Freiheit oder Tod

Eine Rezension

Hans-Jürgen Benedict

Sophie Wahnich, Freiheit oder Tod. Über Terror und Terrorismus (Mit einem Vorwort von Slavoj Zizek und einem Nachwort der Autorin anlässlich der Anschläge in Paris), Berlin 2016

Es hat sich eingebürgert, die Schreckensherrschaft der französischen Revolution als ihre extremistische Entgleisung zu betrachten, die mit zu dem schrecklichen Vernichtungsterror der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts geführt hat. Bei den Feiern zu ihrem 200-jährigen Jubiläum wurden 1789 und 1793 auseinandergerissen, der Kampf gegen das Ancien regime von der Erfindung der Republik abgelöst, als müsse sich Frankreich ihrer schämen. In einer Fernsehsendung wollte der Moderator am Schluss sogar von den Zuschauern wissen. „Hätten Sie, die heutigen Zuschauer, entschieden die Königin Marie Antoinette zu töten?“ An dieser merkwürdigen Aktualisierung setzt die Untersuchung der französischen Historikerin S. Wahnich ein, in der sie, kurz gesagt, den Terror als Ausdruck des souveränen demokratischen Willens des Volkes deutet. Sie erinnert an das Argument von Immanuel Kant, der im Streit der Fakultäten sagte, dass diese Revolution trotz allen „Elends und Greueltaten“, die mit ihr verbunden seien, dennoch „in den Gemütern aller Zuschauer eine Teilnehmung dem Wunsche nach (findet), die nahe an Enthusiasm grenzt“ und die deswegen „keine andere Ursache als eine moralische Anlage im Menschen zur Ursache haben kann.“ Im Unterschied zu Kant, so Wahnich, sehen Exegeten wie Agamben in ihrem berechtigten Abscheu vor den Gewaltexzessen der Totalitarismen des 20. Jhdt eine „innerste Solidarität“ zwischen Totalitarismus und Revolution. Zugleich idealisierten sie das heutige demokratische Modell. Oder aber sie machten wie H. Arendt in ihrem Essay „Über die Revolution“ die soziale Frage für die Entgleisung die Revolution von 1789 verantwortlich. Indem sie die soziale Ungleichheit denunzierten, zerstörten die Revolutionäre, so Arendt, die Möglichkeit von Politik, die nicht auf dem Prinzip der Gleichheit, sondern der Freiheit beruhte. Diese Deutungen hält Wahnich für falsch.

Stattdessen fragt sie kalt: Was bringt den Menschen dazu, seinesgleichen aus Gründen eines kulturgestaltenden Erkenntnisdrangs oder der Leidabwehr zu töten? Warum trauen wir uns nicht an die Analyse des Terrors als Gründungsgewalt heran? Wo es doch viele religiöse Rituale gibt, die symbolisch auf Gewalterfahrungen beruhen? Man denke an die Menschenopfer, an die Opferung Isaaks und auch an Jesu Kreuzigung, die alle Opfer beenden sollte. Weder ist der Terreur eine Wiederkehr des Primitiven noch Teil einer politischen Theologie. Vielmehr hat er nach Ansicht von Wahnich mit Emotionen zu tun. Sie nimmt „eine emotionale Dynamik der Gründung an, die sich aus dem Sakralen und der Vergeltung speiste, die ihre Triebkraft bildete.“(61) Es geht nach dem von der Schweizergarde begangen Massaker an den Revolutionären, die zwar bewaffnet, aber gewaltlos am 10.August 1792 mit dem König in den Tuilerien verhandeln wollten „um das Wiedergewinnen der eigenen Stimme nach einem Gefühl der Vernichtung.“(61)

