d12

Caravaggio (Detail)

Impressionen

Andreas Mertin

Info Andreas MertinIm Vorfeld ist die documenta 12 – wie viele andere Kunstereignisse des Jahres 2007 – mit viel Vorschusslorbeeren versehen worden und mit der Eröffnung und der Präsentation der Ausstellung sind dann – wie auch bei den vielen anderen Kunstinszenierungen des Jahres – herbe Enttäuschungen laut geworden. Beliebig, zweitrangig, geschwätzig sei diese documenta 12, ohne einen wirklichen Faden der Erkenntnis. Statt dessen präsentiere sie die Kunst rein assoziativ und ohne Übersicht.

Nun sind derartige Reaktionen ein Automatismus beinahe jeder documenta seit 1992. Ich erinnere mich gut an das Echo nach der Eröffnung der documenta von Jan Hoet, als diesem Sensualismus und Wirkungsästhetik vorgeworfen wurde. Dass damals Bruce Naumann und Francis Bacon in direkter Nähe platziert wurden und damit der kontemplative Leidensgenuss des Werkes von Bacon von der eindringlichen Leidensakustik von Naumann malträtiert wurde, galt als Betriebsunfall der Ausstellungsinszenierung. Ähnliches wurde bei der documenta von Catherine David geäußert, der fehlende Sinnlichkeit und eine zu theoretische Ausrichtung vorgehalten wurden. Vielleicht ist also die Erwartungshaltung gegenüber einer „Weltkunstausstellung“ immer überstrapaziert.

Faktisch ist es aber so, dass derartige Ausstellungen auf die Dauer danach beurteilt werden, was an Kunstwerken und Impulsen im Bild- und Hörgedächtnis der Besucher hängen geblieben ist. Und da sieht es mit der aktuellen documenta nicht schlecht aus. Sicher ist man nach dem ersten Besuch frustriert und genervt vom Markt der Möglichkeiten im Aue-Pavillon, von der Dunkelkammer der Inszenierung in der Neuen Galerie und der assoziativen Reihung zahlreicher Objekte im Fridericianum. Auch der Gestus der Leichtigkeit, mit dem das alles präsentiert wird, enttäuscht die Erwartungshaltung. Dieser Eindruck verflüchtigt sich aber nach dem zweiten oder dritten Besuch, bei dem man nicht mehr dem Eindruck der Gesamtschau nachspürt, sondern beginnt, sich mit den einzelnen Positionen auseinanderzusetzen. Sicher ist es einfach, ob der zahlreichen Missgeschicke die Nase zu rümpfen oder generell eine mehr orientierende Kunstausstellung zu fordern. Auch der schulische Gestus, den diese Documenta pflegt, indem sie sich – zu Unrecht – als Bildungsveranstaltung ausgibt, kann einem auf die Nerven gehen. Wer erst eine zweistündige Führung buchen muss, um den Exponaten folgen zu können, fragt zu Recht nach der Eigensprache der Kunst.

Und dennoch: Es gibt eine derartige Fülle gelungener Werke und Inszenierungen auf dieser documenta, dass man sich besser auf diese konzentrieren sollte, statt wohlfeile Kritik zu üben. Im Folgenden mache ich einen kleinen Rundgang durch die d12 und greife jene Werke heraus, die mich beeindruckt und zu eigenen Erkundungen angeregt haben.

Fridericianum

Wer das Fridericianum betritt, stößt zunächst auf eine unerwartete Situation – zumindest dann, wenn er schön früher auf der documenta war. Kein den Besucherstrom ventilierender Eingangsraum, sondern ein Spiegelsaal, der den Besucher auf sich selbst zurückwirft und den Raum zugleich unendlich erweitert. Das hat manchen so irritiert, dass er gleich über die wieder eingebaute Treppe ins erste Stockwerk gestürmt ist.

Tatsächlich bin ich mehreren Besuchern begegnet, die die Räume im Erdgeschoss gar nicht gesehen haben, weil sie der scheinbaren Logik des Entrees gefolgt und gleich die Treppe hoch gegangen sind. Zu verführerisch ist vermutlich die Perspektive nach dem Verlassen des Spiegelsaales. Man muss aber (metaphorisch gesprochen) hinter die Spiegel schauen, um den ersten beeindruckenden Werken der documenta zu begegnen. Auf der vom Eingang gesehen rechten Seite des Fridericianums findet der Besucher dann eine Ensemble von Arbeiten, die alle für sich der näheren Betrachtung wert sind. Ich greife nur einige heraus.

