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Magazin für Theologie und Ästhetik


Harun Farocki

Eine Werkschau

Karin Wendt

Die Beobachtung, dass die Grenze zwischen dem Ästhetischen und dem Nicht-Ästhetischen, welche man lange als Moment des Nichtidentischen, als Einbruch des Schreckens und als Bruch mit der vertrauten Wahrnehmung beschrieben hat, unscharf geworden ist, ist nicht neu. Neu ist, dass diese Unschärfe als Mangel an Differenzierung erlebt wird, ein Mangel, der nach neuen Strategien der Sensibilisierung fragen lässt. So erscheint es bezeichnend, dass das filmische Werk von Harun Farocki, der seit den 70er Jahren das Augenmerk auf die Pathologien unserer Gesellschaft lenkt, wieder entdeckt und retrospektiv bearbeitet wird.

Der Westfälische Kunstverein in Münster zeigt noch bis zum 5. August eine Auswahl seiner Arbeiten auf Video, sowie zwei Installationen. Ergänzend ist die Publikation Nachdruck erschienen, eine Zusammenstellung von Texten des Filmemachers aus den letzten drei Jahrzehnten. "Sie geben Einblick in Farockis filmische Arbeit und die sie leitende Fragestellung nach dem Status, der Produktion und Wahrnehmung medial und technisch vermittelter Bilder. Farocki, ein kritischer Beobachter des politischen und kulturellen Geschehens, legt mit seinen Filmen und Texten verborgende Gehalte der Bilder unter dem Schutt der Codierungen frei, die sich im Lauf ihrer Entstehung, ihres Einsatzes in den verschiedenen Medien und ihrer Rezeption darüber gelegt haben. Farockis dekonstruierende Reflexionen überraschen immer wieder und setzen über den Film hinaus neue Maßstäbe für die Bild-Künste."(1)

Farocki, geboren 1944 in Nový Jicin (Neutitschein), gelegen in dem damals von den Deutschen annektierten Teil der Tschecheslowakei, gehört zu den wichtigsten Vertretern des zeitgenössischen Dokumentarischen Films. Als Student der deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) dreht er Ende der 60er Jahre politische Agitationsfilme gegen den Vietnamkrieg. Später folgen Lehrfilme. Aufgrund seines politischen Engagements wird er von der Filmakademie relegiert und arbeitet zehn Jahre als Redakteur der Zeitschrift "Filmkritik". Mehrere Jahre dauert seine Arbeit an dem Film Zwischen zwei Kriegen, der 1977 fertiggestellt, internationale Aufmerksamkeit erlangt. In den folgenden zwei Jahrzehnten entsteht ein umfangreiches Oeuvre, das drei Spielfilme, essayistische Filmexperimente, Filmgeschichtliches und Dokumentationen umfasst. Seit 1993 lehrt Farocki an der University of California, Berkeley, und seit dem letzten Jahr auch wieder in Berlin, an der Filmakademie und der HBK. Mit Stilleben, einem Filmessay über die heutige Werbefotografie, war er Teilnehmer der documenta X. In den letzten Jahren sind u.a. Installationen über Gefängnisse und shopping-malls in den USA entstanden. Nachweise zu allen Filmen von Harun Farocki findet man unter www.farocki-film.de.

Tilman Baumgärtel hat in seiner Monographie über den Filmemacher gezeigt, wie sich an Farockis Werk ein exemplarischer Prozess der ästhetischen Bewusstwerdung vollzieht, in dessen Verlauf sich das filmische Anliegen "vom Guerillakino zum Essayfilm" wandelt.2 Farockis Annäherung an die eigene Tätigkeit erfolgt in fünf Phasen: Auf die kurze Phase der Agitation (die Lehrfilme) folgt nahezu übergangslos die Phase der Realisation (die Autorenfilme). Es kommt zu einem ersten Rewind, dem Zurückbeugen auf das eigene Handwerk, daran schließt sich die Phase der Dokumentation (die Beobachtungsfilme), die schließlich in die Phase der Reflexion (die Essayfilme) mit Versionen (die Found Footage Filme) mündet.

Farockis installative Arbeiten verknüpfen den politisierenden Blick mit der Reflexion auf das Filmen in Form des kommentierenden Films. Sie appellieren dabei an die Deutungskompetenz des Betrachters. So zeichnet die jüngste Installation Ich glaubte Gefangene zu sehen zunächst ein Protokoll der Überwachungsmechanismen in amerikanischen Gefängnissen, zuletzt ein Portrait von Gefangenen der Sichtbarkeit.

Harun Farocki, Westfälischer Kunstverein Münster, 29.06. - 05.08.01
Anmerkungen
  1. Harun Farocki: Nachdruck/Imprint Texte /Writings, hg. von Susanne Gaensheimer und Nicolaus Schafhausen, o.O. 2001.
  2. Tilman Baumgärtel: Vom Guerillakino zum Essayfilm: Harun Farocki. Werkmonographie eines Autorenfilmers, Würzburg 1997.

© Karin Wendt 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 12/2001
https://www.theomag.de/12/kw6.htm


 
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Tilman Baumgärtel: Vom Guerillakino zum Essayfilm: Harun Farocki, Würzburg 1997