Das Entsetzen muss überwunden werden und sich in gerechten Zorn verwandeln. Es entsteht die Formel „die Revolution bzw. das Vaterland ist in Gefahr“, es wird von der heiligen Pflicht gesprochen, also sakrale Sprache benutzt. Als die Nationalversammlung dem Bedürfnis des Volkes nach Befriedigung ihrer verletzten Emotionen nicht nachkommt, kommt es zu den Septembermassakern, in dem das Volk die Gefängnisse stürmt und viele der Inhaftierten tötet, darunter die Prinzessin von Lamballe (eine grausame Schändung, die in ganz Europa Abscheu hervorrief, auch bei vielen Sympathisanten der Revolution.) Das Versagen der Rechtsinstitutionen führt zur zügellosen Gewalt des Volkes und somit zu einem Gründungsakt ohne symbolische Vermittlung. Alle Gewalten verschmelzen in einer der grausamen Rache des Volkes, die zudem niedere Instinkte bediente. „Da werden Weiber zu Hyänen“, heißt es bei Schiller. „Es ist eine furchtbare Situation, wenn ein von Natur aus guten und großherziges Volk gezwungen ist, derartige Vergeltungsakte zu begehen“, so fasst es die „Chronique de Paris“. Wahnich interpretiert nun den Prozess gegen den König, seine Hinrichtung und die Installierung der Revolutionstribunale als Versuch, die Revolution zu retten und dem Eifer des Volkes eine normative symbolische Form zu geben. Der Gesetzgeber (also die Nationalversammlung) soll symbolische Praktiken erfinden, die es erlauben, das Volk im Zaun zu halten. Der geordnete Terror transformiert die Ängste vor der Konterrevolution und schafft Ordnung in der Vergeltung.

Wahnich arbeitet an dieser Stelle einerseits mit dem Begriff des sakralen Körpers, den jetzt das Volk darstellt. Seine Heiligkeit und die der Menschen-und Bürgerrechtserklärung wird von den Konterrevolutionären drinnen (Tötung Marats) und draußen (Eroberung Verduns) angegriffen, was sich besonders an der hoch emotionale Reaktion auf die Tötung Marats zeigte. Andererseits führt sie den Begriff der „souveränen Ausnahme“ ein und formuliert: „Die Akteure der Septembermassaker begründeten die Volkssouveränität in einer unwiderruflichen Maßnahme, indem sie sich zur souveränen Ausnahme als Vergeltung des Volkes ermächtigten.“(96) Oder in den Worten Robespierres, das Gefühl der Menschheit für die Septembermassaker reklamierend: „Die Volksjustiz sühnt, indem sie einige den Namen Frankreichs entehrenden Konterrevolutionäre bestrafte, zugleich die ewige Straflosigkeit aller Unterdrücker der Menschheit.“(93). Ich frage mich, warum Wahnich dieses Argument nicht in Frage stellt, wo sie doch zuvor die Kanalisierung des Volkszorns durch geordnete Vergeltungsformen herausgestellt hatte. Ist ein Volk souverän, dass sich von Vergeltungsgedanken zu schlimmsten Massakern an Wehrlosen hinreißen lässt?

Zwei Humanitätsgefühle geraten hier also in Konflikt – das eine, das auch den Feind noch als Menschen sieht, mit der Tamino-Formel aus der Zauberflöte „er (der Prinz) ist ein Mensch.“ Und das andere, das auf die Verteidigung des Sinns zielt, die man dem guten gemeinsamen Leben geben möchte (101f.) Das menschliche Mitgefühl wird hier eingeschränkt durch das Empfinden, das die größere Gefahr nicht in der Verletzung menschlicher Körper sieht, sondern in der Grundlage ihrer Menschlichkeit, das heißt der Freiheit. Deswegen muss man den Terror wollen, wenn man die Freiheit will. Die Freiheit verlangt eine Einschränkung seiner eigenen Gefühle und Empfindungen. Allerdings gibt es Abstufungen: Desmoulins plädiert im Unterschied zu Robespierre für das Moment der Gnade im Prozess der Grenzziehung. Indem er zugesteht, dass der Mensch ein fehlbares und gespaltenes Wesen ist, versucht er zwischen irregeleiteten und unrettbar Schuldigen zu unterscheiden, während Robespierre nur das Entweder – Oder kannte. Ein Gnadenausschuss soll helfen, das zu ermitteln, ein ausgesprochen modernes Wahrheitsverständnis zeigt sich hier.