Im Zentrum des Raumes steht Andrej Monastyrskis Arbeit „Fountain“, die in ihrem Titel auf Marcel Duchamps berühmtes Readymade-Kunstwerk anspielt, das das Kunstverständnis des 20. Jahrhunderts maßgeblich mit beeinflusst hat. Der Besucher sieht 16 aufgestellte Foto-Stelen mit goldenen Figurenabbildungen darauf, die vom monumentalen Brunnen der Völkerverständigung auf dem Hauptplatz der Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft in Moskau stammen. Der Betrachter sieht freilich nur die Rückenansichten der Figuren, die alle auf ein imaginäres Zentrum schauen. Der reale Raum des so umkreisten Brunnens ist dagegen vor Ort mit einem weißen Pulver gefüllt. Das Ganze hat eher eine religiöse als eine politische Anmutung, es stellt quasi die inzwischen untergegangene politische Theologie der alten UdSSR symbolhaft vor.

Im gleichen Raum findet sich eine Serie von Aquarell-Arbeiten von Atul Dodiya. Auf den Bildern sieht man merkwürdige Schriftzeichen, die mich zunächst an Sanskrit denken ließen, die sich dann aber als die damit verwandte Gujatari-Schrift entpuppte. Es ist nebenbei bemerkt die Schrift, mit der Mahatma Gandhi das Schreiben lernte. Die Schrift wird im indischen Bundesstaat Gujarat verwendet und weltweit von etwa 45 Millionen Menschen gesprochen.

Gujarat hat Anfang 2002 weltweit Aufmerksamkeit erregt, als es einen brutalen national-religiösen Konflikt zwischen Hindus und Moslems gab, der vermutlich mehr als 2000 Menschen, vorwiegend Moslems das Leben kostete. Seit einigen Jahren hat sich die Hindu-Bewegung vom Konzept des Miteinanders der Religionen abgewandt zugunsten eines religiös-nationalen: „Es geht darum, ein majoritäres Staatsverständnis entlang einer nach religiöser Zugehörigkeit definierten Einheit durchzusetzen.“ (Julia Eckert)

Die Bilder von Dodiya, die auf den ersten Blick doch so poetisch, allerdings auch sehr melancholisch wirken und die - wenn überhaupt - politisch mehr mit kolonialistischen Konflikten und solchen im Gefolge von Globalisierung zu tun haben scheinen, zielen im Kern also auf eine Auseinandersetzung jenseits von Kolonialismus und Globalisierung, nämlich der kulturellen Bedrohung religiöser Minderheiten. „Die Konstruktion - und gewalttätige Verwirklichung - der Feindschaft von Hindus und Muslimen, von Hinduismus und Islam ist Teil eines nationalistischen Projekts, das über die Abgrenzung nach außen auf die Vereinigung nach innen zielt. Die Muslime werden dabei zu den Ersatz-Feinden, zu den operationalen Anderen. Es ist die Unterscheidung in Freund und Feind, die hier - wie bei Carl Schmitt - die Identität eines Volkes konstituiert.“ (Julia Eckert) All die Kultur, die in den Texten zum Ausdruck kommt, ist ambivalent: sie schützt nicht vor ethnischen und religiösen Konflikten, die gerade mit Kultur und Religion begründet werden: eben nur einer angeblich reinen Kultur und Religion. Statt Vielfalt zu leben und kulturelle Entwicklungen aufzugreifen und zu kultivieren, wird Kultur begrenzend und ausgrenzend instrumentalisiert.

