Paradigmen theologischen Denkens II


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„Ich will euch anerkennen bis ins Alter“

100 Alte als Altarbild und die Sakralität der Person im Pro und Contra

Hans-Jürgen Benedict

Im November 2012 wurde in einem Gottesdienst eine neue Installation 100 Alte an der Altarwand der Christophoruskirche Berlin–Lichterhagen der gemeindlichen Öffentlichkeit präsentiert. 100 auf Goldgrund gemalte Gesichter von alten Menschen aus dem Alten- und Pflegeheim Köpenick, die die Künstlerin Barbara Gerasch in den Jahren zuvor in unzähligen Porträtsitzungen hergestellt hatte und die eher unbeachtet an den Wänden des Altenheims hingen, wurden zu einer Ikonostase zusammengefügt, die jetzt das steinerne Altarbild der Kreuzigungsszene mit kräftigen leuchtenden Farben bis zu einer Höhe von 4 und Breite von 5 Metern umrahmt. Diese mutige Präsentierung zeitgenössischer Kunst löste in der Gemeinde eine heftige Kontroverse aus – einige Gottesdienstbesucher erklärten, sie könnten, konfrontiert mit diesen Gesichtern, nicht mehr ruhig-andächtig Gottesdienst feiern. Andere waren angetan und herausgefordert, über den Sinn der Installation nachzudenken. In der Eröffnungspredigt begründete Pastor Höner die Anbringung der Bildwand inkarnationstheologisch: „Gott geht bis in die tiefsten Tiefen mit uns mit.“ Ich wurde gebeten, den kunstgeschichtlichen, theologischen, gerontologischen und menschenrechtlichen Aspekt dieser Installation in einem Vortrag auszuleuchten. Die Künstlerin war anwesend.

1. Wie ich vorgehe?

Ich beginne mit einer Reise zu Altarbildern im Mittelalter, gehe dann auf die Erfindung des Bildes, des Porträts im ausgehenden Mittelalter ein (Spiegel der Welt), schildere die Rolle des Porträts in der Reformation und streife den Gedanken der Sakralität der Person, sage etwas zu der Spannung zwischen dem Leidensbild Jesu und den 100 Alten, gehe auf die Gattung moderne Bilderwand ein, komme dann zu 100 Alte und zur heutigen Alten- und Demenzproblematik, schließlich auf die Frage des Totengedenkens, deren ungewollte Vorwegnahme ja die Bilderwand 100 Alte ist, auf die ich zwischendrin immer wieder eingehe. Und ganz zum Schluss auch auf die Frage des ewigen Lebens. Ein langer Weg, bitte folgen sie mir geduldig.

2. Altar-und Tafelbilder – eine Reise ins Mittelalter

100 Seniorenköpfe aus dem Altersheim Köpenick gemalt auf Goldgrund – die Anspielung ist deutlich. Auf Goldgrund wurden im Mittelalter Gottvater, Gott der Sohn, die Jungfrau und Gottesmutter Maria, die Propheten, Apostel und Heiligen gemalt. Der Goldgrund stellte die Heiligkeit und Transzendenz der dargestellten Personen und Szenen ins rechte Himmels-Licht. Später in der Renaissance wurde der Goldgrund der Heilsgeschichte durch ideale Landschaften abgelöst. „Goldgrund und Himmelslicht“ hieß eine schöne Ausstellung über die mittelalterliche Kunst in Hamburg, die so hervorragende Meisterwerke wie den Hochaltar von St. Petri des Bertram von Minden und den Thomas-Altar von Meister Francke hervorgebracht hat, Werke, die im 19. Jahrhundert nicht mehr viel galten, verkauft wurden und deswegen heute nicht mehr in den ursprünglichen Kirchen, sondern in der Hamburger Kunsthalle zu bewundern sind.

An dem Petri-Altar genauso wie an dem ähnlich komponierten großen Altar der 1960 gesprengten Kirche St. Marien in Wismar (jetzt in St. Nikolai), wo ich letzte Woche war, kann man viel über die Funktion christlicher Kunst und Malerei lernen. Vor allem aber in der sakralen Abteilung im Lübecker St. Annen-Museum, einem ehemaligen Kloster. Es ist die größte und bedeutendste Sammlung von gotischen Schnitzaltären in Deutschland (s. dazu B.Heise/H.Vogeler, Die Altäre des St. Annen-Museums, Lübeck 2008). Dort war ich letzten Sonntag und geradezu überwältigt von der Vielfalt der ausgestellten Altäre, die fast alle aus Lübecker Kirchen aus der Zeit vor der Reformation stammen.

Der Passionsaltar des Brügger Meisters Hans Memling, von der europäisch vernetzten Lübecker Familie Greverade bestellt, ist dabei der Höhepunkt dieser eindrucksvollen Sammlung. Wie der Maler den Blick des Betrachters links von der Gethsemane–Szene über die Gefangennahme und Leidensstationen Christi in Jerusalem bis zur volkreichen Kreuzigung in der Mitte, bei der auch einige Porträts zu erkennen sind, die nicht ins Typenpersonal von Kreuzigungsszenen passen und dann von unten rechts über Grablegung, Auferstehung und Erscheinungen Christi vor den Jüngern bis zur Himmelfahrt links oben führt, das ist schlicht großartig, wobei die Schönheit der Figuren auf diesem Altar den Vorrang vor der der Darstellung des Leidens hat.

Was man vor allem lernen kann – viele Altäre haben einen Sitz im Leben der Stifter. Es sind reiche Privatleute, aber vor allem Bruderschaften, die ihren Schutzheiligen und Nothelfern Altäre stifteten, so der Maria-Magdalenen Altar der Schneider mit der ganz in Goldhaar eingehüllten und von Engeln nach oben geführten Büßerin, die so in der Wüste ihre Speise empfängt, die Maler und Glaser mit ihrem Lukasaltar, auf dem Lukas Maria ohne Staffelei malt, weil er ihr Bild verinnerlicht hat, die Brauerknechte mit ihrem Laurentiusaltar, dem Diakon, der sagte, die Armen sind der Schatz der Kirche, der Altar der Schonenfahrer, die zum nautischen Wissen religiösen Beistand für ihre Reisen brauchten, der Gertrudenaltar der Verlehnten, sprich Hilfskräfte, der reitenden Diener des Rats mit ihrem Georgsaltar; der Fronleichnamsaltar der Leichnamsbruderschaft, die Altäre der Beginen, also karitativ tätiger Frauen, die in Beginenhäusern lebten, der Hospitäler ... Es waren Altäre, die in Seitenkapellen standen. Man erhält über die Altäre der sozialen Gruppen und Berufe eine kleine Sozialkunde des Spätmittelalters.