Wahnich erörtert schließlich die Gesetze über den Terror, von denen das sog. Prairialgesetz das Schlimmste ist, weil es das „Sterbenmachen“ zum Prinzip hat und nach seiner Verkündigung am 10. Juni 1793 unter seinem Diktat 1376 Personen bis Ende Juli 1794 auf dem Schafott starben. Wahnich spricht vom „dunklen Sinn“ dieses Tötens, versucht aber dann doch einen nachvollziehbaren Sinn zu unterlegen - der Verurteilte sei im Sinn des Kriegsrecht kein umzuerziehender Gegner mehr (so schon im Prozess gegen Ludwig XVI – er sei als Ausländer zu behandeln), sondern ein unversöhnlicher Feind, den es auszulöschen gilt. Die Bruderkämpfe verschlingen die Revolutionäre „Warum eine solche Gewalt in einem Moment da die Republik gerettet scheint“, diese Frage stellt Wahnich, ohne sie direkt zu beantworten (124). Wie die Amalekiter des AT, die, weil sie das Gesetz Gottes missachten, der Vernichtung geweiht werden, können die Feinde stets wiederkehren. Deswegen ist der Verräter, der Bandit, der sich außerhalb der Ordnung stellt, zu töten. Mit Hilfe von John Locke führt Wahnich das Denken der damaligen Zeit vor, das erörtert, unter welchen Bedingungen der Tod des Feindes notwendig ist, der sich gegen das Menschengeschlecht stellt. Das revolutionäre Humanitätsempfinden ist auf der Seite des politischen Lebens angesiedelt und verachtet (mit Aristoteles gesprochen) den „schönen Tag des Lebens“.

Kann man das aber heute noch so sagen? Nach diesem Maßstab müsste man über 90 % der Menschen in der Konsum- und Erlebnisgesellschaft des Verrats an den politischen idealen der Demokratie anklagen und sie vor ein Tribunal stellen. Denn als Konsumbürger, die das kapitalistische System am Laufen halten, sind wir eher Bourgeois, leben wir von den Ergebnissen der revolutionären Citoyens und der streitbaren Arbeiterbewegung, die die Demokratie mit begründeten, welche mit ihrem unblutigen Machtwechsel durch allgemeine und freie Wahlen die Revolution abgelöst hat (Volksfront 1934, SPD Wahlsieg 1970). In der Regel tun wir heute nicht viel mehr für die Republik als zu den Wahlen zu gehen, manchmal zu demonstrieren (in Frankreich mehr als in Deutschland) gegen den Abbau von Arbeitnehmerrechten und die Rücknahme sozialer Errungenschaften und uns gegebenenfalls zivilgesellschaftlich zu engagieren, was gerade vorbildlich in der deutschen Willkommenskultur für Flüchtlinge geschieht.

Noch mal zusammengefasst: Die Schreckensherrschaft mit ihren Revolutionstribunalen ist also eine Rückkehr zur Übersetzbarkeit der Emotionen des Volkes, sie zielt darauf ab, dass seine Emotionen nicht in sozialer Auflösung und Massakern münden (wie bei den Septemberereignissen 1792). Ein wesentliches Ziel der Schreckensherrschaft besteht in der Vermeidung willkürlicher blutiger Exzesse (Anarchie). Sie ist die Form eines heiligen Zorns, der nicht wahllos dabei ist zu töten. Die Opferung des Lebens muss zugunsten eines guten Lebens erfolgen, das mehr ist als das schlichte Faktum des Lebens. Wahnich zitiert hier zweimal prominent Walter Benjamin mit seinem Essay Zur Politik der Gewalt: einmal mit dem Satz, dass gerechtfertigt allein „die göttliche Gewalt ist, die das Opfer um des Lebendigen willen annimmt“ (92) und der Aussage „Falsch und niedrig ist der Satz, daß Dasein höher ist als gerechtes Dasein.“(161) Die Terreur ist ein Paradigma, das nicht die Vernunft, sondern das Empfinden zu seiner Grundlage macht. Es ist Verschränkung von Politik und Sakralem (kein Sakraltransfer, wie Wahnich betont) mit dem Volk als legitimem Akteur.