Im nächsten Raum zeigt Simon Wachsmuth eine interessante Installation, die – wie zu beobachten war – bei den Besuchern ganz unterschiedliche Reaktionen auslöste – durchaus im Sinne der Konzeption des Künstlers. Wachsmuth hat ein Ensemble historischer Verdichtungen geschaffen, die den Besucher in Zweifel stürzen, was hier Konstruktion, was Suggestion und was historischer Befund ist. „Sind unsere Bilder von der Vergangenheit fix? Ist wahr, was uns die Geschichtsschreibung als feststehend vermittelt? In seiner Installation Where We Were Then, Where We Are Now? (2007) befragt Simon Wachsmuth abendländische Geschichtsbilder, die nur die europäische Vergangenheit rezipieren, nicht aber z. B. die persische“ umschreibt die documenta seine Arbeit und fährt fort: „Ausgangspunkt der Arbeit ist ein Film über den Apadana-Fries in der Palastanlage von Persepolis, einer antiken Königsstadt des Achämenidenreichs im heutigen Iran, die von den Truppen Alexanders d. Gr. 330 v. Chr. Zerstört wurde. Der Relieffries schildert in fortlaufender Erzählung das Staatsprogramm und zeigt Diplomatie und Heer sowie die 23 unterworfenen Achämenidenvölker. Dem gegenübergestellt wird die Nachbildung eines Freskos aus Pompeji vom Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr., einer Schlacht zwischen dem Achämenidenherrscher Darius III. und Alexander d. Gr. Und so werden griechische (okzidentale) und persische (orientale) Antike einander konfrontiert ... Im Bild hinter Darius III. dargestellte Lanzen finden sich im Raum als Rundstäbe, ebenfalls in Schwarz-Weiß, an der gegenüberliegenden Wand wieder. Ein zweiter Videofilm zeigt Männer beim Zurkhaneh, einer traditionellen iranischen Leibesübung.“

Gerade die Darstellung des Zurkhaneh ruft beim Publikum interessante Reaktionen hervor. Erkennbar ist, dass es nicht nur eine Form der Leibesübung, sondern auch um eine Einübung in die Wehrertüchtigkeit der männlichen Bevölkerung ist. Nicht erkennbar ist zunächst, dass dies mit dem Islam zunächst einmal weniger, mit Persien aber um so mehr zu tun hat, denn der Sport blickt auf eine mehr als 3000-jährige Geschichte zurück. Er verband sich dann allerdings später mit Formen des Sufismus. Für den westeuropäischen Betrachter der Gegenwart wird das Video aber zum Katalysator seiner Gefühle und Vorurteile, wird die Wahrnehmung doch erkennbar durch den 11. September beeinflusst. Dies in seiner Installation gebündelt und verdichtet zu haben, ist ein Verdienst der Arbeit von Wachsmuth.

Im Raum links vom Spiegelsaal des Fridericianums empfinde ich die Arbeiten von Trisha Brown als besonders stark (dazu später mehr). Herausstechend ist in diesem Raum aber die Arbeit von Kerry James Marshall „Could this be love“ aus dem Jahr 1992. Dieses Bild leuchtet im Raum hervor, zieht in den Bann und lässt einen dann auf eine Entdeckungsreise gehen, denn die dargestellte Situation ist alles andere als leicht zu deuten und zu entschlüsseln.

Wer das Bild en detail studiert, stößt auf immer mehr irritierende Details, wie etwa am unteren Bildrand auf das Buchcover von Alma Archers Buch „Your Power as a Woman: How to Develop and Use It“ aus dem Jahr 1957(!) – im Antiquariat übrigens beschrieben mit den Worten „Classic 50's pre-feminist advice with retro cover art“. Auch der Verweis auf die schwarze Venus im Bild ist interessant, ist dies doch seit Jahrzehnten auch ein Verweis auf Josephine Baker.

Ebenfalls noch im Erdgeschoss ist die ebenso überraschende wie faszinierende Studie von Harun Farocki (vgl. tà katoptrizómena, Heft 12). Farocki macht nichts weniger als die visuelle Analyse des WM-Finales 2006. Jenes Material, das inzwischen zum Bilderhaushalt von Milliarden Menschen gehört, wird von ihm einer bis in die Kleinstbewegung gehenden Untersuchung unterzogen. Wie bewegt sich Zidane über das Spielfeld, wie oft tritt er in Ballkontakt und wie ordnet er sich dabei in das Gesamtkonzept des Trainers ein. Wie ein Exeget mit biblischen Texten studierte Farocki eine globalisierte Situation. Und wie beim Exegeten kommt als Ergebnis nicht die objektive Wahrheit hinter den Bildern/Texturen zum Vorschein, sondern eine mögliche Lesart. So wird der von vielen Betrachtern sehnlichst erwartete Kopfstoß Zidanes gerade nicht gezeigt, wohl aber die rote Karte des Schiedsrichters. Ein Lehrstück über Bilderarbeit, die knappe Ressource Aufmerksamkeit und den Kultsport „Fußball“.