Und auf diese Weise auch einen Bezug zu der Ausstellung 100 Alte, wie wenn das Bild ein Auftragswerk des Altenheims in Köpenick wäre - ein Bild einer Altengenossenschaft, nur der zuständige Heilige fehlt, weil wir ja Protestanten sind, aber man könnte ja ein paar Senioren des Alten Testaments zwischen die heutigen Alten mischen – Methusalem (Metuschalach) zum Beispiel, der den Altersrekord mit 969 Jahren hält, Henoch, der schon im zarten Alter von 365 Jahren wegen seiner Frömmigkeit zu Gott entrückt wurde, Lamech, der Vater Noahs, der nur schlappe 777 Jahre alt wurde. Das war vor der Sintflut. Später wurde das Alter in der Bibel realistisch korrigiert – „unser Leben währte 70 Jahre und wenn‘s hoch kommt so sind 80 Jahre“, heißt es im 90. Psalm. Heute ist es wieder um 10 Jahre nach oben zu korrigieren. Oder man könnte es um den alten Simeon aus dem Lukasevangelium gruppieren, der in den Ruf ausbricht: „Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden sterben, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ (Aber sagen das diese Senioren in Köpenick? Vielleicht zu ihren Enkeln?!) Immer ist auf solchen Altären der Bezug des dargestellten Schutzheiligen zu den Auftraggebern und Stiftern erkennbar, die als kleine Figuren links oder rechts im Vordergrund der dargestellten Szenen zu erkennen sind. Beliebt ist vor allem die Darstellung der heiligen Sippe, also die Mutter Mariens, die heilige Anna mit ihren drei Töchtern aus drei verschiedenen Ehen – die Jungfrau mit Kind, Maria Kleophas und Maria Salome. Hier wird mit den Männern mehr im Hintergrund, den spielenden Kindern im Vordergrund familiale Solidarität gezeigt. Also ein irdisch-weltliches Anliegen ist oft der Impuls, sich des Schutzes der Heiligen und Nothelfer zu versichern, indem man ihre Geschichte kunstvoll und prächtig erzählen lässt. Und indem man durch bildliche Hinweise die soziale Gruppe oder die Stifterpersonen auf dem Altar in Erscheinung treten lässt.

Heute sind uns diese Geschichten fern gerückt, wir brauchen nicht mehr den Beistand der Heiligen oder das Modell der Heiligen Familie bzw. der heiligen Sippe, um uns in unseren Familienkonstellationen besser zu verstehen oder um uns sozial in Bruder-, Geschwisterschaften abzusichern (oder doch, denn die Kinder schieben die Eltern oft in Altersheime ab, bis in die Slowakei oder wie ich kürzlich las, auf die Philippinen, wo die Pflege am kostengünstigsten ist, egal, ob es da soziale Kontakte gibt oder nicht).

Für die Absicherung ist heute der Sozialstaat zuständig, die Berufsgenossenschaften und die Krankenkassen, die Sozial- und Krankenversicherung, die Renten-, die Pflegeversicherung. Gerade in einer alternden Gesellschaft sind die Sicherungssysteme wichtig. Die Renten scheinen sicher zu sein und sind doch für viele zu gering, Altersarmut nimmt zu. Vor allem aber die Demenz. Bücher und Filme über dieses Thema sind in. Das bezaubernde alte Paar in Hanekes Liebe hat keine Religion mehr außer die Musik, und in seiner Hilflosigkeit erdrosselt der Ehemann die dement gewordenen Frau, als sie ihn nicht mehr erkennt und verlässt die verriegelte Wohnung. Ähnlich endet der Film Auslöschung, der kürzlich im Fernsehen gezeigt wurde, mit der von ihm selbst vorgeplanten Euthanasie des Ehemanns durch die Frau. Wenn du mich nicht mehr erkennst, bist du so gut wie tot. Merkwürdig-bedenklich, dass das in zwei Filmen als eine Lösung angeboten wird.

Noch mal zurück zu den Altären: Die mittelterliche Altar-Malerei ist die Literatur der Ungebildeten, ist biblia pauperum, die Bibel der Armen, die nicht lesen können, eine stumme Predigt. Sie erzählt die Heilsgeschichte von der Schöpfung bis zur Erlösung und Vollendung, die der Betrachter verstehen und in die er sich einordnen soll. Und sie stellt die Gottesdienstbesucher in die Gemeinschaft der Heiligen, die vor uns da waren und vorbildlich leidend ihren Glauben bezeugten. Vor allem in den frühen Zeiten, wo zur Ausbreitung und zum Erhalt des Christentums diese Zeugenschaft notwendig war, in unseren Breiten heute nicht mehr, wir sind staatskirchenrechtlich abgesichert, auch wenn es bröckelt, wie der Streit um den RU in Berlin zeigte. Aber an anderen Orten der Welt immer noch und vor dreißig Jahren auch hier in der ehemaligen DDR, trotz Kirche im Sozialismus.

Gerade die großen Altäre von Hamburg und Wismar mit ihrem ausladenden Heiligenprogramm zeigen diese Zeugenschaft. An hohen Festtagen erblickte man auf Meister Bertrams Petri-Altar 44 Figuren im Hauptteil und 12 auf der Predella, Propheten, Apostel, Heilige, Gelehrte, fromme Frauen und Märtyrerinnen. Das war die Schar der Zeugen, die den frommen Betrachter in ihre Gemeinschaft stellten. Er konnte sie erkennen an ihren Symbolen (heute kaum noch, vergessenes und auch nicht mehr nötiges Wissen). 56 Figuren und in der Mitte die Kreuzigungsszene mit dem Heiland und Maria und Johannes auf Golgatha. Nun, diese Mitte fehlt in dem Bild 100 Alte, und das haben Gottesdienstbesucher und Gemeindemitglieder ja auch kritisch angemerkt: aber diese Mitte ist ja auch da durch die Kreuzigungsszene im Altarbild. Man muss eben beide aufeinander beziehen! Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die Bilderwand wechselt, dass auf ihr demnächst Kinder, Täuflinge, junge Menschen, Paare, Einwanderer, verschiedenste Berufsgruppen gezeigt werden. Vorstellbar auch, dass die Kita ihre Wand bekommt, die Konfirmanden, die Frauengruppe, der Kirchenvorstand, der Chor. Menschenbilder künstlerisch verdichtet, wie das in manchen Gemeinden auf transportablen Fotowänden bereits geschieht. Oder dass die Bildwand zu einem Flügelaltar wird, der aufgeklappt, eine abstrakte Farbkomposition zeigt oder eine aktuell-fotografische Verdichtung der Heilsgeschichte.