Wahnichs Essay ist ein wichtiger Versuch, den Terror der französischen Revolution zu verstehen und politisch einzuordnen. Es ist der Autorin gelungen, in ihm eine Logik der Empfindungen zu entdecken und so den Zusammenhang von 1789 und 1793 festzuhalten. Auch die schreckliche Phase des Terreurs hatte ein politisches Ziel und war nicht einfach der Blutrausch bzw. Nihilismus einiger fanatisch gewordener selbstgerechter Revolutionäre, wie es in Büchners Dantons Tod erscheint. Es war der Versuch, den Volkszorn in geregelte Bahnen zu lenken, ohne das Ziel der Gerechtigkeit aufzugeben.

Der Thermidor, der Monat, in dem 1794 die blutige Revolution beendet wurde, aber gleichzeitig auch, was oft vergessen wird, das revolutionär-demokratische Modell, begründet dann „das Opfergefühl unserer Zeit“ (151). Es findet ein Ästhetisierung des Todes statt. „Das Zeigen, Betrachten und die Inszenierung der guillotinierten Körper oder massakrierten Personen - wie der Fürstin von Lamballe – erzeugt ein retrospektives Entsetzen“ (149) etwa bei den deutschen Dichtern, bei Goethe und Kleist (s. dazu Schings, Revolutionsetüden). Und es findet eine Verschiebung in der Sicht der Revolution statt - sie erscheint nun an unbegreiflich und verheerend, eine Deutung, die sich bis in die Gegenwart durchhält.

Wahnich hält dagegen fest: Die Schreckensherrschaft war ein Akt der Selbstbeschränkung. Sie „markierte einen historischen Augenblick, in dem die souveräne Gewalt des ‚Sterben‘-Machen bei einem Volk lag, das dazu getrieben wurde, von dieser Gewalt Gebrauch zu machen, um den unerhörten Anspruch, die Souveränität errungen zu haben, zu untermauern.“(156) Letztlich also ein Akt der Selbstverteidigung in einer Verschränkung von Politik und Sakralem. Und, wie Kant folgerte, entsprach er einer „moralischen Anlage im Menschen“, war nichts Außer-oder Unmenschliches. Der sich dann einbürgernde Begriff Terrorist aber „ist potenziell ein Besiegter, der stets außerhalb des Gesetzes steht.“ (162)

Dennoch scheint der Versuch Wahnichs vergeblich, durch Rekonstruktion des damaligen Sinns den Heutigen einen Sinnrest der Schreckensherrschaft zu beweisen. Wir leben nicht mehr in einer Zeit, „wo der Tod des politischen Gegners das Zeichen der Ausübung legitimen Rechts war und der Tod der eigenen Leute Helden und Heilige hervorbrachte.“ (151) Sondern in einer Zeit, die von der Sakralität der Person ausgeht (H. Joas), die jedem die Menschenwürde zuspricht, auch dem Gesetzlosen und Banditen (es sei denn, sie nehmen sich wie Nationalsozialisten das Recht, ein Volk auszulöschen, das sind Feinde des Menschengeschlechts, die kein Recht haben, zu existieren). War es damals auch zur Verteidigung der revolutionären Errungenschaften verständlich, so ist dies Verhalten Freiheit oder Tod heute überholt.

