Anordnung lässt an ein Archiv oder Depot denken. Die mit den Fotografien etikettierten Blechdosen werden so unversehens zu einem kostbar beleuchteten Reliquienbehältnis. Die Toten auf den Fotos, die er Traueranzeigen einer Schweizer Zeitung entnommen hat, lächeln, sie zeigen sich von ihrer besten Seite. Das ist typisch für Erinnerungsfotos, die von den Hinterbliebenen so gewünscht werden. Es sind Tote, die in Boltanskis Augen als Ersatztote herhalten müssen. Der Kommentar, den er anbietet, um den Einsatz dieses Bildmaterials zu begründen, gibt Einblick in den bitteren eschatologischen Humor, der hinter seinen Arbeiten steckt: „Zuvor zeigten meine Werke tote Juden, aber Juden und tot stehen sich zu nahe. Es gibt nichts Normaleres als einen Schweizer. Es gibt keinen Grund, warum ein Schweizer nicht sterben sollte, und so sind diese ganzen Toten nicht mehr erschreckend. Sie sind wir.“ Die Serie mit den toten Schweizern unterstreicht auf ironische Weise die allgemeine Hoffnungslosigkeit und die Austauschbarkeit von Gesichtern, von Biographien. Einerseits illustriert Boltanski so die sichtbare Abschaffung individuellen Glücks und Unglücks. Aber indem er diese unbekannten Menschen in sein Totenreich aufnimmt, arbeitet er doch gegen die Statistik des Todes an. Ihr nichtfassbares Grauen wird durch die Fotos, durch die Inventare von Kleinobjekten, die er anlegt, für einen Moment in die Vorstellbarkeit geholt. Indem er das Austauschbare zeigt, rettet er es vor der endgültigen Vernichtung. Und so kooperiert der moderne Künstler unbewusst mit jenem Gottesverständnis, das als sein Wesen Eingedenken bezeichnet.

Ähnlich eingedenkend verfährt der Bestattungsredner Thomas Linde, 54, promovierter Altachtundsechziger, der der Roten Zelle angehörte und einst vor Betrieben Flugblätter verteilte, in Uwe Timms Roman Rot. Zu Thomas Linde kommen alle, die nicht mehr an Gott glauben oder nicht mehr in der Kirche sind. Die Aufgabe, die Situation des Abschieds von dem Toten gestalten zu müssen, ohne auf ein Jenseits verweisen zu können, ist für ihn eine immer neue Herausforderung. Angesichts der Sinnlosigkeit des Todes sucht er nach dem Sinn jedes einzelnen Lebens, das da oft erbärmlich zu Ende ging. Im Gespräch mit den Angehörigen spürt er das Unverwechselbare gerade dieses Lebens auf. Und er findet immer etwas, das berichtenswert ist.

Auch wenn Timm die Leute von der Konkurrenz, sprich uns Pastoren, meint abwerten zu müssen als Jenseitsvertröster, genau dies habe ich in meiner Zeit als Beerdigungsredner auch versucht, das einem Leben Eigentümliche herauszufinden, davon in der Situation des Abschieds zu erzählen, noch einmal aufleuchten zu lassen, was diesem Leben bei aller Durchschnittlichkeit Sinn gegeben hat, was es in Gottes Augen wertvoll machte. Auch darin, wie es gelebt wurde in der Abhängigkeit von Instanzen, auf die es keinen Einfluss hatte, Elternhaus, Schule, Betrieb, Politik, und doch durch diese kleine Tat, durch das Festhalten an jener Hoffnung Unverwechselbarkeit erhielt. Im Judentum darf man keinen beerdigen, ohne etwas Gutes über ihn zu sagen. Als nun ein richtiger Menschenfeind beerdigt wurde, über den keiner was Gutes zu sagen wusste, erbarmte sich schließlich einer und sprach: Mohnkügelchen hat er so gern gegessen. Die Beerdigungsansprache als eine Ästhetik des Eingedenkens, des Eigensinns und auch des Widerstands in kleinen Handlungen. Der große Möbelschrank, hinter dem die Familie in der Nazizeit eine Jüdin versteckte. Oder die Geschichte der alten Frau, die nachdem ihr Mann gestorben war, die alten abgewohnten Möbel rausschmiss, sich neu mit IKEA einrichtete und noch zwei Jahre stolz im neuen Ambiente lebte ...

2003 hat Timm die Geschichte seines 1944 gefallenen Bruders, der sich freiwillig mit 18 bei der Waffen-SS gemeldet hatte, erzählt Aus dem Leben meines Bruders. Ein Stück deutscher Familiengeschichte, eine Erinnerungsarbeit, die jahrzehntelang für den Autor nicht möglich war, weil er ein Tagebuch von seinem Bruder besaß, in dem für den Autor schlimme Sätze über den Russen standen, in dem aber auch in der letzten Eintragung zu lesen war, dass er genug vom Töten habe. Mit dem Büchlein hat Timm ihm, dem blutjungen Täter, im Zusammenhang der Familiengeschichte ein Memorial gesetzt. Die Kunst der verstehenden Deutung in der Sozialarbeit hat eine ähnliche Intention.