Altar-Bilder haben also zunächst einen didaktischen Zweck, sie haben weiter eine spirituelle Aufgabe - sie sollen die Gläubigen zur Gottesliebe entzünden, zum Vertrauen in den auch im Sterben haltenden Gott bewegen, deswegen die realistischen Bilder des sterbenden und des toten Christus, die uns heute eher abschrecken. Altarbilder haben schließlich auch einen repräsentativ-kultischen Wert – in der Abbildung Christi ist mehr als Menschennatur, ist auch seine Göttlichkeit zu erkennen - so jedenfalls in der orthodoxen Ikone, die das Göttliche durchscheinen lässt, so in den echten Bildern Christi (vera icon - das Schweißtuch der Veronika mit dem Gesichtsabdruck Christi), so auch in der geweihten Hostie oder im Westen in der Bibelbuchmalerei und in den Reliquien Christi(deswegen so viele Teile vom Kreuz) und der Heiligen. Das ist uns fern, aber bevor ich diese Reise ins Mittelalter abbreche, noch eine Entdeckung.

3. Bilder als Spiegel der Welt

Schon in dem Jahrhundert vor der Reformation kündigt sich in der niederländischen Malerei eine neue Entwicklung an – Malerei nicht mehr als religiöser Kult, sondern als Spiegel einer oft glanzvollen Welt.

Man denke nur an Jan von Eycks Rolin Madonna (Pariser Louvre): Zum einen ist es der Blick des machtbewussten Stifters (immerhin Kanzler von Burgund), der nach innen geht, die Jungfrau mit dem Kind nicht direkt anschaut. Dieses segnet den Kanzler und lädt ihn so dazu ein ,die Welt zu betrachten, die im Blick durch eine offene Säulenhalle vor dem Betrachter ausgebreitet daliegt - Fluss, Stadt, eine Brücke voll von Menschen, bewaldete Hügel, in der Ferne ein Gebirge. Zwei kleine Zuschauer richten von den Zinnen des Vorgartens aus wie wir ihren Blick in diese schöne zivilisierte Welt, zwei Pfauen und zwei Elstern sind zu erkennen, Blumen in einem Gartenstück vor der Balustrade – ein Traum von einem Bild. Das Gemälde ist nicht mehr nur Darstellung der Heilsgeschichte, sondern „Spiegel der Welt“ (so der Titel des Buchs von Hans Belting, München 2010, auf das ich mich im folgenden beziehe), wirkt fast wie eine Vorwegnahme des Satzes von Gottfried Keller: „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält von dem goldnen Überfluss der Welt“. Oder von Goethes Türmer in Faust II, der in den Ruf ausbricht: „ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn, es sei wie es wolle, es war doch so schön.“

Das Bild 100 Alte steht in der Tradition des Porträts, wie es in den Niederlanden von Rogier von der Weyden und Jan van Eyck erfunden wurde. Etwa in dem berühmten Hochzeitsbild der Arnolfinis, das im National Museum in London hängt. Das Bild bekräftigt den Rechtsakt der Eheschließung, denn an der Wand ist zu lesen: Jan von Eyck ist hier gewesen. Zudem spiegelt sich der Akt noch mal in einem Spiegel. Das könnte auch in Geraschs Bildwand stehen: Barbara Gerasch ist hier gewesen. Sie verbürgt, dass diese Menschen existiert haben. In dem Porträt des Kardinal Albergati ist der Hintergrund schwarz, nicht mehr golden. Dafür aber können wir ihn als eine Person in ihrer Einmaligkeit erkennen. Auch dort ,wo biblische Geschichten gezeigt werden, treten doch die Menschen in den Vordergrund, wie bei Hugo van der Goes berühmter Anbetung der Hirten, das in der Berliner Gemäldegalerie zu bewundern ist. Die Weihnachtsgeschichte ist gemalt wie eine Bühne, zu der von zwei Figuren(Jesaja und Habakuk) der Vorhang aufgezogen wird und gleichzeitig die Hirten wie Schauspieler in das Geschehen eintreten – aufgeregt, erwartungsvoll zur Krippe hineilend. Zweihundert Jahre später heißt es bei Shakespeare, die Welt ist eine Bühne, und wir sind die Akteure darin. Und dann werden die Lebensalter beschrieben – als Kleinkind, Jüngling, Ehemann, Erfolgsmensch und als Greis –ohne Haare, ohne Zähne, ohne alles.

In der Paele–Madonna van Eycks kniet der Stifter, der alte Domherr, etwas mühselig vor der Madonna mit Kind, und man fragt, wie er wohl wieder hoch kommt. Seine Brille hat er abgenommen, denn er begreift das Geheimnis der Menschwerdung auch so, sein Gesicht ist ernst, aber er ist ein ganzer Mensch in seiner Hinfälligkeit und in seiner Würde. Und das Ganze in einem eher dunklen Rahmen mit zwei Heiligen und der Madonna in kostbaren Gewändern und schönem Interieur. Die Kunst schafft eine gelungene fiktive Welt. Das ist der Fortschritt, den die Kunst bei ihrer Befreiung vom Kult macht, dem sie zwar noch dient, aber zugleich überwindet - sie wird zum Spiegel der Welt. Welthaltigkeit, die die Inkarnation Christi ernst nimmt, der Nächste ist das der mündigen Welt Transzendente und die Zuwendung zu ihm in der Nachfolge Jesu Glaubensakt, sagt Bonhoeffer.

4. Das Abbild und der unvergängliche Geist
– von den Luther Porträts zur Sakralität der Person

Der Bilderkult muss uns als Protestanten eigentlich nicht mehr interessieren, denn er wurde durch die Reformation im Zusammenhang der Medienrevolution des Buchdrucks vom Kult des Wortes abgelöst. Das gedruckte Wort war dabei, dem Bild den Rang abzulaufen. Der Bildersturm war vor allem ein Kampf gegen die herrschenden kirchlichen Machtstrukturen. Das Christen – und Priestertum aller Gläubigen konnte in der Welt tätig sein, nicht länger mehr nur in sakralen Räumen. Mit der Abschaffung der Heilsfunktion der Bilder schwindet auch die Bedeutung des sakralen Raumes. Die sog. Schwärmer zerstörten sie in einem Bildersturm, die Reformierten und Calvinisten schafften sie ab, Luther hielt die Bilder hingegen für nützlich, wenn man sie nicht verehrt. Aus dem Kult wird Kunst. Kunst gibt es erst seit der Relativierung des Sakralen und erbt seine Aura (s. Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit).

