Paradigmen theologischen Denkens


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Paradigmen theologischen Denkens

Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben. Teil III

Stefan Schütze

Einleitung

Theologisches Denken, wie ich es in meinen „Paradigmen“-Artikeln I und II[1] anvisiert habe, ist als „theologia viatorum“ (Karl Barth) und „theology of becoming“ (Catherine Keller) grundsätzlich Denken in Bewegung, das sich immer wieder selbst überprüft und erneuert, das nie bei einem einmal erreichten Kenntnisstand stehen bleibt, sondern immer offen ist für Neuanfänge und Revisionen[2] – teils auch weitreichende und grundsätzliche "major revisions"[3].

Dieses an Veränderung und Beweglichkeit orientierte Verständnis von Theologie ist dabei kein Plädoyer für den prinzipiellen Vorrang des Neuen vor dem Alten, als gälte es, „das Rad immer wieder neu zu erfinden“, sondern ein Plädoyer für die prinzipielle Beweglichkeit, Erneuerbarkeit, Prozesshaftigkeit alles weiterführenden Denkens früher und heute, weil gerade bei den großen Grenzfragen des menschlichen Lebens „even the pretense of closure … a symptom of lack of understanding”[4] ist.

In dieser Betonung der prinzipiellen „Offenheit“ und „Unabgeschlossenheit“ theologischen Fragens wird zugleich die grundlegende Unterscheidung zwischen einem weiten, "liberalen" Ansatz und einem engen, "konfessorischen" Ansatz religiöser Weltorientierung nochmals markiert.

Der "konfessorische" Ansatz geht von einer für alle Zeiten verbindlichen und unveränderlichen "foundation" für das theologische Denken aus, einer "offenbarten" (übergeschichtlichen) Wahrheit, einer "ein für alle Mal" gültigen Norm (Schrift, Bekenntnis und/oder Lehramt), der es bei allen Erneuerungen zu entsprechen, die es zu "bezeugen", zu der es sich zu "bekennen" gelte. Insofern ist die gesamte theologische Konstruktion im Wesentlichen reaktiv, antwortend, "Auslegung" einer schon vorgegebenen Wahrheit.

Der "liberale" Ansatz geht dagegen von der radikalen Unverfügbarkeit der "Wahrheit" für alles geschichtliche menschliche Suchen aus. "Wahrheit" ist niemals eine "Vorgabe", sondern immer ein Zielhorizont, eine "regulative Idee" (Kant), die im Suchen von Menschen immer nur tastend antizipiert, vorläufig für eine bestimmte Situation und Zeit formuliert, und diskursiv anvisiert werden kann. Keine geschichtliche Annäherung an die Wahrheit ist jemals endgültig. Echte Wahrheitssuche erfordert vielmehr die Bereitschaft zu stetem "Aufbruch" und "Exodus" aus bisherigen Gewissheiten, die doch immer nur "Heimat auf Zeit" sein können.

Die "Wahrheit" des Glaubens ist immer eine Verheißung, nach der wir uns ausstrecken (Phil 3,12-14), nichts, was wir in diesem Leben jemals eindeutig erfassen und konfessorisch sichern können. Bereitschaft zur "Erneuerung des Denkens" (Röm 12,2) und zur Revision und Rekonstruktion ist darum der Grundmodus glaubender Wirklichkeitsorientierung von Anfang an.

Fortwährende "Revisionen" alter Konzeptualisierungen und Erneuerungen der Glaubensperspektive gehörten darum immer schon zur Geschichte des jüdischen und christlichen religiösen Diskurses: War der im babylonischen Exil entwickelte jüdische Monotheismus nicht tatsächlich eine "major revision" der vorigen "JHWH-allein"-Theologie der "Josianischen Reform", so wie diese selbst schon eine sehr radikale Veränderung gegenüber der früheren israelisch-kanaanäischen synkretistischen Religiosität war? Bedeutete das hellenistische Judentum nicht erneut eine grundlegende Rekonstruktion dieses exilischen Gotteskonzeptes? Hat Jesus dann nicht wiederum den Glauben Israels dadurch erneuert, dass er ihn reformuliert, reorganisiert, rekonzeptualisiert und damit weitreichend verändert hat? Und war nicht der Übergang vom Glauben Jesu zum Glauben an Jesus bei den frühen Christen wieder eine solche "major revision" im religiösen Paradigma?

Und so fort bis heute: Gehörte Veränderung, Exodus, Neuanfang, ständige Revision und Rekonstruktion nicht von Anfang an genauso zum Glauben wie Bewahrung, Kontinuität, Heimat und Identität? Beide Momente in einer spannungsvollen Balance zu halten, ist nach meiner Überzeugung die Aufgabe von Theologie als „human imaginary construction“[5] zu aller Zeit.