Die Errettung der Dinge

In der Kunst der Gegenwart werden seit der Pop-Art viele Materialien unserer Lebens- und Konsumwelt verwendet - Büro- und Wohnmöbel. Kleider, Geschirr, Autoteile, Videorecorder, Monitore, Stahlträger, Sandsäcke, Kisten. Sie errettet die Dinge sozusagen vor ihrem bloßen Verschleiß, arrangiert sie neu, fügt den Betrachter als Flaneur durch Räume und Installationen in dieses neue Setting ein. Kunst, so die Philosophie der Macher der Documenta, soll den Zugang zum Erkennen des Zustands der modernen Welt ermöglichen. In dieser Hinsicht ist auch unser Umsonstladen Kostnix in Billstedt ein Kunstwerk, eines übrigens, das sich in seiner dem Wegwerfen trotzenden Ästhetik täglich wandelt, ein work in progress, das wir als Video-Übertragung direkt ins Museum der Gegenwart übertragen und vielleicht so von der Kunsthalle einen Teil der Mietkosten erstattet bekommen könnten. Die Gegenwart der Moderne wird durch Kunst verfremdet. Manchmal fällt so ein erlösendes Licht auf die beschädigte Welt, zuweilen rückt die moderne Kunst wie der „Messias der leichten Hand“(von dem Bloch in den Spuren spricht) Dinge zurecht, erhebt zumindest Einspruch gegen den Terror der kapitalistischen Warenproduktion. Das kann zu einer produktiven Verstörung beim Betrachter führen. Aber der von den documenta - Gestaltern erhobene Anspruch, die Kunst sei sozusagen der Erlöser der fragmentierten Moderne, ist zweifellos überzogen. Sie ist eher die spielerisch-kritische Kommentatorin dieser gnadenlosen Modernisierung, verrennt sich in artifizielle Arrangements. Kunst als Kunstbetrieb und Teil der Erlebnisgesellschaft ohne sprengend politische Perspektive, neue Unübersichtlichkeit auch hier.

3. Ästhetik des rettenden Augenblicks, Bilder der Hoffnung

Wir lesen von Booten, die mit afrikanischen Flüchtlingen vor Sizilien kenterten. Wer kennt ihre Namen? Vergessen bereits das Schiff mit albanischen Flüchtlingen, das zurückgeschickt wurde. Ich denke an den mutigen Kapitän des norwegischen Schiffs, der die Bootsflüchtlinge aufnahm und mit ihnen in australische Hoheitsgewässer fuhr trotz martialischer Drohungen der Regierung, die Fotos von der gelungenen Rettung dem Tode Geweihter, ein Gegenbild zu dem Floß der Medusa von Theodore Gericault. Die Medusa, das Flagschiff einer französischen Expedition war im Juli 1816 vor der Küste Senegals auf Grund gelaufen. Die Offiziere und einflussreichen Passagiere nahmen mit Gewalt die Rettungsboote in Besitz, die übrigen Schiffbrüchigen wurden auf ein notdürftig aus Bohlen und Maststücken erbautes Floß verfrachtet, das zunächst in Schlepptau genommen bei aufkommenden Sturm sich selbst überlassen wurde. Von den 150 Menschen waren nach 12 Tagen schrecklicher Fahrt noch 15 am Leben, als am Horizont die rettende Fregatte auftauchte. Diesen Moment hat Gericault in seinem monumentalen Bild, an dem er 16 Monate arbeitete und das bei seiner Ausstellung 1819 zu einem Skandal führte, festgehalten. Er trieb dafür genaue Detailstudien in der Anatomie, sprach mit Überlebenden, skizzierte, verwarf um schließlich eine Darstellung zu finden, die auf direkte Agitation verzichtet und doch so zu dem Betrachter spricht, dass die Revolte gegen gesellschaftlichen Zustände, die diesen Schiffbruch beförderten, nur zu nahe lag und das Regime der Bourbonen seine weitere Präsentation verhindern wollte.

Ich zitiere Peter Weiss, der auf die merkwürdige Komposition des Bildes aufmerksam macht: „die Schiffbrüchigen drehten sich zum größten Teil nach rückwärts, sie waren völlig für sich, der nach vorn gekehrte Sitzende, die Hand um einen Toten geschlungen, war in Erschöpfung und Trauer versunken, wie vom Blick eines Ertrinkenden war das Floß gesehen, und die Rettung war so entlegen, als müsse sie erst erdacht werden.. Eine Täuschung, eine Halluzination konnte diese auftauchende Hilfe sein, in einer Zukunft lag sie, weit weg von der Welt, in der die Zuschauer sich befanden. Aus der vereinzelten Katastrophe war ein Sinnbild des Lebenszustands geworden. Voller Verachtung den Angepassten den Rücken zukehrend, stellten die auf dem Floß treibenden Versprengte einer ausgelieferten Generation dar, die von ihrer Jugend her noch den Sturz der Bastille kannte.. Sie lehnten und hingen aneinander, alles Widerstreitende, das sie auf dem Schiff zusammengeführt haben mochte, war vergangen, vergessen war das Ringen, der Hunger, der Durst, das Sterben auf hoher See, zwischen ihnen war eine Einheit entstanden, gestützt von der Hand eines jeden, gemeinsam würden sie jetzt untergehn oder gemeinsam überleben, und dass der Winkende, der Stärkste von ihnen ein Afrikaner war, vielleicht zum Verkauf als Sklave auf die Medusa verladen, ließ den Gedanken aufkommen an die Befreiung aller Unterdrückten...Die Maler hatten eine Sekunde des Nochlebens der übermächtigen Zerstörung abgewonnen und in Zeitlosigkeit versetzt.“(I, 345) In seinem Roman spricht der Erzähler über Gericaults Bild mit einem verwundeten Spanienkämpfer zwischen der Erörterung von Picassos Guernica und Goyas Erschießung der Aufständischen in Madrid (1808). Mit dem Pathos des dem Tode Konfrontierten deutet der Freund den wilden Trotz der Goyaschen Figuren vor den gleich feuernden Gewehrmündern: „ Drückt er nicht aus, was in dieser Spanne zwischen Geburt und Tod alles zu erreichen ist? Ist seine Geste nicht voller Stolz und Überlegenheit, da er alles loslässt und seinen Leib dem Ende darbietet, in der Gewissheit nicht unnütz gelebt zu haben.“ (I, 346)