Gleichzeitig wird das weltliche Porträt zu einem Hauptgegenstand der Kunst. Herrscher werden porträtiert, dann aber auch die Heroen der Reformation. Man denke an die Luther-Porträts von Cranach. Oft mit der Inschrift: das sei sein sterbliches Bild (effigies), das ewige Bild (imago) seines Geistes könne nur er selber ausdrücken. Das erinnert zumindest an die menschliche und göttliche Natur Christi. In einem Holzschnitt von Hans Baldung Grien senkt sich die Taube des heiligen Geistes auf das Gesicht Luthers herab, das in einen Heiligenschein getaucht ist. Ja, unser Reformator (und auch Frau Kässmanns Foto als Luther-Botschafterin) hat inzwischen fast so eine Gloriole. Solche Porträts wurden Mittel reformatorischer Propaganda. Das Lutherbild ist aus Bildern zusammengesetzt – Luther in der Kutte des Augustinermönchs, der Prediger auf der Kanzel der Stadtkirche, als Doktor und Lehrer der Universität Wittenberg, Luther der tapfere Streiter für die Sache der Reformation, der Arbeiter im Weinberg des Herrn…

Und dann denke man vor allem an Dürers beeindruckendes Selbstbildnis in der Münchener Alten Pinakothek. Dürer malt hier ein Bild, das in seiner Schönheit über sich hinaus auf Christus verweist. Der unbeweglich frontale Blick erweckt den Eindruck einer Ikone. Es ist ein absoluter Blick „Der Maler konstruiert sein Gesicht, als ob er es im Spiegel Gottes einfangen wolle. Das Gesicht richtet keinen Blick auf uns sondern zieht den Blick seines Schöpfers auf sich“ (sagt Hans Belting 116). Wenn Dürer sich so malt, drückt er die Würde und den Glanz der Ebenbildlichkeit aus (Die heutigen Ikonen aus Musik, Film, Fernsehen, Kunst und Sport zehren noch immer von dieser Idealisierung. Sie können dabei zu Idolen werden.) Das Bild vor dem Zeitalter der Kunst, heißt es bei Belting, ist Kultbild.

Jetzt aber wird der Mensch ein Menschensohn in höherem Sinne, wie der zuerst beim Propheten Daniel auftauchende Hoheitstitel Jesu lautet, ist als Frau eine Menschentochter Gottes, ist und bleibt, wie misslungen sein Leben auch sein mag, trotzdem das Abbild Gottes. Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit des Menschen verleiht ihm eine Würde, die über seinen Wert und das, was bei ihm gelungen ist oder nicht, über seine Anerkennung, die er von anderen erfährt, hinausreicht. (Die letzte These aus Luthers Heidelberger Disputation lautet: „Die Sünder sind deshalb schön, weil sie geliebt werden. Sie werden nicht deshalb geliebt, weil sie schön sind.“)

Was aber wichtiger ist: wirkliche Menschen geraten in den Fokus der Darstellung. Sie haben eine unantastbare Würde. Hans Joas hat gezeigt, dass es sich bei der Durchsetzung der Menschenrechte um eine Geschichte der Sakralisierung der Person handelt, die zuerst in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 und auch in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 öffentlich proklamiert wurde, ohne den Begriff zu benutzen (in Frankreich gegen den Widerstand der Kirchen, in Amerika unter Beteiligung christlicher Gruppen). Theoretisch-begrifflich wurde die Sakralität der Person von dem französischen Religionssoziologen Durkheim Ende des 19.Jahrhunderts formuliert. Schließlich hat sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 ihren Niederschlag gefunden. Es war ein Prozess, der begleitet war von der Abschaffung der Folter, der Sklaverei, z. T. der Todesstrafe bis hin zur Ächtung des Rassismus und des Krieges. Menschenrechte sind nicht vom Himmel gefallen, nicht eine einmalige Offenbarung bzw. Anerkennung eines universalistischen Prinzips sondern Ergebnis eines langen, verschiedene Kulturen übergreifenden Prozesses der theoretischen Anerkennung von Werten und ihrer praktischen Umsetzung. Den theoretischen Durchbruch erfährt der Gedanke bei Durkheim, und zwar anlässlich der Dreyfuss-Affäre, als einem jüdischen Offizier Geheimnisverrat unterstellt und ihm vornehmlich aus antisemitischen Gründen der Prozess gemacht wurde. Er findet sich auch schon bei Johann Hinrich Wichern, der um 1840 von dem Kind als einem unantastbaren Heiligtum spricht und deswegen eine Pädagogik ohne Prügelstrafe einführt. Bilder gewöhnlicher Menschen in der Kirche zu zeigen, das wäre also eine Anerkennung ihrer Sakralität. Die Sakralität der Person löst die des Raumes ab, im Kirchenasyl zum Schutz bedrängter Flüchtlinge ist sie noch symbolisch präsent.

5. Der Gekreuzigte als Leidensbild, das heutiges Leiden neu sehen lässt

Zumeist hängen in unseren Kirchen alte Jesusbilder, vor allem die des Gekreuzigten. Sicher wäre es sinnvoll, Jesus in unseren Kirchen auch aktuell zu malen. In dem Dorf Borja nahe Saragossa hat kürzlich eine 80jährige Rentnerin, Cecilia Gimenez, die sich über das zerstörte Ecce Homo-Bild (kunstgeschichtlich nicht bedeutsam) in ihrer Kirche ärgerte, selbst zu Pinsel und Farbe gegriffen und das Bild eigenmächtig restauriert.

Das Ergebnis soll ziemlich verunglückt sein, Jesus sehe aus wie ein Igel, spottete eine Zeitung. Ich finde, es sieht eher aus wie eine Frau mit Kopftuch. Jedenfalls wurde die Rentnerin, die einen behinderten Sohn hat, ausgelacht und attackiert. Aber hat sie nicht etwas getan, was in übertragenem Sinn wir alle tun – wir retuschieren an unserem Jesus-Bild herum. Das ist nicht schlimm – Hauptsache, wir lassen uns von ihm noch bewegen. Wir wissen zwar nicht, wie Jesus genau ausgesehen hat. Sicher war Jesus nicht der gutaussehende Mann mit ebenmäßigen Zügen und langem Haar, als der er im 19.Jahrhundert sich in der Bildtypologie der Nazarener durchsetzte, jener sanftbewimperte Heiland, der vor allem Kranke heilte und von den Blumen auf dem Felde predigte. Und auch nicht der edle Jesus ,den Franco Zeffirelli uns in seinem Film uns nahebrachte. Eher der zornige junge Mann in Das 1.Evangelium von Pier Paolo Pasolini. Christus ist der Gott, der als Mensch ins Leiden geht. Jesus ist die Ursprungsikone des Leidens. Nicht von ungefähr sind die intensivsten zeitgenössischen Medienikonen Ikonen des Leidens – der jüdische Junge mit erhobenen Armen im Warschauer Ghetto, das mit Napalm verbrannte vietnamesische Mädchen, der Gefolterte von Abu Ghraib, die Katastrophenopfer der Explosion des Zeppelins in Lakehurst bis zu den 3000 Toten von Nine eleven, deren Leben in einem Augenblick schrecklich und willkürlich ausgelöscht wurde oder den über 1000 Opfern des Zusammensturzes des Fabrikhochhauses in Bangeladesh. In ihrem Leiden und Sterben wird die Transzendenz, deren Ebenbilder wir sind, im Verlust sichtbar. Im Augenblick ihrer Vernichtung scheint ihre gottgewollte Humanität, ihre Sakralität ein letztes Mal auf. Hinter ihnen steht Christus als Leidensfigur , die „keine Gestalt noch Schöne“ hatte, wie es im Gottesknechtslied heißt und die ich in den Leidenden aller Zeiten wiedererkenne, sei es das Foto vom ermordeten Che Guevara, vom napalmverbrannten Mädchen in Vietnam, vom in den Armen seines Vaters sterbenden Jungen im Gaza-Streifen (2009).