Im ersten Stock des Fridericianums stößt man dann auf die ersten der 1001 alten chinesischen Stühle, die Ai Weiwei auf die documenta gebracht hat.

Im zentralen Raum des ersten Stockwerks führt Trisha Brown ihre Performance Floor of the forest (1970/2007) auf. Dabei bewegen sich die Tänzer durch eine Installation aus aufgespannten alten Kleidern, verharren in den unmöglichsten und unbequemsten Positionen, um dann wieder eine neue Haltung einzunehmen. Eine geradezu spartanische Arbeit im wörtlichen Sinne. Und eine auch für das Publikum sehr faszinierende Arbeit.

Das Thema Tanz scheint auch den gesamten benachbarten Raum einzunehmen, in dem Iole de Freitas mit Hilfe zahlreicher gebogener Stahlrohre und teils durchsichtigen, teils lichtdurchlässigen Polycarbonatplatten ein Kunstwerk (ohne Titel) installiert hat, das den Raum spielerisch durchdringt, ja auch vom Mauerwerk des Fridericianums nicht aufgehalten werden kann und daher an verschiedenen Stellen dessen Fassade durchbricht und an anderer Stelle wieder in den Raum eintritt.

Ein wunderbares poetisches, leichtes und doch raumgreifendes Werk, das den Besucher selbst – wenn er sich denn auf die Arbeit auch körperlich einlässt - zu quasi tänzerischen Bewegungen durch den Raum veranlasst. Und mit diesen Bewegungen durch den Raum ergeben sich dann für den Betrachter immer wieder neue Perspektiven auf das Werk und den Kontext des Werkes wie auch auf die mit ihm im Raum befindlichen Besucher.

Im sehr dicht gehängten und meines Erachtens von Bildern geradezu überfüllten gegenüberliegenden Raum im ersten Stock des Fridericianums möchte ich nur auf die Arbeiten von Lili Dujourie hinweisen, die zeichnerisch und zugleich skulptural eine Fülle unterschiedlicher Perspektiven evozieren.

Im sich anschließenden Raum findet der Besucher großformatige Fotoarbeiten von Lidwien van de Ven. Sie zeigen Szenen, die in Westeuropa und im Nahen Osten aufgenommen wurden und die sich hauptsächlich mit Politik und Religion befassen. Religiöse Symbolik im Alltagsgeschehen, ein Schriftzug, eine Geste, ein Bild. Beim wiederholten Besuch dieses Raumes auf der documenta war ich überrascht, plötzlich ganz andere Werke an der Wand vorzufinden. Die Erklärung dafür fand sich nicht im Katalog der documenta, vielmehr stieß ich zufällig im Pressefolder auf sie: „Im Lauf der Ausstellung wird van de Ven die Reihenfolge der Arbeiten verändern, einige mit weißer Farbe übermalen und andere mit einem neuen Bild überkleben, wodurch mehrere Schichten entstehen, zwischen denen neue Verbindungen und Assoziationen geschaffen werden. Der Prozess ermöglicht eine Vielzahl von Lesarten der Bilder und vermittelt einen Einblick in die dichten Verstrickungen, die jede Aufnahme mit sich bringt – und bietet den BetrachterInnen auf diese Weise unterschiedliche Erinnerungen an die Arbeit, so dass sie in ihrer Gesamtheit nur als kollektive Erinnerung verstanden werden kann.“ Gerade weil die Bilder so großformatig sind, funktioniert das sehr gut. Man prägt sich den Raum beim ersten Besuch quasi fotografisch ein und ist dann später überrascht von der neuen Situation und Konstellation, zu der man nun eine weitere Lesart entwickeln muss. Und zu dieser Lesart fügen sich dann bei weiteren Besuchen weitere hinzu. Die nur scheinbar dokumentarischen Bilder geraten so in Fluss.