Dieses Pathos ist uns längst verloren gegangen. Uns ergreift eher eine ermüdete Verzweiflung, wenn wir in den Nachrichten die Bilder von neuen Terrorakten in Jerusalem, Tel Aviv und im Gaza-Streifen sehen. Die trauernden Mütter vor den von einem Selbstmordattentäter zerfetzten Bus, das Bild des verzweifelten Vaters, der seinen Sohn vergeblich vor den Schüssen der Soldaten zu schützen versucht, diese Sekunde des Nochlebens, doch ohne Hoffnung, weil das Kind stirbt, weil es am nächsten Tag so weitergeht, heroische Gesten des Steineschleuderns und dann der blutige Ernst des gegenseitigen Gemetzels. Allein die Tatsache, dass palästinensische und israelische Eltern, die ihre Kinder verloren haben, sich treffen und zur Versöhnung rufen, ist ein Zeichen von Hoffnung.

Das Grauen, dem die Kunstwerke sich stellen, beispielhaft dafür schildert Weiss Gericaults Arbeit am Floß der Medusa am Anfang des 2.Bandes, setzt eine künstlerische Grenzerfahrung voraus, die die Einseitigkeiten unbeteiligter objektiver Analyse ebenso übersteigt wie die bloße emotionale Anteilnahme. Dazu bedarf es auch der Anästhesie, „auch sie (...) gehört zur äußerst beteiligten Kunst, denn ohne deren Hilfe würden wir entweder von Mitgefühl für die Qualen anderer oder vom Leiden am selbst erfahrenen Unheil überwältigt werden und könnten unser Verstummen, unsere Schreckenslähmung nicht umwandeln in jene Aggressivität, die notwendig ist, um die Ursachen des Alpdrucks zu beseitigen.“

Einer Theaterregisseurin und ihrer Dramaturgin Helene Cisoux, gelingt dies, Ariane Mnouchkine in Le dernier caravanserail – ein sechsstündiges furioses Theaterereignis, das die Schicksale der Kriegs- und Hungerflüchtlinge, die unsere Festung Europa bestürmen, in Bildern und Momenten unvergesslicher Intensität zeigt. Eröffnungsszene. Aus dem Bühnengraben entsteht aus wallenden Tüchern ein reißender Fluss an der Grenze zwischen Kirgisien und Kasachstan. In einer Gondel versuchen die Flüchtlinge diesen Fluss, ein tosendes Inferno aus Geräuschen; zu überqueren, nicht alle erreichen das rettende Ufer der andern Seite. Die Gondel kippt, die Menschen schreien entsetzt auf. „Es ist eine Apokalypse aus Wind, Geschrei, hüpfendem Turban, bauschendem Leinen. Das Elend vom Ende der Welt, hier schwappt es mitten ins deutsche Theater.“(Die ZEIT 26/2004) Das erinnert an den Beginn von Wilhelm Tell, nur dass jetzt es um die Freiheit im Detail geht, um jene Feinheiten im Zuwanderungsgesetz, die eben das Bleiberecht für Flüchtlinge nicht erweitern und die Türen weiter vor den meisten Fremden verschließen. In vielen kleinen Szenen, 90 aus insgesamt 400, das Material wurde zusammengestellt aus Gesprächen mit Flüchtlingen aus Afghanistan, dem Irak, Iran, Pakistan, Afrika, werden die Schicksale dieser Menschen gezeigt – an den Orten der Unterdrückung(die Taliban), an den Grenzen, im Abschiebelager, auf den Fluchtbooten und Flössen, am Eurotunnel, in Calais, am Ärmelkanal. Sie sind Schutzflehende, Asylsuchende, Geworfene, Abgeschobene und so werden sie von Helfern auf Kleinstwägelchen auf die Bühne gerollt, spielen kurz ihre Szene, werden wieder weg geschoben. Unmöglich im einzelnen zu berichten, was Mnouchkine alles zeigt. Es ist nicht agitatorisch im direkten Sinn, aber es agitiert uns Zuschauer, denn wir sind es ja, die die Armen, die unsere Festung bestürmen, zurück schicken in den täglichen Abschiebungen. Das lange Stück ist an vielen Stellen zart, poetisch, mitfühlend, es sind die Stimmen, die zu uns sprechen, von dem Leid der Trennung, ja Papa, wir sind in London, es geht uns gut, telefoniert die Tochter ihre Vater in Teheran aus der Telefonzelle im Abschiebelager. Es gibt wunderbare Szenen einer afghanischen Liebesgeschichte. Und schließlich zum Schluss ein Bild des Gelingens. Eine Flüchtlingsfamilie hat das gelobte Land, England, erreicht. Zehn, zwölf Menschen machen ein Picknick auf den Klippen von Dover. Eine Engländerin kommt ihnen entgegen, bringt etwas zu essen… Man sieht ihnen lange zu, wie sie reden, essen, wie sie eine Möwe füttern, wie sie ankommen und sich verwurzeln.