Alle noch so klugen Versuche des Verstehens können nicht darüber hinwegsehen, dass 1794/94 Menschenleben massenhaft ohne ein wirklich gerechtes Verfahren ausgelöscht wurden, auch wenn es im Vergleich mit den Myriaden von Opfern, die an systemisch-struktureller Gewalt zugrunde gingen, eher wenige waren.

Entschieden sagt Wahnich im Schlussabschnitt: Der Terror während der Französischen Revolution war kein Terrorismus und eine Gleichsetzung mit dem 11. September 2001 verbietet sich. Vor allem deswegen, weil „die Getöteten und ihr schöner Tag des Lebens zum sakralen Körper der amerikanischen Nation (avancierte).“ (166) In vielen berührenden Geschichten, in der New York Times veröffentlicht, wurde geschildert, aus welcher glücklichen Normalität die Getöteten herausgerissen wurden. So wurde, so ergänze ich, noch einmal sinnfällig an das Menschenrecht des pursuit of happiness erinnert, das die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 proklamierte, im Augenblick seiner angestrebten Zerstörung. (Hier liegt ja auch ein gravierender Unterschied zwischen der amerikanischen und der französischen Menschenrechtstradition, der andere liegt im Gottesbezug, beides erwähnt Wahnich nicht). Zugleich bewirkte 9/11 eine Wiederkehr des sakralen Körpers des heroischen Bürgers, wenn Bush in seiner Rede eines Polizisten gedachte, der bei dem Versuch anderen zu helfen, starb. Im Aufruf zum Gebet schließlich verband Bush die verletzten Sakralitäten, zu denen natürlich die Werte Amerikas gehörten, zu einer einzigen. Eine Parallele zu 1793 war vor allem der Widerstand gegen die Entmutigung, der dann aber letztlich nicht zu Recht und Gerechtigkeit führte, sondern zum Afghanistankrieg und zu Guantanamo.

So endete der Essay Wahnichs 2003. Sie hat dann im Januar 2015 nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo ein Nachwort angefügt und im November 2015 nochmals ergänzt. Was kann ein Historiker, der versucht hatte, die Rückprojektion einer Gegenwart (11.9.2001) auf die Vergangenheit (1793) zu entwirren, in dieser Situation tun? Nochmals entwirren – die Revolutionsregierung von 1793 wollte eine neue Symbolik der Gesellschaft auf der Grundlage proklamierter Rechte schaffen. Auch wenn es 2015 im Rachemotiv eine Ähnlichkeit gibt, ist das Ziel der heutigen IS-Terroristeneine „religiöse Verdichtung als regressive Ideologie“ und nicht Emanzipation wie 1793. 2015 ist der andere nur noch der Feind, den es zu vernichten gilt, während 1793 es drei Stufen des Rechts gab. Strafrecht, das Recht der Vergeltung, Kriegsrecht. Ziel war es 1793, die Rechte der Menschheit zu gewinnen, ein Ziel, das bei den arabischen Terroristen nicht auftaucht.

Weiter: Wahnich weist darauf hin, dass Frankreich überall dort einen unerklärten Krieg führt, wo es Soldaten, Flugzeuge oder Drohnen hinsendet, die Franzosen aber wollen nicht wissen, welcher Krieg wo in ihrem Namen geführt wird (ähnlich die Deutschen). Sie wähnen sich als Pazifisten und diskutieren über die Homo-Ehe, während ihre Armee in Mali interveniert. Wahnich zeigt, wie anders es 1793 war, als Robespierre nachdrücklich darauf aufmerksam machte, dass ein Krieg die Exekutivgewalt schwäche.