Im zweiten Stock des Fridericianums bildet die Installation Album III von Louis Jacob geradezu eine Ausstellung in der Ausstellung. Normalerweise würde bereits die Fülle und Vielfalt dieser Bilder für einen eigenen Ausstellungsbesuch reichen. Louis Jacob hat Album III nach mehreren Themen geordnet, „die sich aus visuellen, formalen, konzeptuellen und intuitiven Assoziationen ergeben.“ Es werden immer mehrere Bilder einander zugeordnet präsentiert. Für den Betrachter entsteht so ein assoziativer Wahrnehmungsraum, den er mit eigenen Bildern, Beobachtungen und Reaktionen füllen kann. Eine subjektiv bedienbare Bildermaschine quasi. Gerade in diesem Raum kann man sich mehrere Stunden aufhalten.

Aue-Pavillon

Der von Roger M. Buergel und Ruth Noack temporär eingerichtete Aue-Pavillon bietet die größte Ausstellungsfläche der documenta. Zugleich ist er der in der Rezeption umstrittenste Raum (z.B. www.universes-in-universe.de: „unsäglicher Aue-Pavillon“). Und tatsächlich erschließt sich der Raum logisch kaum, auch nicht mit den Erläuterungen in der Audio-Führung, zu beliebig ist die Verknüpfung der Exponate. Man ist versucht, ihn mit dem Markt der Möglichkeiten auf einem Evangelischen Kirchentag zu vergleichen, wo auch die unterschiedlichsten Positionen nebeneinander stehen. Das Einzige, was man nachvollziehen kann, ist, dass es unterschiedliche Ausstellungskonzepte über den Raum des Aue-Pavillons gibt: von der großzügigen Hängung beim Eingang über die Verdichtung im hinteren rechten Bereich bis zum White Cube am Ende. Aber diese Erkenntnis macht das Ganze nicht stimmiger. Auch hier ist es nahe liegend, einzelne Positionen aus dem dort Präsentierten herauszugreifen.

Schon lange vor dem Betreten des Aue-Pavillons stößt man auf Ai Weiweis „Template“, das aufgrund eines Wettersturms schon am vierten Tag der documenta zusammenstürzte. Das Objekt wird aus zahlreichen alten Holztüren chinesischer Häuser gebildet, die Ai Weiwei zu einem Turm zusammengebaut hat. Die Assoziationen dieses Werkes waren vielfältig. Am 20. Juni fegte dann ein Hagelsturm über Kassel und kippte das Kunstwerk um. Das Ergebnis wurde von Weiwei als „noch besseres“ Werk akzeptiert und deshalb auch nicht wieder aufgerichtet. Tatsächlich hat die Arbeit durch den Zusammensturz überaus gewonnen. War vorher ein gewisser Hang zum Kitschigen und Idyllischen nicht von der Hand zu weisen, so ergeben sich nun, wenn man um das in sich zusammen gefallene Werk herum geht, überaus interessante Perspektiven.

Unmittelbar einleuchtend ist die Assoziation mit Caspar David Friedrichs berühmten Gemälde „Das Nordmeer“ (auch bekannt unter: „Die gescheiterte Hoffnung“). Geht man etwas um das Kunstwerk herum, kann man aber durchaus auch an eine Verbindung zum „Angelus Novus“ von Paul Klee denken, noch weiter um das Werk herum lassen sich Beziehungen zum Turmbau von Babel herstellen.

Im Auepavillon selbst zunächst der großzügige Eindruck: weiträumig und offen (ein Eindruck, der sich später verflüchtigt). Gleich im ersten Teil des Pavillons der „Zaun“ von Dmitri Gutov, eine Aneinanderreihung von Metallgittern mit Texturen und Fundstücken: „Was dabei in verschiedenen Schriftarten zu lesen ist, sind in Metall geschriebene Texte und Zitate historischer Autoren: Hieroglyphen des chinesischen Dichters und Malers Mi Fu, Kalligrafien des japanischen Samurai Yamaoka Tesshu und des japanischen Zen-Meisters, Malers und Schriftgelehrten Gibon Sengai, Auszüge des Briefes Ludwig van Beethovens an seine „Unsterbliche Geliebte“ und aus der Deutschen Ideologie (Karl Marx, assistiert von Friedrich Engels).“ Eine ebenso politische, ästhetische wie poetische Arbeit.