4. Zärtlich und genau - dokumentarische Fotografie

Grausam und zärtlich, cruel and tender heißt ein Ausstellung mit zeitgenössischer Fotografien, die ich in Köln im Museum Ludwig gesehen habe.[3] Von den Pionieren August Sander und Walker Evans ausgehend dokumentiert sie eine Fotografie, die einen klaren leidenschaftslosen Blick hat für die Realität hat, ohne sie zu ästhetisieren. „Zärtliche Grausamkeit“ nannte ein Verleger diese kühle Leidenschaft Evans für das alltägliche Amerika. Evans zeigt mit seinem schlichten beharrlichen Stil und der strengen Frontalansicht das Amerika der Depression, zeigt Menschen vor ihren Hütten, in der U-Bahn, im Auto. Es ist einerseits die impassibilite Flauberts, an der Evans sich orientiert( „Mein Credo lautet mich herauszuhalten, wie Flaubert es in seinen Schriften tut“). Aber trotz dieser Distanz entstehen Bilder eines engagierten Realismus. „Wir sehen, was wir bisher nicht erkannt haben. Wir kommen in unserer Anonymität zu Ehren.“(William Carlos Williams) Amerika erkennt sich in den Bildern wieder. Dreißig Jahre später zeigt Robert Adams in dem Zyklus What we bought, The New World 1970-1974 den gnadenlosen Vormarsch der Einfamilienhäuser, der trailer homes und Einkaufszentren auf der grünen Wiese, die trostlosen Highways mit ihren verzweifelt bunten Reklamebildern, die zu betonierten Spielflächen der Kinder. Man vergleiche seine Aufnahme einer Tankstelle mit Edward Hoppers romantisierendem Bild Gasolin Station (aber auch mit Evans Roadside View), um das Ausmaß der Desillusionierung zu ermessen. Diese realistische Fotografie vermeidet die direkte Schilderung dramatischer oder schrecklicher Ereignisse(Unfälle, Katastrophen). Der Schrecken entsteht sozusagen durch die Reihung von Bildern eines für sich genommenen unspektakulären Sachverhalts. So zeigt Paul Grahams Zyklus Beyond caring(1984/85) auf fotosymbolische Weise, was Arbeitslosigkeit den Menschen antut, indem er die Warteräume der Sozialberatungs- und Arbeitslosenzentren in London fotografiert. Die ausdruckslos sitzenden und stehenden Menschen in einer trostlosen Atmosphäre zeugen davon, wie Leben aufgrund politischer Entscheidungen gesellschaftlich zerstört werden kann. Sie klagen mit aller Schärfe die Entwürdigung an, die die schwächsten Glieder einer Gesellschaft, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger, im Thatcher-England erfahren. Ökonomische Entscheidungen und das Leben von Menschen treffen frontal aufeinander. Der Mensch unterliegt. Fotos, die angesichts der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und dem rigiden Durchgreifen eines aktivierenden Staates auch bei uns aktuell sind, wobei die Kundenfreundlichkeit angesichts geringerer Transferleistungen besonders betont wird.(Dass es auch noch andere, pfiffige Umgangsweisen mit der Arbeitslosigkeit gibt, zeigen die englischen Spielfilme wie Raining Stones, Fish and Chips, My name is Joe) Eine andere Umgangsweise mit sozialem Elend zeigt Martin Parr. The Last Resort zeigt Arbeiter in ihrer Freizeit: fetttriefende Hotdogs, giftgelbe Kartoffelchips, übergewichtige Menschen, nackte Babys und Kinder, die im schmutzigen Meer vor dem heruntergekommenen Seebad Brighton planschen, während der Müll vorbeischwimmt. Man blickt auf eine sonnenbadende Frau, wie sie ihr Handtuch neben einem Abräumbagger ausgebreitet hat. Diese Fotos spalteten das Publikum. Einige fanden sie zu brutal, sie würden eine Bevölkerungsschicht denunzieren, die in den Thatcher-Jahren genug zu leiden hatte. Andere sahen in ihnen eine Kritik an einem politischen System, das solche Arrangements befördert. In One day - Trip, den Butterfahrten auf die andere Seite des Ärmelkanals, stürmen die Tagesgäste die französischen Supermärkte auf der Jagd nach den besten Schnäppchen, kehren erschöpft zurück Parrs ironische Distanz erreicht mit Common Sense (1999)einen neuen Höhepunkt. Mit beißendem Humor kritisiert er das Vulgäre und Geschmacklose im obsessiven Konsumverhalten, das sich keinerlei Zwang mehr antut und besinnungslos kitschig die eigene Figur, das mürbe Fleisch ausstellt, sich behängt, beringt, grell bekleidet, das schmatzt und schlingt. Die dickliche Frau im Blümchenkleid vor dem Sahne beladenen Eiskaffee - ein Stereotyp(aber bitte mit Sahne) und doch wahr. Die extrem künstlich gefärbten Details der Warenwelt, ob Törtchen, Socken, Sonnenbrillen, geschminkte Lippen, werden zu Zeichen einer Zerstörung des Schönheitsempfindens. Es ist die Banalitätensammlung eines entfesselten Kapitalismus Andererseits würde das bewusste Tragen des Geschmacklosen etwa in der Schwulen- und Transvestitenszene eine andere Bedeutung haben.