Die Bildwand 100 Alte umrankt das Altarrelief mit seiner Kreuzigungsdarstellung. Hier stirbt ein noch junger Mann einen grausamen Gewalt-Tod, wird hingerichtet, betrauert von seiner Mutter und seinem Lieblingsjünger Johannes. Altern ist hingegen ein natürlicher Prozess, das Altwerden mit seiner Hinfälligkeit und seinen Krankheiten gehört zur condition humaine. Der alternde Mensch mag es als Unrecht erfahren, das Alter ein ‚Massaker‘ nennen (Philip Roth) oder selbstironisch sagen: „Altern ist nichts für Feiglinge“, er mag die Hinfälligkeit beklagen oder sie stoisch annehmen - es besteht eine Spannung zwischen der Kreuzigungsszene und den Altenporträts – gewaltsamer Tod dort, natürliche Hinfälligkeit mit dem Tod am Ende hier. Das ist vielleicht auch der Grund dafür, dass einige Gottesdienstbesucher sich an dem neuen Altarbild stören. Wie aber bereits ausgeführt: „Normal“ alternde Menschen mit der Kreuzigungsszene in Verbindung zu bringen, kann man auch als Ausdruck dafür nehmen, dass jeder Person eine Sakralität eignet, sie von Gott anerkannt ist und sie deswegen auch unter das Licht der Kreuzigung gestellt werden kann..

Sicher - wir sollten auch lebensfrohe Bilder mit Christus in Verbindung bringen, nicht nur den Leidenden zeigen sondern auch den das Leben in seiner Fülle Feiernden. Deswegen eine kleine aufmunternde Geschichte: In einer Gemeinde wird ein Wettbewerb ausgeschrieben: das schönste Jesusbild soll prämiert werden. Viele Bilder werden eingereicht. Prämiert wird schließlich eines, das einen lachenden behinderten Jungen zeigt.

6. Die moderne Bilderwand

Im Museum-Ludwig in Köln ist im Hallenbereich eine riesige Porträt-Installation von Gerhard Richter zu sehen – mit berühmten Künstlern, Musikern, Schriftstellern, Malern; Wissenschaftlern. Ihre Porträts, die auf Schwarz-Weiß-Fotos beruhen, wurden durch Richter verfremdet. Sie sind sozusagen leicht fließende künstlerische Passfotos. Man erkennt Mahler, Strauß, Hindemith, Thomas Mann, Oscar Wilde, Sibelius, Stefan Zweig, Freud, Einstein und die vielen anderen - sie wirken bekannt und doch fremd. Ähnlich hat Frau Gerasch gearbeitet.

In der Apostelkirche in Hamburg-Eimsbüttel, die vor dreißig Jahren teilweise abbrannte und neu als Gemeindehaus-Kirche mit Feierraum gestaltet wurde, wurde in den drei Chorfenstern ein Bildprogramm mit christlichen Zeugen der jüngsten Vergangenheit realisiert – in der Form eines Filmstreifens mit laufenden Bild-Einstellungen und perforiertem Rand sind Schwarz-weiß Fotos von jeweils vier Zeugen abgebildet – links die Märtyrer Sophie Scholl, Hermann Stöhr, Martin Luther King, Bonhoeffer, in der Mitte die Philosophin Simone Weil, der Bildhauer und Dramatiker Ernst Barlach, der Theologe, Organist und Arzt Albert Schweitzer und die Gefangenenfürsorgerin Maria Wrede, rechts neben Bischof Romero, zwei diakonisch-politisch aktive Frauen (Amalie Sieveking, Dorothy Day) und die Theologin Anna Paulsen. Dies Bildprogramm will einerseits die diakonische Tradition benennen, in der die Apostelkirche ihre soziale Arbeit versteht, andererseits wichtige christliche Zeugen des 20.Jahrhunderts benennen, die für ihren Glauben gestorben sind, drittens Menschen würdigen, die sich sozial, künstlerisch und denkerisch engagiert haben.

Dies ist eine Möglichkeit, die alte Tradition der Heiligenverehrung aktuell zu realisieren. Diese Christen der jüngsten Vergangenheit sind uns viel näher als die alten Vorbilder. Wir haben von ihnen gehört, als sie noch lebten, ihre Schriften haben uns inspiriert, Filme über ihr Leben uns begeistert. Manche, die wir nicht kannten, entdecken wir so zum ersten Mal. Mit dem Filmstreifen als Grundzug wird ein modernes Medium, das wirkungskräftigste überhaupt, der Film als Gestaltungsmerkmal aufgenommen. So kann die Bilderfenster, aber auch die Bilderwand, die Ikonostase, ein Mittel heutiger Vergegenwärtigung werden .In der früheren Gnadenkirche in Hamburg, jetzt russisch-orthodoxe Kirche des heiligen Johannes zu Kronstadt, gibt es eine Bilderwand, die die Heilsgeschichte und die des Kirchenpatrons erzählt, die aber auch mit schöner Einfühlung dem Gründer des Bistums Hamburg, Bischof Ansgar und der heiligen Elisabeth von Thüringen jeweils ein Bild einräumt.

7. Altenprobleme, Probleme des Alterns und 100 Alte

Wenn Gesichter ganz normaler Menschen, keine Heiligen und Märtyrer bzw. kirchliche Berühmtheiten in der Kirche im Altarraum dargestellt werden, findet eine bedeutsame Veränderung des Bildgebrauchs statt. Nicht nur Christus, die Heiligen und Märtyrer allein sind heilig sondern jeder Person eignet eine Sakralität. Dazu muss man wissen, dass die Kirchen bis ins 20.Jahrhundert die Freiheitsrechte aus antiliberalen Gründen abgelehnt hätten und erst nach den Schrecken des Faschismus zur Anerkennung unabdingbarer Menschenrechte übergingen. Das positive Verständnis der menschlichen Person in den Evangelien und der personalistische Gottesbegriff waren überschattet von der Erbsündenlehre, die den natürlichen Menschen negativ sah und ihm als solchen keine unabdingbaren Menschenrechte zuerkennen wollte. In einem Text der EKD „Perspektiven für das Reformationsjubiläum 2017“ heißt es tatsächlich: „Im Glauben wird der Mensch zu der Person, die von Gott anerkannt und frei ist.“ Also demnach wird nur durch den Glauben an die Erlösung in Jesus Christus der (sündige) Mensch von Gott anerkannter Mensch. Angehörigen anderer Religionen wird damit das Menschsein abgesprochen. Die in Gn 1,26.28 ausgesprochene Gottebenbildlichkeit wird damit geleugnet. Das hatte, wie wir wissen, schreckliche Auswirkungen bis zur Ausrottung der Indianer und des jüdischen Volkes. Man könnte sagen: Mit der Aufstellung der Bilderwand 100 Alte wird Gn 1,26.28 wieder ins Recht gesetzt. Jeder Mensch, ob Christ oder nicht, ist von Gott als Mensch anerkannt.

