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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lektüren XVII

Aus der Bücherwelt

Andreas Mertin

Expertenkulturen

Die Artikel von Gabriele Goettle in der taz, die in regelmäßigen Abständen später in Bänden der von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen Anderen Bibliothek veröffentlicht werden, gehören zum Lesenswertesten, was die taz und die Andere Bibliothek zu bieten haben. Bisher waren vier Bände von Gabriele Goettle in der Anderen Bibliothek zu lesen: Deutsche Sitten (1991), Deutsche Bräuche (1994), Deutsche Spuren (1997) und Die Ärmsten! Wahre Geschichten aus dem arbeitslosen Leben (2000). Was Gabriele Goettle jeweils zusammengetragen und präzise beschrieben hat, bringt mehr Erkenntnis über die bundesdeutsche Gesellschaft als viele soziologische Studien. Aktuell liegt nun der neuste Band Experten vor, bei der Gabrielle Goettle "über dreißig Vertreter dieser scheuen Spezies zum Reden gebracht hat" - wie es so schön auf dem Klappentext heißt.

Ob Experten tatsächlich eine scheue Spezies darstellen, sei dahingestellt, zumindest in den Gesprächen mit Gabriele Goettle erweisen sie sich als ganz normale Wesen. Der Exotismus, der sich ab und an einstellt, liegt eher an der beruflichen Tätigkeit, als an der Person. Der Tierpräparator, der Ethnopsychoanalytiker, die Schlachthofveterinärin, der Kriminalbiologe haben eben exotische Berufe, sind deshalb noch keine exotische Menschen.

Es ist beeindruckend, wie in den Interviews, wie in allen vorigen Büchern auch, wesentliche Daten vorgestellt und die Persönlichkeiten hinter den Daten sichtbar gemacht werden. Goettle schreibt mit viel Liebe zu den Details der die Protagonisten umgebenden Lebenswelten. Nicht alle Interviews gelingen, aber das lässt sich bei der Fülle der Vorstellungen verschmerzen. Was mich ab und an mehr gestört hat, war der latente Hang zum linken Konservatismus, zu gewissen Stereotypen und historisch zumindest holzschnittartigen Darstellungen. Etwa wenn Prostitution als historisch ehrbarer Beruf dargestellt wird, der vom Christentum dann verächtlich gemacht wurde. Dass das Christentum bewusst eine Prostituierte in die Ahnengeschichte Jesu "eingebaut" hat, dass das christliche Mittelalter Prostituierte nicht ausgegrenzt hat, wird so unterschlagen. Vermutlich war es eher das Bürgertum, dass zu exzessiven Verfolgung und Ausgrenzung von Prostitution im Interesse der Familienordnung geführt hat. Fehlerhaft ist es auch, wenn im Kapitel über Josef Weizenbaum die Genese des WWW in die 70er Jahre und des Internets in die 90er Jahre datiert wird (umgekehrt ist es eher richtig). Spätestens bei der Drucklegung für das Buch hätte das korrigiert werden müssen.

Dafür entschädigen aber viele Gespräche mit atmosphärisch dichten Beschreibungen und auch mit neuen Erkenntnissen. Mich persönlich hat besonders das Gespräch mit Rolf Landua beeindruckt, einem Experimentalphysiker an der CERN. Vielleicht deshalb, weil es nicht nur mit physikalischen, sondern auch mit metaphysischen Fragen zu tun hat:

"Es ist doch sehr wichtig, daß die Leute sehen, daß die Physik, mehr als sie denken, mit ihnen selbst zu tun hat, mit ihrem Ursprung und mit ihrem Universum. Das ist den meisten Menschen ja gar nicht so vertraut, dieser Gedanke. Und für viele ist es eine interessante Information, daß jedes einzelne Atom in unserem Köper mindestens sechs Milliarden Jahre alt ist - wenn nicht sogar fünfzehn. All diese Teilchen, die da in uns herumschwirren, die kommen mehr oder weniger direkt vom Urknall und haben sich seitdem nicht mehr verändert, sind nur in verschiedene Strukturen eingebaut worden ... Oder eine andere Information, die auch ein Gefühl dafür vermittelt, wie viele solcher Teilchen eigentlich pro Kubikzentimeter umherschwirren: Also jedesmal, wenn Sie einatmen, geschieht es ... Nehmen wir einen Schriftsteller, vielleicht Kafka: Vom letzten Atemzug, den er getan hat, bevor er starb, ist eines dieser Atome jetzt im Moment in Ihrer Lunge.«"

Ebenso interessant und erhellend ist das Gespräch mit der Human-Genetikerin Sillja Samerski:

»Ich habe eine ganze Weile nachgedacht, darüber gegrübelt, wie es sich außerhalb des Labors über das >GEN< reden läßt, ohne dem populistischen Gen-Gerede auf den Leim zu gehen. Das ist ja wirklich spannend, daß es jetzt sogar auf den Wahlplakaten auftaucht, man kann bereits an etwas Verinnerlichtes appellieren. Ja ... die Leute lesen es heute sogar im Feuilleton oder diskutieren am Stammtisch darüber, ob adulte Stammzellenforschung besser ist als embryonale. ...
>GEN< ist nichts anderes als ein Konstrukt für die leichtere Organisation von Daten, es ist nicht mehr als ein X in einem Algorithmus, einem Kalkül. Aber außerhalb des Labors wird es dann zu einem Etwas gemacht, zu einem scheinbaren Ding mit einer wichtigen Bedeutung, mit Information für die Zukunft ... über das sich anschaulich und umgangssprachlich reden läßt. Es ist doch sehr fraglich, ob man umgangssprachlich über Variablen von ... oder den Bestandteil eines Kalküls oder Algorithmus sprechen kann, ob sich also überhaupt außerhalb des Labors sinnvolle Sätze über >GENE< bilden lassen, die von irgendeiner Bedeutung sind.

Weitere Gespräche beschäftigen sich mit folgenden Experten: Taxidermist * Hure * Ethnopsychoanalytiker * Experimentalphysiker * Schlachthof-Veterinärin * Orthopädischer Schuhmacher * Kriminalbiologe * Werkzeugmacher * Mathematiker * Rohrpostmeister * Computerwissenschaftler * Blindenlehrer * Kulturkritiker * Hochseilartistin * Hirnforscher * Wasserwerksdirektor * Biowaffenexperte * Parasitologe * Neurologe * Bombenentschärfer * Kanalarbeiter Sozialpsychiater * Prominentenschneider * Prionenforscher * Blutexperte * Plasmaphysiker und Müller * Gerichtsmediziner * Hebewerksingenieur * Schneekugelfabrikant

Ein empfehlenswertes Buch.


© Mertin 2004
Magazin für Theologie und Ästhetik 31/2004
https://www.theomag.de/31/am125.htm