Kaum auszuhalten sind die Fotografien von Boris Mikhailov. Sie schwanken zwischen gefundnen und erfundenen Bilder und zeigen in Aufnahmen den Verfall aller Werte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion - Obdachlose und Straßenkinder am Rande einer ohnehin armen Gesellschaft.. Auf der einen Seite spielt Mikhailov „mit dem entscheidenden Augenblick, eine Geste, ein Blick, in dem für den Betrachter oft etwas Tröstliches liegt.“ Auf der anderen kollidiert die lockere Schnappschuss-Ästhetik mit der grauenvollen Realität, die sie einfängt. Manche der Bilder erinnern mit ihrer Ausstellung der Wunden an Christus-Darstellungen, die ja in ihrer geschmacklosen Übertreibung auch schwer auszuhalten sind. O Brust, Gesäß und Geschlecht voll Blut und Wunden, wäre da zu singen Stigmatisierungen durch das vom Kapitalismus zugefügte Leiden. Aber auch Verweise auf Bunuels Dekouvrierung der Armen sind zu erkennen, die Armen sind nicht per se gut sondern auch schlimm und böse(so in Viridiana und Die Vergessenen). Die Obdachlose, die ihren Rock hebt wie die Bettlerin, die es zu dem Halleluja von Händel bei Bunuel blitzen lässt. Schwer jetzt zu sagen „nichts Menschliches ist mir fremd.“

Ich gebe es ehrlich zu, dass mich das Elend heruntergekommener Plätze und Ecken in Billstedt und Horn seelisch beschwert. Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an. Und es ist doch gerade im Sommer ein oft fideles Elend, was sich da am U-Bahnhof Legienstraße zeigt. Trinker-Treffpunkte an U-Bahnhöfen in Hamburg wäre ein Thema für einen der genannten Fotografen von cruel and tender. Denn grausam und zärtlich geht es hier zu. Menschen am Rande vertreiben sich ihren Alltag, reden und trinken miteinander, stützen sich auf diese Weise. Ein gesellige Kneipenrunde im Freien, oft laut und nervig, taktlos, aber doch wichtig für die Menschen, die sich dort treffen. An anderen Plätzen sind sie ausgegrenzt. Hier bin ich Mensch hier darf ich’s sein. Wie die Kirchenküchen sind die Trinkertreffpunkte Versorgungsstätten der „Ärmsten“ jener deutschen Parallelgesellschaft, die Gabriele Goettle so genau beschrieben hat in einer intensiv narrativen Sozialforschung.

Aber auch Studierende der Sozialpädagogik sind Erforscher ihres Stadtteils mit und ohne Kamera. Sie sollten den Mut haben, in ihrer Praktikumsstelle, in ihrem Stadtteil solche Porträtgruppen anzufertigen - die Roma, die Alleinerziehende, der Arbeitslose, die Katholiken, die Muslims, die Sozialarbeiter. Am besten sie gehen dabei zart und genau vor, so wie Goethe es beschreibt: „Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird.“[4] Mit der Kamera haben Katharina Brüchmann und Suasanne Behrendt die Lebenssituationen von Wohnungslosen erforscht und in ihrer Diplomarbeit dokumentiert – Bilder, die oft mehr sagen als die soziologische Beschreibung ihrer Lage.[5]