Ein wenig weiter im Aue-Pavillon und dann noch einmal etwas später die unmittelbar bestechenden Arbeiten von Romuald Hazoumé. Zunächst die zu Gesichtern ummodellierten Plastikbenzinkanister, eine ebenso ironische wie überzeugende Arbeit. Und zugleich gefällt sie auch. Dass ihm die allgemeine Kunstgeschichte egal sei – wie es kolportiert wird – mag man angesichts der visuellen Intertextualität der Arbeiten kaum glauben. Sicher aber leben diese Kunstwerke zugleich vom Reichtum der eigenen Kultur.

Die andere Arbeit von Romuald Hazoumé ist sein „Dream“-Boot, dass er vor einem großen Strandfoto aus leeren Plastikbenzinkanistern montiert hat. Auch das ist ebenso ironisch-archaisch wie existenziell. Man genießt die pittoreske Montage, um dann von der verzweifelten sozialen Realität eingeholt zu werden. Die Arbeit auf die Spiegelung sozialer Realitäten zu reduzieren, wäre aber verfehlt. Sie ist beides: kultureller Ausdruck und sozialer Protest, gerade darin ist sie so überzeugend.

Simryn Gills Skulptur Throwback – Remade internal systems from a model 1313 Tata truck ca. 1985 aus dem Jahr 2007 ist ein weiteres beachtenswertes Werk auf der documenta. Die 1959 in Singapur geborene Künstlerin hat das harte Material und die harte Form des Getriebes eines LKW in weiche Materialien (Flussschlamm, Kokosnussschalen, Mangoschalen) transformiert. Das zerstört die Funktionalität des Gegenstandes unter Beibehaltung der äußeren Formgestalt. Das ursprünglich in Deutschland entworfene Innere der Maschine hat die Künstlerin transformiert nach Deutschland zurückgebracht.

Nur wenige Malereien sind auf dieser Documenta zu finden. Dazu gehören etwa die schwer erträglichen Arbeiten von Juan Davila, von denen mir noch niemand sagen konnte, was sie eigentlich auf der documenta zu suchen haben. Dieser Rückfall in den puren agitatorischen Sensualismus ist völlig deplatziert. Nicht einmal als ironische Infragestellung kann man das durchgehen lassen.

Anders ist es mit den Arbeiten von Monika Baer im Aue-Pavillon, die ich tatsächlich zu den Entdeckungen und Bereicherungen dieser d12 rechnen würde. Ihre komplexen Arbeiten entziehen sich der oberflächlichen Betrachtung, erzwingen eine intensive Auseinandersetzung mit mehreren Stadien der Bilderschließung, die man durchlaufen muss. Natürlich gibt es die identifizierbaren Bildinhalte wie das Gesicht oder das in Einzelteile aufgelöste Rückgrat, aber damit kommt man noch nicht viel weiter. Ebenso gibt es die Komposition des Bildes und die romantische Stimmung, die es ausstrahlt. Aber das sind nur Details, die nur unzureichend das Ganze beschreiben. Einmal auf der Spur der Bilderschließung kommen immer mehr neue Entdeckungen und Wahrnehmungen hinzu.

Neue Galerie

Die Neue Galerie erscheint als rechte Grab- oder Dunkelkammer. Man tastet sich von einem verdunkelten Raum zum nächsten, ab und an durchbrochen von einigen Lichterscheinungen. Sicher ist die Konstruktion der Neuen Galerie für eine Ausstellungen zeitgenössischer Kunst überaus museal und daher schwer zu inszenieren. Aber das kann auch eine Herausforderung sein. Auch in diesem Gebäude gibt es wieder einige Unsäglichkeiten wie den geschmacklosen AIDS-Raum von Churchill Madikida, der in und mit Stereotypen nur so schwelgt. Das Pathos, das Freddy Mercury seinerzeit noch gut angestanden hat, wirkt hier nur noch peinlich. Die simple Geste der Steine vor dem Fridericianum, die einen noch vor jedem Betreten des Gebäudes zusammenzucken lässt, ist unendlich überzeugender als diese Arbeit.