Ein solcher „revisionistischer“[6] theologischer Dankansatz ist darum gerade nicht modernistisch und traditionsfeindlich; vielmehr legt theologische Revisionsarbeit oft gerade den verschütteten Reichtum und die Schönheit vergangener Glaubensentwürfe erst frei, die durch die kirchlich leider oft noch gängige transformationsängstliche Theologie der vermeintlichen "Bewahrer" domestiziert, dominsisiert, und egalisiert waren. Es geht darum, um es in einem Bildwort Jesu zu sagen, dass konstruktives theologisches Denken "einem Hausvater" gleicht, "der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt" (Mk 13,52) - nicht ob es "neu" ist oder "alt" ist, ist entscheidend, sondern dass es Menschen (je unterschiedlich in ihrer Zeit!) zu "Schülern ('Jüngern') des Himmelreichs" machen kann.

In diesem Sinne ist m.E. auch Anselm von Canterburys klassische Definition theologischen Denkens als „fides quaerens intellectum“ kritisch zu erweitern. Die Gefahr dieser Formel besteht darin, das Gefälle vom Glauben zum Verstehen zu statisch und einseitig zu fassen: So, als sei der Inhalt des Glaubens dem Verstehen schon vorgegeben, als „depositum fidei“, das im theologischen Diskurs nur noch auszulegen und zu entfalten wäre. Der (menschliche) „intellectus fidei“ ist zwar beweglich und offen, der (göttliche) Grund des Glaubens aber selbst immer schon gegeben und klar.

Dagegen versteht ein prossesualer Ansatz theologischen Denkens auch den Glauben selbst als Teil eines immer in Gang befindlichen Veränderungsprozesses, interpretiert ihn konsequent geschichlich und nicht positivistisch. Jedes neue Verstehen des Glaubens verändert auch den Glauben selbst, und jede neue Veränderung der Glaubensformulierungen verändert wiederum auch die Aufgabe des Glaubensverstehens. Das Gefälle geht nicht einseitig von der „fides“ zum „intellectus“. Vielmehr besteht zwischen „fides“ und „intellectus fidei“ eine stetige Wechselbeziehung. Sie verändern sich immer gegenseitig, wirken in ständigen „feedback loops“ verändernd und transformativ aufeinander ein. Sie sind sozusagen selbst Teil eines größeren Systems, des Systems des Lebens überhaupt, das durch ständige Wechselwirkungen und Veränderungsprozesse gekennzeichnet und ausgerichtet ist.

Im Rahmen eines solchen fortgesetzten theologischen Denk-und Veränderungsprozesses ist jetzt auch dieser dritte Teil meiner „Paradigmen theologischen Denkens - Auf der Suche nach einem für mich heute tragfähigen und sagfähigen Glauben“ entstanden. Diese „portionsweise“ Formulierung und Veröffentlichung entspricht der Tatsache, dass die theologische Orientierungsbewegung, die sich in diesen drei Teilen spiegelt, nicht systematisch, sondern entsprechend meiner disparaten und sich nach und nach immer mehr erweiternden Lektüre teilweise recht sprunghaft gewachsen ist. Als ich den ersten Teil schrieb, war der zweite noch gar nicht geplant; ebenso ist der Entschluss zu einem dritten Teil erst viele Monate nach der Veröffentlichunng des zweiten entstanden. Auch die Bezüge der einzelnen Gedankenstränge innerhalb jeden Teiles haben sich erst nach und nach so gefügt, und die jeweiligen „großen Linien“ wurden mir oft erst in der Rückschau, Rekonstruktion und Reintegration des bisher Gelesenen und Gedachten richtig klar.

Anmerkungen

[1] Vgl. Tà katoptrizómena, Heft 65 (https://www.theomag.de/65/sts1a.htm): „Teil I“, Heft 66 (https://www.theomag.de/66/st2.htm): „Zwei Nachträge“ und Heft 69 (https://www.theomag.de/69/sts3a.htm): „Teil II“

[2] Dies gilt sowohl für das individuelle theologische Denken wie auch für das theologische „Bekenntnis“ einer Gemeinschaft. Vgl. hier z.B. Paul Tillichs klassische Formulierung dieser Erkenntnis in seinen „Dynamics of Faith“: „How can a faith which has doubt as an element within itself be united with creedal statements of the community of faith? The answer can only be that creedal expressions of the ultimate concern of the community must include their own criticism. It must become obvious in all of them – be they liturgical, doctrinal or ethical expressions of the faith of the community – that they are not ultimate. Rather, their function is to point to the ultimate which is beyond all of them.“ (Dynamics of Faith, 33) Gerade weil Glaube als „ultimate concern“, so die Formulierung des „protestantischen Prinzips“ durch Tillich, Verpflichtung auf das Unbedingte ist, darf er selbst sich nicht für unbedingt und zweifelsohne sicher halten, weil genau dies seine „idolatrische“ Verkehrung wäre. Als „dynamische“ Größe ist Glauben auch nach Tillich immer ein „Glauben in Bewegung“ und Veränderung.

[3] Vgl. Ward, Vision, 8

[4] Christenson, Oddest Word, 165

[5] Vgl. Kaufman, Creativity, 120 u.ö.

[6] „Revisionistisch“ steht hier als Übersetzung für das (das Verständnis theologischen Denkens der von mir rezipierten englischsprachigen theologischen Autoren leitende) englische Adjektiv „revisionist“, und hat nichts mit dem politischen „Revisionismus“ zu tun, für den dieses Wort im Deutschen häufig steht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/76/sts6b.htm
© Stefan Schütze, 2012