Es gibt auch Künstler, die, wie die ZEIT ein wenig abwertend schrieb, als „Aktionisten der Nächstenliebe“ tätig werden.[6] So die Zwillingsschwestern Irene und Christine Hohenbüchler. In der Documenta- und Biennalenszene sind sie schon lange bekannt für ihre normalen Unnormalitäten. Sie malen mit psychisch Verwirrten, basteln mit Kindern, weben mit Gefangenen. In dem Klostergut Ittingen bei Zürich arbeiteten sie mit behinderten Menschen, die auf dem Gut wohnen. Ein jeder sollte sich seinen Gartentraum erfüllen, ein Paradies anlegen. „Herausgekommen ist eher Unparadiesisches: ein paar schreberige Rabatten, einige Weidengeflechte, dazu Holztürme wie vom Bauspielplatz. Dennoch tragen sie das Etikett Kunst, werden in einer Ausstellung dokumentiert und neuerdings auch in einem eigenen Katalog beschrieben. Der Künstler als Fachmann fürs Ästhetische hat in ihren Augen ausgedient, und auch von der Aura eines Werks wollen sie nichts wissen. Kunst, das ist für sie primär die Kunst des Helfens - nicht ein Frage der Ästhetik, sondern der Ethik.“(Rauterberg) Die Zahl solcher Künstlerinitiativen ist gewachsen. In Hamburg war es die „Mission“ von Deutschem Schauspielhaus und Christoph Schlingensief, die sich in den Bereich sozialer Nothilfe wagte, ein künstlerisches Programm mit einer Suppenküche verband und bis vor kurzem Bestand hatte. Die Künstlergruppe WochenKlausur sorgte in Wien dafür, dass Obdachlose kostenlos medizinisch versorgt wurden. Künstler, so Rauterberg, machen sich im bröckelnden Sozialstaat nützlich, werden als Hilfskünstler zivilgesellschaftlich für die Veränderung im Kleinen tätig. In Hamburg sind das die Künstler für das Wohnungslosenmagazin Hinz&Kunzt, wobei die Wohnungslosen auch sogleich zu „Künzstlern“ erklärt werden. In England wird solche praktisch werdende Kunst von der Regierung großzügig gefördert. Der sich so nützlich machende Künstler gilt als ein Beispiel für den flexiblen Homo oeconomicus von morgen. So der Schweinfurter Manfred Baumann. Er hat ein Küchenwägelchen entwickelt, das sich durch die Städte schieben lässt und das Obdachlose für 15 Euro Tagesmiete bei ihm entleihen können, um sich selbst und andere damit zu bekochen.

Mit Recht fragt Rauterberg, ob diese Art der gesellschaftlichen Nützlichkeit nicht dem Autonomiegedanken der Kunst widerspreche. Kunst soll infrage stellen. Das Soziale an der Kunst ist das Asoziale, insofern sie das Anderssein verteidigt und den Nichtangepassten die Treue hält. An Baudelaires Blumen des Bösen lässt sich das exemplarisch zeigen. Kunst ist nicht ethisch korrekt, propagiert keine Normalitätsanmutungen und will keine Integrationsleistungen befördern. Sie ist nicht kulturelle Sozialarbeit, die künstlerische Techniken für Integration funktionalisiert. Ich gestehe, dass ich manchmal versucht bin, Kunst mit dem Ethischen zusammenzubringen, aber ich weiß auch, dass soziale, politische Wirkungen großer Kunstwerke eher indirekt sind. Der Künstler als sozial verantwortlicher Citoyen kann und soll sich auch politisch artikulieren, für Flüchtlinge und ihr Bleiberecht eintreten, auch auf einer Veranstaltung des Schauspielhauses oder in der Fabrik eines seiner Lieder singen, aber deswegen muss er nicht die Arbeit mit Flüchtlingen zur Kunst erklären.

5. Auf dass das Soziale schön werde…

Ästhetik meint die Kunst der Wahrnehmung. Die großen Kunstwerke, die die entfremdete Welt darstellen, enthalten auch das Versprechen, dass die Welt besser werden kann. Jedes Kunstwerk ist Vorschein von Versöhnung und sagt ähnlich wie die biblische Botschaft: Das bist du. Du kannst dein Leben ändern, werde so, wie dieses Gedicht, dieses Musikstück es verspricht oder auch: werde nicht so, wie dieser Mistkerl. Aber: Auf dass das Soziale schön werde - das ist eine Hoffnung, die nicht sofort einleuchtet. Es geht darum in der gegenwärtigen Verfassung des Sozialen jene Spuren des Gelingens, des Guten zu finden, die schön sind. Was aber ist schön?

In seinem Vortrag zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 1975 hat Carl Friedrich v. Weizsäcker auf das Misstrauen gegen das Schöne hingewiesen - das Schöne ist nicht nützlich, nicht gerecht, nicht wahr, nicht fromm. (Dies Argument ist übrigens auch aus der Sozialarbeit bekannt - kulturell anspruchsvolle soziale Kulturarbeit muss sich den Vorwurf des Luxus gefallen lassen.) Das aber, so wendet Weizsäcker ein und ich stimme ihm zu, sind aber nur wichtige Halbwahrheiten. Das Schöne ist eine Erscheinungsweise des Guten, und zwar in indirekter Mitwahrnehmung im Unterschied zu den direkten Wahrnehmungsformen des Nützlichen und sittlich Gerechten. Ethik zielt zum einen auf die Aufhebung des egoistischen Nutzenbegriffs, zum andern auf die Erlösung von der Blindheit, die den Namen Ich trägt. Handle allezeit so, dass das Prinzip deines Handelns zur Maxime allgemeinen Handelns werden kann. Aber, so sagt Weizsäcker in dem erwähnten Vortrag, das Sittliche ist nicht das letzte Prinzip. Schönheitssinn ist Sinnwahrnehmung des größeren Zusammenhangs, ist Mitwahrnehmung des Lebensnotwendigen ohne das Pathos der Notwendigkeit. Die Wahrnehmung einer schönen Wiese beruht auch auf dem ökologischem Gleichgewicht, das die Basis für die wahrgenommene Harmonie ist. „Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst“, heißt die berühmte Schlusszeile von Mörikes Gedicht Auf eine Lampe Das Schöne verlangt nicht nach dem Besitz, aber nach Teilhabe an dieser Seligkeit. Deswegen unsere Lust, Kunstwerke anzuschauen, die Schönheit der Natur neu zu entdecken, über die Musterung eines Steins am Ostseestrand entzückt zu sein. Aber sich auch zu freuen über gelungene soziale Künste in der Begegnung mit Menschen, die in schwierigen Lebenssituationen sich befinden. Die Schönheit in der sozialen Arbeit würde analog auf ihrer guten Ausstattung und einer von Abrechnungsziffern unbedrängten Professionalität beruhen, die die Grundlage für das Schöne der gelingenden Begegnung wäre.[7]