Faszinierend dagegen die Arbeit The Lightning Testimonies (2007) von Amar Kanwar im Erdgeschoss der Neuen Galerie, ein simultaner Erzählraum des Leides, der Verzweiflung und des „bloßen Lebens“. „Das Video beinhaltet zahlreiche Elemente, die zusammen eine vielfältige und doch verbundene Struktur bilden, die immer wieder auf „tief verborgene” Erzählstränge zurückgreift. Diese Erzählungen sind dem Künstler auf seinen Reisen durch Indien und Bangladesch begegnet. Zentral für die Arbeit sind die Erfahrungen von Frauen, besonders im Hinblick auf das Problem der sexuellen Gewalt … Wie die Menschen gegen eine derartige Gewalt Widerstand leisten, wie dieser aufgezeichnet, erinnert und als Erzählung verstanden wird, gehört zu den Hauptaspekten des Films.“ Kanwar erreicht mit der Arbeit eine ungeheure Intensität, obwohl der Betrachter anfangs gar nicht weiß, welchen der zahlreichen Bildwänden er sich eigentlich zuwenden soll.

Das ‚Heiligtum’ in der Neuen Galerie ist traditionell der Raum mit der Arbeit von Joseph Beuys. In der aktuellen Inszenierung ist dieser Raum nun von der Installation „Eclipsis“ von Gonzalo Diaz „besetzt“. Wer den verdunkelten Raum betritt, stößt auf eine kreisrunde Lichtprojektion an der Stirnwand des Raumes. Viele Besucher schauen sich das an und verlassen dann den Raum wieder. Nur wer selbst in den Lichtkegel unmittelbar vor der Stirnwand tritt kann die „Schrift an der Wand“ entziffern: „Du kommst zum Herzen Deutschlands, nur um das Wort Kunst unter deinem eigenen Schatten zu lesen“. Das ist mehr als bloß nur ironisch, es reflektiert präzise den Zusammenhang von Medienhype, Kommentar, Wahrnehmung und Kunst.

Andrea Geyers 200 Bilder umfassende Fotoserie „Spiral Land“ ist im ersten Geschoss der Neuen Galerie in Auswahl zu sehen. Wer den langen Gang entlang geht, sieht jeweils zwei Bilder nebeneinander und einen Text. Die Bilder zeigen das gleiche Motiv, sind nur etwas in der Perspektive versetzt, so dass man fast das Gefühl bekommt, eine entsprechende Apparatur vorausgesetzt, man könne einen stereoskopischen Blick auf die Landschaft werfen und so mehr Plastizität und Authentizität zu erreichen. Zur Information über ihre Bilder heißt es bei der documenta: „Geyer ist mehrfach in den Südwesten der USA gereist, um die weite Landschaft und die kulturellen Zeichen der amerikanischen Ureinwohner zu fotografieren – wie in Felsen eingeritzte Spiralen, die Veränderung von Zeit und Raum symbolisieren. In der Geschichte der USA haben sich viele verschiedene Kulturen und Gruppen diese Gegend angeeignet, um daran ihre Identität festzumachen. Zuerst diejenigen, die heute und seit zig Generationen dort leben, insbesondere viele Pueblo-Gesellschaften, dann die spanischen und später die amerikanischen Siedler, die kamen, um dieses „unentdeckte“ Land für sich zu beanspruchen und auszubeuten.“

Zur Intention der Fotoserie verkündet der Kommentar der documenta: „Mit Spiral Land fragt Andrea Geyer nach dem Verhältnis von Identität und Land, denn sie geht davon aus, dass Grundbesitz beziehungsweise die Bindung an einen Ort konstitutiv für kulturelle Identitäten ist. Fotografie spielte schon früh eine maßgebliche Rolle bei der Prägung des anglo-amerikanischen Verständnisses von dieser Region, wie es etwa die inszenierten Portraits von Edward Curtis deutlich machen. Die Schwarz-Weiß-Fotografien und lyrischen Textpassagen von Andrea Geyer kritisieren „das technisch Erhabene des modernistischen Fortschritts, der die Gewalt des amerikanischen Imperialismus rationalisierte“. Andrea Geyer nähert sich der Landschaft, in die sich die Kulturgeschichte der Ureinwohner eingeschrieben hat, mit einem archäologischen und politischen Blick und liest sie „wie ein Dokument“. Die Landschaft ist aber auch Projektionsfläche für die verdrängte Geschichte, die sie wieder an die Oberfläche bringt.“ Meines Erachtens ist es aber gerade das Scheitern dieser Intention, das die Arbeiten von Andrea Geyer so interessant macht. Die Bilder fassen eben gerade das nicht, was sie intendieren. Sie können die verdrängte Geschichte nicht an die Oberfläche bringen und gerade das macht so fassungslos. Weder das Nomadische noch das Invariante kann wirklich eingefangen werden, es ist und bleibt eine Zutat, die der Betrachter (oder der Künstler per Text) in die Bilder einbringen muss.