Zugleich wird aber auch der anonyme Christus aus Mt 25,31ff figurativ realisiert.. Das „ich war krank, gefangen und ihr habt mich besucht“ wird verändert zu: „Ich bin alt und dement gewesen und ihr habt mich besucht.“ Stellvertretend für uns von der Künstlerin Barbara Gerasch. Jedes Bild der 100 Alten enthält eine bei aller Grundähnlichkeit einmalige Geschichte: „Ihr gelebtes Leben ist auf ihrem Gesicht abzulesen – Trauerfurchen und Schmunzelfalten.“ (Infoblatt) Ich war berührt von den Tagebucheintragungen der Künstlerin, die sie während ihrer Arbeit in dem Altersheim machte, auch weil ihre Ängste und Vorurteile gegenüber den Alten, die sie porträtiert, nicht verschweigt. „Mein letztes Modell am heutigen Tag war eine wirkliche Herausforderung. Er war schon stark dement, wusste aber genau, dass er gemalt wird. Sie nennen ihn den alten Knurrhahn. Und in der Tat fing er alle paar Minuten an zu knurren und kam mit seinem Rollstuhl immer näher auf mich bzu. Er war wohl ungeduldig und auch neugierig und ich habe ihn dann behutsam und lächelnd wieder an seinen Platz geschoben. Na ja, irgendwann habe ich dann aufgegeben und versucht das Beste aus dem Bild zu machen.“

Oder die Begegnung mit der an Alzheimer erkrankten Frau, Mutter von 5 Kindern, zu der die Malerin befangen hinging: „Aber es war dann ein ganz schöne Begegnung: Die Frau war erst 76 Jahre alt, sah aber sehr alt aus, von der Krankheit gezeichnet, hatte aber wunderbares glänzendes Haar. Sie hat während der Porträtsitzung verschiedenste Bewegungsabläufe vollzogen, angefangen vom Faden einfädeln, zuschneiden, dann hat sie plötzlich laut ihre Kinder gerufen, dass sie hereinkommen sollen ... dann hat sie wieder ganz versunken in Gedanken dagesessen … ich dachte nur, das ist also das, was in unsrem Geist bleibt, selbst wenn jeglicher Verstand ausgelöscht ist. Die ganz einfachen elementaren Gedanken und Impulse  ...“

Hier kommt, nebenbei bemerkt, das Unverständnis der Normalen gegenüber Demenz zum Ausdruck – in der Abwertung der einfachen Handlungen im Vergleich zur Bewusstheit. Ist das einfache Handeln nicht eine wichtige Form des In der Welt Seins?! Deswegen ist Mal-und Musiktherapie in der Arbeit mit dementen Menschen so wichtig. Bis zum Schluss bleiben Lieder, vor allem Choräle. Haben die Alten zu wenig Aufgaben in unserer Gesellschaft und werden deswegen vermehrt dement? Es ist eine große Aufgabe von Kirche und Gesellschaft, die dementen Alten nicht abzuschieben, sondern im alltäglichen Leben dabei sein zu lassen. Und das ist mehr, als eine Bushaltestelle im Pflegeheim aufzubauen, die Teilhabe am Alltag suggeriert. (s. Aktion Konfetti im Kopf, die in Berlin und Hamburg für ein anderes Verständnis von Demenz warb).

Die Frage der Schuld der Alten wird berührt, wenn in der Diskussion über die Bildwand nach der Beteiligung der dargestellten Alten an dem Unrechtssystem der DDR gefragt wird – waren einige bei der Stasi, als Spitzel tätig. Menschen, die die Kirche argwöhnisch oder feindselig betrachteten, finden sich auf einmal in der Kirche ausgestellt. Die Opfer der Bespitzelung ärgern sich. Aber: Könnte man darin nicht auch eine Ironie Gottes bzw. der List der Vernunft sehen? Die Kirche hat ja irgendwie doch gesiegt und porträtiert ihre ehemaligen Feinde (wenn das stimmt, was ich gelesen habe!) Und außerdem, darauf weist Frau Ladwig im Gemeindebrief hin, ist Jesus zwischen zwei Verbrechern gekreuzigt worden und hat dem einen verheißen, dass er mit ihm im Paradies sein wird. (Es gibt auch die Lehre von der Wiederbringung aller am Ende der Zeiten).

Im Westen müsste man Darstellungen von Alten befragen unter dem Aspekt der Generationengerechtigkeit – meine Generation zumindest hat das Leben genossen mit Auto, Konsum-Luxus und Fernreisen, für manche gut Betuchte ist das Alter eine ewige Kreuzfahrt. Wäre das gerecht, solche Alten auch noch prominent zu porträtieren?!

Zumindest fragen wir uns selber, sofern wir gesellschaftskritisch ansprechbar sind – was hinterlassen wir unseren Kindern und Enkeln – einen Saustall mit irreversibler Erderwärmung, unvorstellbarer Staatsverschuldung und explodierenden Rentensystemen? Sollen wir mehr Verzicht üben? Kirche empfiehlt das ja gerade in Fastenzeiten – weniger ist mehr. Und da ist auch etwas dran, zumindest nachdem man lange Jahre aus dem Vollen gelebt hat. Generationengerechtigkeit ist ein brisantes Thema „Zwischen Alt und Jung scheint es einen Interessensgegensatz zu geben, weil viele Junge angesichts immer jünger wirkender Alter meinen, dass sie für sich nie so viel aus dem System herausholen werden, wie sie heute hineinstecken müssen“ (H. Bude SZ 23.1.13). Müssen wir Alten also ein schlechtes Gewissen haben? Während im Jahr 2008 auf einen Rentner 3,5 Beitragszahler kamen, werden 2030 nur noch 2,3 Erwerbstätige einen Rentner finanzieren. Müssten wir, die wir vier Jahre älter werden als die Generation vor uns, nicht auch vier Jahre länger arbeiten? Aber sind die zwischen 1958 und 1968 Geborenen an ihrer Situation nicht selbst schuld, weil sie im Durchschnitt nur 1,4 Kinder in die Welt setzten? Fragen über Fragen.