Auf dass das Soziale schön werde... Das meint zum Beispiel den mit Sinn für Schönheit und die Lebenswelten von Kindern erbauten Kindergarten, die Schule, das Jugendzentrum, leider sehr selten. Auch das, die gute bauliche Ausstattung gehört zum Guten und Schönen, und es gilt auch hier der abgewandelte Zille-Spruch, dass man die Kreativität auf verschiedene Weise töten kann, auch mit misslungener geisttötender Architektur.

Die Schönheit in der Arbeit mit Menschen ist die Wahrnehmung des oft unter einer Schicht des zunächst Abstoßenden und Schwierigen verborgenen Schönen als des Liebenswerten. Schönheit ist eine Frage der Entzifferung, des Herauslesens. Ich zitiere hier eine Kronzeugin dieser Anthropologie, die Harald Ihmig entdeckt hat für die Sozialarbeit, die Jüdin Etti Hillesum, die im Lager Westerbork 1944 notierte: „Viele Menschen sind noch Hieroglyphen für mich, aber allmählich lerne ich, sie zu entziffern. Es ist das Schönste, was ich kenne: das Leben herauszulesen aus den Menschen.“ Man könnte auch sagen: die Schönheit herauszulesen aus den Menschen. Dazu meint Harald Ihmig: „Wohltätigkeit und Aufopferung tun es nicht, hier muss sich ein Spürsinn ausbilden, ein Blick für eine andersartige Schönheit, nicht die marktmäßig standardisierte, in einem Augenblick, einem Lächeln oder unter Tränen. Eine Schönheit, die “den, der sie sieht, für diesen Menschen gewinnt und ihn aus der Mühsamkeit und Geschäftigkeit erlöst, in der sich Fürsorge so leicht verfängt.“[8]. Die christliche Liebe zu den Menschen als Mängelwesen aber tut es allein auch nicht, sie braucht professionelle Instrumente, die Kunstform des Fallverstehens in der Begegnung, die eingeübt werden muss, um mit den Paradoxien professionellen Handelns produktiv umzugehen. Den Dokumentsinn der Äußerungen von Menschen in schwierigen Lebenssituationen so zu verstehen, dass meine Handlungen als Sozialarbeiter sie hilfreich unterstützen und doch die Biographie des Klienten, die Autonomie ihrer Lebenswelt geachtet wird, ist auch eine große Kunst. Die Paradoxien auszuhalten, nicht zu schnell intervenieren und nicht zulange zuzuwarten, langsam verstehend ohne zu typisieren. Durch genaue und behutsame Fallanalysen menschlicher Leidenssituationen kann es gelingen, auch dies in einer Spiralbewegung wie in der Geschichte der Kunst, in wiederholten Lern- und Annäherungsschritten, in denen Neues nah beim Alten ist. Es hat zu tun mit dem, was Kleist in seiner Schrift Über das Marionettentheater als die Wiederherstellung der natürlichen Grazie bezeichnet, dass „wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, die Grazie sich wieder einfindet“, die nur bei Gott und dem Gliedermann vorhanden ist. „Müssten wir mithin wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?“, fragt der Dialogpartner in Kleists Essay. Dieses Essen vom Baum der praktischen Erkenntnis sind hier bei uns die Kasuistik- und Praxisberatungsseminare. Sie sollen die verloren gegangene Natürlichkeit unterstützender Beziehungen auf professionelle Weise wiederherstellen. Das geschieht durch die dokumentarische Fallanalyse, die den Dokumentsinn der Äußerungen des Klienten herausarbeitet.

So gibt es im Sozialen und in der Sozialarbeit viel Schönes, das mit genauer Wahrnehmung, mit einer sozialen Ästhetik zu tun hat. Dass diese Wahrnehmung Soziales in bessere Projekte umsetzt, die der Vorschein einer guten Gesellschaft sind, einer sozialen Demokratie, die diesen Namen wirklich verdient und die allemal nach dem Motto Blochs vorgehen müsste: keine Demokratie ohne Sozialismus, kein Sozialismus ohne Demokratie. Diese soziale Zivilgesellschaft, der es gelingt, Barmherzigkeit mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden, steht immer noch aus. Aber soziale Arbeit nimmt in ihren neuen Projekten diese gute Gesellschaft vorweg. Wenn ausstiegswillige Prostituierte in der Textilwerkstatt St. Pauli erste Schritte in eine neue berufliche Welt gehen, 50 waren es in den letzten Jahren, in der alles neu gelernt werden muss. Pünktlichkeit, Pausenregelungen, Krankmeldungen. Wir lachen viel und gern, heißt es in einem Bericht der Projektleiterin. Es gab eine Reihe von Festen - Abschiede, Geburtstage und im August eine Hochzeit. Das Hochzeitskleid hat Karin sich selbst genäht - im Rahmen der internen Qualifizierung, in der jede Frau eigene Kleidungsstücke nähen kann. Auf dass das Soziale schön werde. Ein gutes Beispiel dafür ist auch die Theatergruppe Klabauter der Behindertenarbeit des Rauhen Hauses, in der Menschen mit originellen Verhaltensweisen eigene Theaterstücke, aber auch Shakespears Sturm spielen und das großzügig als Arbeitsmaßnahme angerechnet bekommen, dank der Freigiebigkeit des Rauhen Hauses einen eigenen großen Probenraum haben. Großzügigkeit ist eine Voraussetzung für die Schönheit des Sozialen!