Schloss Wilhelmshöhe

Wer sich in die Gemäldegalerie im Schloss Wilhelmshöhe begibt, trifft noch einmal auf eine Reihe von Kunstwerken, die in den Kontext der dortigen Werke situiert wurden. Das ist nicht ohne Reiz, denn die dortige Sammlung hat ihre eigene Spannung. Wer in das obere Stockwerk kommt, sieht dort den religionsästhetischen Ordo des beginnenden 17. Jahrhunderts umschrieben: auf der einen Seite der „katholische“ Peter Paul Rubens und auf der anderen Seite der „protestantische“ Rembrandt van Rijn. Ob aber die Besucher diesen künstlerischen Religionskonflikt überhaupt noch wahrnehmen, ist eher unwahrscheinlich.

In den beeindruckenden Kontext sind nun Werke der documenta eingeschrieben, etwa eine Arbeit von Zofia Kulik im Kontext der männlichen Selbstrepräsentation. Das neunteilige, symmetrisch angelegte Tableau The Splendour of Myself (version II) (1997) wird geprägt von ihrem Selbstportrait im Zentrum des Bildes. Dabei hält sie eine Rübe in der einen und eine Gurke in der anderen Hand, deutbar als sinnfälliges Zeichen für die Geschlechter. In den oberen Ecken des Bildes stecken Sichel und Kreuz – ebenso sinnfällige Symbole des Sozialismus und des Christentums. In diesen Symbolisierungen ist das Bild der Künstlerin gerahmt. Ob das dem Kontext standhält, ist aber fraglich.

Kerry James Marshall hat seine vierteilige Arbeit „Lost Boys“ (1993) ebenfalls in den Kontext der Galerie platziert. Ikonenförmig und mit diversen Zeichenelementen angefüllt zeigt Marshall dabei schwarze Jungen aus den Vorstädten, die nun in das bürgerliche Repräsentationssystem der Gemäldegalerie eingebunden werden. Ihm geht es nicht zuletzt darum, Möglichkeiten einer „schwarzen Ästhetik“ zu erkunden.

Mit der Arbeit „Das Konzentrationslager der Liebe“ (2007) von Sonia Abian Rose stoßen wir wieder auf eine im besten Sinne des Wortes grenzwertige Arbeit dieser documenta. In einem komplexen Beziehungsgeflecht zu den üblicherweise in einer Gemäldegalerie gezeigten Werken und Künstlern, konfrontiert Abian Rose das Konzentrationslager Auschwitz mit dem Versprechen der Liebe, das sich aber faktisch als Bordell erweist. Präsentiert wird das Ganze in und mit einer hölzernen Kommode mit ausziehbaren Schubladen.

Der Betrachter kann Lade für Lade herausziehen, sich dabei Musik von Carlos Piegari anhören und die Bilder betrachten. Das erste Bild greift auf eine dekorative Tischmalerei von Martin Schaffner aus der Gemäldegalerie zurück, die sie nun uminszeniert und in neue Konstellationen bringt. Zwei Laden zeigen Aufzeichnungen des ehemaligen Auschwitz-Insassen Wladyslaw Siwek, der das Lagerleben vor Ort in zahlreichen Zeichnungen und Aquarellen dokumentiert hat. So wird in Annunciation in Block 11 Botticellis sakraler Verkündigungsengel mit der weißen Lilie als Zeichen von Unschuld und Reinheit, der in diesem Kontext keine frohe Botschaft verkündet, in ein solches Aquarell eingefügt.

Die Kommode steht nun mit ihrem erschreckenden  kultur- und menschheitsgeschichtlichen Inhalt vor einigen Werken Lukas Cranachs bzw. seiner Werkstatt, etwa den Porträts von Martin Luther und Philipp Melanchthon, vor der Selbsttötung der Lucretia und vor einer die Rechtfertigungslehre verdeutlichenden Kreuzigungsdarstellung. Und der Betrachter muss sich fragen, was das eine mit dem anderen verbindet.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/48/am216.htm
© Andreas Mertin