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Magazin für Theologie und Ästhetik


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Über Google-Print und das seltsame Vergnügen, alte Texte zu lesen

Andreas Mertin

Fundstück III

Mein drittes Fundstück zum Verhältnis von Religion und Kunst bzw. Religion und Kultur ist das Buch "Die Grundbegriffe der Gegenwart, historisch und kritisch entwickelt" von Rudolf Eucken, 1893 erschienen. Nach all den „Verirrungen“ und Beschränktheiten ist es außerordentlich erfrischend, weil es das erhellendste und aufgeklärteste Buch aller Fundstücke ist. Rudolf Eucken (1846-1926) war ein deutscher Philosoph und Träger des Literaturnobelpreises, den er erhielt "auf Grund des ernsten Suchens nach Wahrheit, der durchdringenden Gedankenkraft und des Weitblicks, der Wärme und Kraft der Darstellung, womit er in zahlreichen Arbeiten eine ideale Weltanschauung vertreten und entwickelt hat". Aber auch Eucken stand – wie seine Haltung im 1. Weltkrieg zeigt – der nationalen Idee nahe.

Sein Buch „Die Grundbegriffe der Gegenwart“, nicht sine ira et studio geschrieben, wie Eucken betont, versucht dem Leser jenseits der Banalität des Alltags und eines um sich greifenden Dogmatismus „zu einer selbständigen Beurteilung der Zeit zu führen“. Zu den ausgewählten erörterten Begrifflichkeiten wie „subjektiv – objektiv“, „Erfahrung“, „Individualität - Gesellschaft – Sozialismus“, „theoretisch – praktisch“ gehören dann auch als letzte „Immanenz und Transzendenz“ mit der näheren Erläuterung: das religiöse Problem.

„Hinter dem Schlagwort der Immanenz steht ein überaus mächtiges und wirksames Streben der Neuzeit“ Gegenüber dem Mittelalter wieder der Wirklichkeit zugewandt, die uns umgibt, findet sie hier ungeheure Aufgaben und ist vollbeschäftigt mit ihrer Lösung. Sie will die Welt erklären aus der Welt, das ergibt die moderne Wissenschaft, vornehmlich die Naturwissenschaft; sie will unser Dasein bei sich selbst vernünftig und glücklich machen, das ergibt die praktische Kutur; sie vertraut in allem der eigenen Kraft und Tüchtigkeit des Menschen, das ergibt eine völlige Abwendung von spezifisch religiösen Stimmungen. Der Kampf für das Neue richtet sich zunächst gegen das Mittelalter, aber ihr schroffstes Gegenstück hat die Neuzeit nicht im Mittelalter, sondern in der Epoche der Verschmelzung des ausgehenden Altertums mit dem siegreichen Christentum.“ Der dort formulierte Anspruch der christlichen Religion ist aber unvereinbar mit der Freiheit der Kultur: „So besteht in der Neuzeit eine gewaltige Spannung zwischen Religion und Kultur; in der Berührung fürchtet die Religion für ihre Tiefe und Thatsächlichkeit, die Kultur aber für ihre Weite, Freiheit und reine Menschlichkeit. In der Isolierung aber droht jene eng und starr, diese glatt und flach zu werden.“ Als verschärfendes Problem kommt die kirchliche Gestalt der Religion, alos ihre notwendige kulturelle Gestalt hinzu: "Denn das Ganze des menschlichen Daseins erfassen und durchdringen kann sie [die Religion] nicht, ohne in seine Formen einzugehen und sich ihnen anzupassen; sie tritt damit auch in eine Beziehung zur jeweiligen Kulturlage und gerät zugleich in eine gewisse Abhängigkeit von ihr. Nun sind jene Formen ihrer Natur nach unzulänglich für das, was als Wendung des Daseins zum Absoluten alle Größen und Maße der Durchschnittswelt hinter sich läßt. Aber diese Unzulänglichkeit wird so lange nicht peinlich empfunden werden, als jene Anleihe von der Kultur der Höhe der geistigen Entwickelung entspricht; schwere Konflikte sind dagegen unvermeidlich, wenn die Religion in ihrer Gestaltung und Einkleidung eine Phase der Kulturarbeit festlegt, über welche die Bewegung thatsächlich hinausgegangen ist. Daß die Religion die Ansprüche, die sie für die begründenden Thatsachen erheben muß, auch auf jene Zeitform überträgt, ist wohl begreiflich, ja kaum vermeidlich; aber der Zwiespalt, in den sich dadurch weniger die Religion als die Erscheinungsform der Religion mit der Kultur verwickelt, wird dadurch nicht minder schädlich, schädlich vor allem für das Wirken der Religion selbst. Denn so gerät es in tausendfache Hemmungen und sieht sich Feinden gegenüber, denen es sich innerlich weit überlegen fühlt, und die es doch auf dem Gebiete des Zusammenstoßes nicht überwinden kann. In einer solchen Lage befindet sich aber die Gegenwart."

Was Eucken vor den zuvor vorgestellten Autoren Fessler und Ranke auszeichnet, ist seine Diagnostik der Gegenwart. Er hat den von der Aufklärung bewirkten Bruch zwischen Religion und Kultur nicht nur wahrgenommen, sondern zur Grundlage seines Denkens gemacht. Und er beschreibt präzis das Problem, dem die vorherigen Autoren unterlegen sind: unzeitgemäß eine Form der Kultur zu fixieren, „über welche die Bewegung thatsächlich hinausgegangen ist“. Ob die Kirchen zwischenzeitlich in den folgenden 100 Jahren eine Lösung des Problems entwickelt haben, ist fraglich. Noch immer gilt weitgehend, dass sie auf Formen der Kultur setzen, über die die Eigenbewegung der Kultur längst hinausgegangen ist.