Und dann ist da die besondere Situation der Kirche. Kirche ist vor allem Kirche, die sich aus älteren zumeist weiblichen Mitgliedern zusammensetzt. Die Überalterung der Gesellschaft spiegelt sich überdeutlich in der Kirche. Insofern ist die Aufstellung von 100 Alte durchaus konsequent, auch wenn die Dargestellten nicht alle Kirchenmitglieder sind. Im Schicksal der alten Menschen in unserer Gesellschaft werden gesellschaftliche Entwicklungen deutlich.

Zum Beispiel: Die ganz Alten werden zunehmend überflüssig. Sie sind vor allem ein Pflege-Problem. Sie reagieren darauf unter anderem mit vermehrter Demenz. Kein Wissenschaftler hat eine plausible Erklärung für die Zunahme von Alzheimer. Vielleicht erinnern wir uns: unsere Großmütter hatten noch konkrete Aufgaben, und war es nur das Kartoffelschälen und Strümpfe stopfen. Mein Opa arbeitete noch im Garten, mit mir baute er Drachen. Früher standen die Alten in den Dörfern am Gartenzaun und redeten mit den Vorübergehenden. Heute geht keiner mehr vorüber, sondern braust im Auto vorbei. Was mich immer wieder anrührt, ist die Verlorenheit älterer Menschen im Straßenverkehr.

In dem Film Import-Export von Ulrich Seidl wird vor allem das Schicksal einer ukrainischen Kinderkrankenschwester geschildert, die in Österreich zunächst als Haushaltshilfe und dann als Putzfrau in einem Altersheim arbeitet. Dieses Altersheim ist ein reales österreichisches Alters-und Pflegeheim, in dem Seidl mit Erlaubnis der Bewohner die Begegnungen der jungen Frau mit den älteren Heimbewohnern schildert. Obwohl sie nur als Putzfrau tätig ist, schließt sie schnell Kontakt zu den Senioren. Besonders mit einem älteren, nicht unvermögenden Herrn freundet sie sich an. Dieser macht ihr einmal einen Heiratsantrag. Dann könne sie doch in Österreich fest leben und auch ihr kleines Kind aus der Ukraine nachholen. Von der Stationsleitung wird ihr vorgehalten, dass sie als Putzfrau keinen Kontakt zu den Älteren haben sollte, sie überschreite ihre Kompetenzen. Als sie eines Tages ins Heim kommt, ist das Bett des Freundes leer. Sie fragt, was sei los. Man bedeutet ihr, er sei in der Nacht gestorben. Ob sie ihn noch sehen könne. Ja, in einer der Kammern sei die Leiche abgestellt. Sie geht dort hin, schaut sich den Toten lange an, dann kniet sie sich hin und spricht ein Vaterunser. Ich gestehe, dass ich an dieser Stelle weinen musste, hemmungslos weinen, ich wußte nicht, wie mir geschah. War das zu Haus vor dem Fernseher oder im Kino, ich weiß es nicht mehr, weiß nur noch, dass ich weinen musste. Und dann der lange Abspann, in dem auch die Protagonisten des Alten-und Pflegeheims erwähnt werden. Und dabei das zweite ,was mich erschütterte – hinter vielen Namen ein Kreuz. Ein Kreuz hinter den Namen der älteren Menschen, die inzwischen verstorben waren und die ich gerade auf der Leinwand gesehen hatte.

Das Kreuz ist Zeichen des Heilgeschehens. Aber es ist auch Zeichen des Todes, gibt das Jahr des Todes an. Oder dass eine Person verstorben ist. Es geschieht aber auch eine DurchKreu(zi)gung des Lebens selbst durch Schicksalsschläge wie Unfälle und Katastrophen, tödliche oder chronische Krankheiten, Depression, Arbeitslosigkeit, Verschuldung, Ehe- und Familienprobleme; Scheidungen - unsere Kreuze haben viele Namen.

8. Lebende, die bald tot sind – Eingedenken und Erinnerung

100 Alte, das sind Porträts von Lebenden, die aber absehbar schon bald Tote sein werden. Insofern ist das Bild der Lebenden so etwas wie vorweggenommenes Totengedenken, von Menschen, die bald schon tot und vergessen sein werden. Der 1944 in Paris geborene Christian Boltanski realisiert dies paradox eindrücklich in der Installation Tote Schweizer, die in der Hamburger Galerie der Gegenwart zu sehen ist. In einem Gang zwischen hochaufgestapelten Blechdosen ist eine Unzahl anonymer schwarzweißer Porträtfotografien aufgehängt. Die Anordnung lässt an ein Archiv oder Depot denken. Die mit den Fotografien etikettierten Blechdosen werden so unversehens zu einem kostbar beleuchteten Reliquienbehältnis. Die Toten auf den Fotos, die er Traueranzeigen einer Schweizer Zeitung entnommen hat, lächeln, sie zeigen sich von ihrer besten Seite. Das ist typisch für Erinnerungsfotos, die von den Hinterbliebenen so gewünscht werden. Es sind Tote, die in Boltanskis Augen als Ersatztote herhalten müssen. Der Kommentar, den er anbietet, um den Einsatz dieses Bildmaterials zu begründen, gibt Einblick in den bitteren eschatologischen Humor, der hinter seinen Arbeiten steckt: „Zuvor zeigten meine Werke tote Juden, aber Juden und tot stehen sich zu nahe. Es gibt nichts Normaleres als einen Schweizer. Es gibt keinen Grund, warum ein Schweizer nicht sterben sollte, und so sind diese ganzen Toten nicht mehr erschreckend. Sie sind wir.“ Die Serie mit den toten Schweizern unterstreicht auf ironische Weise die allgemeine Hoffnungslosigkeit und die Austauschbarkeit von Gesichtern, von Biographien. Einerseits illustriert Boltanski so die sichtbare Abschaffung individuellen Glücks und Unglücks. Aber indem er diese unbekannten Menschen in sein Totenreich aufnimmt, arbeitet er doch gegen die Statistik des Todes an. Ihr nichtfassbares Grauen wird durch die Fotos, durch die Inventare von Kleinobjekten, die er anlegt, für einen Moment in die Vorstellbarkeit geholt. Indem er das Austauschbare zeigt, rettet er es vor der endgültigen Vernichtung. Und so kooperiert der moderne Künstler unbewusst mit jenem Gottesverständnis, das als sein Wesen Eingedenken bezeichnet.