Es wird keine öffentliche Debatte über Kriegseinsätze geführt, Kriminelle französischer Abstammung, die Brüder Kouachi, werden am 7. Januar nicht verhaftet und der Staatsjustiz übergeben, sondern wie Kombattanten erschossen. Bei dem Marsch am Hashtag des 7. Januar 2015 Je suis Charlie findet „eine tödlich verletzte Gemeinschaft in gemeinsamer Trauersymbolik“ einen neuen Zusammenhalt, in jenem „obligatorischen Ausdruck von Gefühlen“, den der Ethnologe Mauss in den Trauerritualen australischer Ureinwohner diagnostizierte. (189) Ganz anders die Demo am 11. Januar, der sog republikanische Marsch mit den Politikern aus aller Welt - eine „heilige Union“ der Regierenden der ganzen Welt. Der Ausdruck der Gefühle wird jetzt von der Politik orchestriert, es gibt eine regierungsamtlich Zivilreligion und nicht den Republikanismus, der auf dem Erfindungsgeist und der Verantwortung der Bürger beruht. Der Marsch war eher weiß als multiethnisch. Wahnich fordert auf, eine Anstrengung zu unternehmen, um wirklich Republikaner zu sein, ohne die Französische Revolution zu verabschieden. Und nach den Anschlägen des 13. November kommentiert sie: die Stadien, Cafes, Konzertsäle seien die Sehnsuchtsorte der französischen Gesellschaft, wo der Eros regiert. Dort schlugen die Terroristen zu, die eine andere Liebe regiert, nämlich die Liebe zum Tod im Namen Gottes. Sie seien keine Nachfolger der Revolutionäre von 1793, die das Leben liebten, es heiterer machen wollten. So ist es!

Man muss dem Matthes & Seitz-Verlag dankbar sein, dass er diesen Essay veröffentlicht hat. Er kann helfen darüber aufzuklären, auf welchen revolutionären Fundamenten unsere Demokratie beruht, Fundamente, die nur durch große Ernsthaftigkeit und die Bereitschaft, mit seiner ganzen Existenz für sie einzutreten, gefestigt werden. Also Citoyen sein und nicht nur Konsumbürger. Es war ein Verhalten, das die gewaltlosen Demonstranten in Leipzig 1989 auszeichnete, die Bürgerrechtler in der DDR, die gegen einen autoritären Staat Freiheitsrechte beanspruchten, die Hunderttausende, die in Wackersdorf, Gorleben und Brokdorf gegen den Atomstaat demonstrierten: es waren die demonstrierenden Studenten und Bürger gegen die Notstandsgesetze 1968 und gegen die Auslieferungszentralen der Springer-Presse, es waren alle die, die während dreier Jahrzehnte gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr auf die Straße gingen (100.000 waren es 1958 auf dem Hamburger Rathausmarkt), die Widerständler des 20. Juli 1944, die Studenten der Weißen Rose, diejenigen, die während des Kapp-Putsches die Weimarer Republik verteidigten, es waren die mit dem Wort agierenden Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die von der rechten Soldateska ermordet wurden, die Kieler Matrosen vom November 1918 usw. Die Schärfe der französischen Revolutionäre, die auch vor dem Sterbenmachen nicht zurückscheuten – fehlte sie vielleicht in manchen dieser Phasen, etwa bei der Niederschlagung des aggressiven Nazi-Verhaltens in der Weimarer Republik. Max Weber hat einmal bemerkt, die deutsche Tragödie hänge damit zusammen, dass sie nie einen Hohenzollern geköpft hätten. Da ist etwas Wahres dran. So konnten die konservativen Kräfte, später die Rechten gewiss sein, dass sie ihre Gewalt oft weitgehend ungeahndet ausüben konnten – von der Niederschlagung der März-Revolution in Berlin und Wien 1848, über den Marsch auf die Feldherrnhalle bis hin zu Rostock-Lichterhagen, bis zur NSU-Terrorzelle und zu den vielen Brandanschlägen gegen Flüchtlingsunterkünfte in den letzten 2 Jahren. Freiheit oder Tod kann kein Motto mehr sein, aber: Menschenschutz entschiedener Widerstand gegen Rechts und eine konsequente Polizei und Justiz, die mit aller Härte die Verbrechen gegen Flüchtlinge und Minderheiten verfolgt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/103/hjb50.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2016