Und die allerletzte, im theologischen Sinn eschatologische Bemerkung: Von der Ästhetik des Widerstands über die des Eingedenkens zu einer Ästhetik der Wiederbringung - weil es in diesem Leben nicht aufgeht, weil es so viel sinnloses Leiden gibt, deswegen die religiöse Sehnsucht, dass es bei dem Unrecht nicht bleiben möge, deswegen die Botschaft von der Totenauferstehung( als Bild im bilderkritischen Judentum sogar in den jüdischen Fresken von Dura-Europos am Euphrat), deswegen die Hoffnung, dass die Gemarterten nicht vergessen sind und ihre Tränen in der andern Welt getrocknet werden. Ästhetik der Wiederbringung, das hieße selbst eine Umkehrung der Darstellungen des Jüngsten Gerichts, den Schrei der Verdammten zu hören, die in den Höllenpfuhl geworfen werden, deren Leiden uns mehr zu Herzen geht als die etwas langweilige Seligkeit der Erlösten. So würden sie sich auferstehend verbrüdern, vergeschwistern, die erdgeborenen von den Göttern schrecklich zu Tode gekämpften Giganten des Pergamonfrieses, die Verdammten in Michelangelos Jüngstem Gericht, die auf dem Floß der Medusa elendiglich Krepierten. Ich höre den Einwand - ja in der Kunst, aber auch in der Wirklichkeit? Ja gerade sie, die sich in Rauch auflösten und ihre Wohnung in den Lüften haben, die in Massengräbern der Vernichtung Verwesenden, die in den Terroranschlägen Zerrissenen, die im Einsturz der Türme zu Staub Zermahlenen - muss es für sie nicht eine Wiederbringung geben! Wie können wir denn weiterleben, wenn wir diese verwegene Hoffnung nicht hätten!

Anmerkungen

[1]    Unveröffentlichter Vortrag in der Impulse-Vortragsreihe der Ev Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie, Hamburg im Sommersemester 2004

[2]    Ich zitiere den dreibändigen Roman Die Ästhetik des Widerstands nach der Ausgabe, die 1988 im Suhrkamp- Verlag Frankfurt herausgekommen ist.

[3]   Cruel und tender, Museum Ludwig Köln, 2004

[4]   J.W. Goethe, Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2.Buch in: Hamburger Ausgabe Bd VIII, 302

[5]    K.Brüchmann/ S.Behrendt, Alltag am Rande der Gesellschaft. Eine empirische Untersuchung zum Leben wohnungsloser Menschen. Eine fotografische Dokumentation, Diplomarbeit der Ev. Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie, Hamburg 2006

[6]   H. Rauterberg, Aktionisten der Nächstenliebe in: DIE ZEIT, Nr.19, 2004

[7]   Es gibt einen zweiten Einwand gegen das Schöne, der mit dem Satz Adornos zusammenhängt, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Bloß schöne Kunst entspricht nicht dem Grauen des Weltzustands, das ist bereits lange vor Auschwitz ein Einwand gegen das schöne Gedicht gewesen. Heinrich Heine schrieb im Vorwort zu der neuen Ausgabe des Buchs der Lieder 1837, es scheine ihm, als „sei in schönen Versen all zuviel gelogen worden.“ Doch wirklich große Kunst und ihre Schönheit beruht auf genauer Wahrnehmung des Leidens und der Entfremdung. Sie versöhnt nicht mit schlechter Wirklichkeit, sondern bringt die Hoffnung auf ihre Überwindung zur Sprache, setzt den Ermordeten ein Gedächtnis. So zeugen gerade die Gedichte Paul Celans und Nelly Sachs von der Fähigkeit, vom Grauen des Leidens her fast Unbenennbares dennoch im Gedicht auszusagen. Ein Geschehen in Worte zu fassen, vor dem jede Theodizee versagt, das nur noch die Auskunft erlaubt, dass Gott tot ist oder schweigt, kommt fast einem neuerlichen Gottesbeweis aus der Sprache gleich, ohne es sein zu wollen. Gott wohnt auf der Sprache von Klage, Lob und Dank, wie Jahwe auf den Lobpreisungen Israels wohnt, wie es in Ps 22 heißt.

[8] H. Ihmig, Wertschätzung in der Marktgesellschaft in: Benedict, Wenn die Posaune einen undeutlichen Ton gibt, 45

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/63/hjb02.htm
© Hans Jürgen Benedict, 2010