Ähnlich eingedenkend verfährt der Bestattungsredner Thomas Linde, 54, promovierter Altachtundsechziger, der der Roten Zelle angehörte und einst vor Betrieben Flugblätter verteilte, in Uwe Timms Roman Rot (Ende der 90er Jahre erschienen). Zu Thomas Linde kommen alle, die nicht mehr an Gott glauben oder nicht mehr in der Kirche sind (die Situation in den neuen Bundesländern). Die Aufgabe, die Situation des Abschieds von dem Toten gestalten zu müssen, ohne auf ein Jenseits verweisen zu können, ist für ihn eine immer neue Herausforderung. Angesichts der Sinnlosigkeit des Todes sucht er nach dem Sinn jedes einzelnen Lebens, das da oft erbärmlich zu Ende ging. Im Gespräch mit den Angehörigen spürt er das Unverwechselbare gerade dieses Lebens auf. Und er findet immer etwas, das berichtenswert ist.

Auch wenn Timm die Leute von der Konkurrenz, sprich uns Pastoren meint abwerten zu müssen als Jenseitsvertröster, genau dies habe ich in meiner Zeit als Beerdigungsredner auch versucht, das einem Leben Eigentümliche herauszufinden, davon in der Situation des Abschieds zu erzählen, noch einmal aufleuchten zu lassen, was diesem Leben bei aller Durchschnittlichkeit Sinn gegeben hat, was es in Gottes Augen wertvoll machte. Auch darin, wie es gelebt wurde in der Abhängigkeit von Instanzen, auf die es keinen Einfluss hatte, Elternhaus, Schule, Betrieb, Politik, und doch durch diese kleine Tat, durch das Festhalten an jener Hoffnung Unverwechselbarkeit erhielt. (Im Judentum darf man keinen beerdigen, ohne etwas Gutes über ihn zu sagen. Als nun ein richtiger Menschenfeind beerdigt wurde, über den keiner was Gutes zu sagen wusste, erbarmte sich schließlich einer und sprach: Mohnkügelchen hat er so gern gegessen). Die Beerdigungsansprache als eine Ästhetik des Eingedenkens, des Eigensinns und auch des Widerstands in kleinen Handlungen. Der große Möbelschrank, hinter dem die Familie in der Nazizeit eine Jüdin versteckte. Oder die Geschichte der alten Frau, die nachdem ihr Mann gestorben war, die alten abgewohnten Möbel rausschmiss, sich neu mit IKEA einrichtete und noch zwei Jahre stolz im neuen Ambiente lebte ...

9. Zum Schluss:

Die 100 Alten sind auf Goldgrund gemalt. Dieser Goldgrund steht ikonographisch für den Himmel, für ewiges Leben, für das Sein bei Gott. Ich habe viel vom Tod und vom Eingedenken gesprochen, nicht von Auferstehung und ewigem Leben. Wie kann die biblische Hoffnung bewahrt und ausgesagt werden, dass es am Ende einen neuen Himmel und ein neue Erde geben wird, eine Stätte Gottes bei den Menschen, wo er bei denen wohnen wird, die im Leben gelitten haben? In der Offenbarung des Johannes heißt es: „Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen. Und der Tod wird nicht mehr sein noch Lied noch Geschrei noch Schmerz, denn das Alte ist vergangen.“ Eine wunderbare Trostrede für verfolgte Christen, die am Ende der Bibel steht. Worte, die trösten und eine schlimme Situation aushaltbar machen sollen. Eine verwegene Hoffnungstheologie, keine felsenfeste Dogmatik, diese Rede vom neuen Himmel. Gebunden an ein Weltbild, das über der Himmelskugel eine bessere lichte Welt glaubte, ohne die Leiden der irdischen Welt. Das ist mehr Poesie als Theologie. Denn Dichtung sagt etwas so schön, wie es nicht oder noch nicht ist. Das geschieht auch in der Schlußszene von Tschechows Drama Onkel Vanja, in der Sonja dem gedemütigten Onkel Vanja den Trost des himmlischen Jerusalem zuspricht, fast mit den Worten der Bibel. „Onkel Vanja, wir werden leben … Und wenn unsere Stunde gekommen ist, werden wir ergeben sterben und dort im Jenseits sagen, daß wir gelitten haben, dass wir geweint haben, dass es uns bitter schwer war, und Gott wird sich unser erbarmen … Wie werden ausruhen, wir werden die Engel hören, wir werden den Himmel erblicken, Onkel Vanja.“ Onkel Vanja weint. Ich weiß, dieser Himmelstrost ist illusionär. Und doch bin ich, im Theater sitzend, angerührt von dieser himmlischen Trostrede und kann selbst nur mühsam die Tränen unterdrücken. Manchmal müssen wir das Versprechen des Himmels fast „herbeilügen“. So wie es der alte Pastor in Fontanes Roman Effi Briest tut. Effi, deren Ehebruch entdeckt und die von ihrem Mann verstoßen, von ihrer Tochter getrennt wurde, ist krank in das elterliche Wohnhaus zurückgekehrt und versucht sich zu erholen. Sie macht mit ihrem Konfirmator, Pastor Niemeyer einen Spaziergang. Und kommt an die Schaukel ihrer Mädchenzeit, springt drauf und fliegt durch die Luft. Sich erinnert sich an den Schaukelflug früherer Zeiten und ruft aus: „Ach, wie schön war es, und wie mir die Luft wohltat; mir war als flög ich in den Himmel. Ob ich wohl hinein komme? sagen Sie mir’s alter Freund, sie müssen es wissen. Bitte, bitte.“ Niemeyer nahm ihren Kopf in seine alten Hände und gab ihr einen Kuß auf die Stirn und sagte. „Ja, Effi, du wirst.“ „Ja, Effi, du wirst in den Himmel kommen. Das heißt nichts anderes als: Du wirst bei Gott sein, an den du jetzt schon glaubst. Mehr können wir nicht sagen, aber auch nicht weniger. Und ich frage mich, wie viele der alten Menschen, die hier porträtiert wurden, eine solche Hoffnung haben oder hatten – ich werde bei Gott „im Himmel“ sein, an den ich jetzt schon glaube. Der Goldgrund jedenfalls hält es für möglich, dass jeder auch dort, in der andern Welt angenommen ist.

Ich bin am Ende meiner Reise angelangt – von den Altären der Hansestädte bis zur Bilderwand in Lichterhagen. Von der Präsenz der toten Heiligen, von denen viel erwartet wird, zu den Bilder der lebenden Alten, die bald tot und vergessen sein werden. Und deren Einmaligkeit, Sakralität doch in den Porträts festgehalten wird und für eine gewisse Zeit an einem besonderen Ort, im Altarraum einer Kirche, aufleuchten darf. Ich hoffe, ich habe Ihnen einige Zusammenhänge und Traditionslinien deutlicher machen können. Was mit der Bilderwand wird, das müssen Sie entscheiden. Ich finde die Idee, auf diese Weise dem Gedanken von der Sakralität der Person künstlerisch in einer Kirche Ausdruck zu geben, mutig und anregend. Danke für ihre Geduld beim Zuhören.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/84/hjb19.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2013