Playlist Musik-Videos

Andreas Mertin

Meine erste Playlist für Musikvideos habe ich Ende des letzten Jahrtausends erstellt: für mein Buch „Videoclips im Religionsunterricht. Eine praktische Anleitung zur Arbeit mit Musikvideos“. Das waren im Nachhinein gesehen überschaubare Zeiten, Jahr für Jahr erschienen nur etwa 100 Musikvideos, viele davon zweitrangig und die wenigen Perlen waren schnell gefunden. Heute wäre eine derartige systematische Überprüfung gar nicht mehr möglich. Mit dem Beginn von Youtube im Jahr 2005 und der damit gegebenen Möglichkeit für die Nutzer:innen, sich selbst Musikvideo-Playlists zusammenzustellen, explodierte die Zahl der Musikvideos, bis schließlich allein im Jahr 2014 ganze 11.000 Musikvideos auf den Markt gebracht wurden – also 30 Videos am Tag. Eine Bilderflut sondergleichen. Kurz darauf brach der Markt ein und erholt sich seitdem erst langsam wieder. Dennoch steigen die Abrufzahlen weniger Musikvideos ins Gigantische – über 8 Milliarden Aufrufe erreichen einzelne Clips – ohne, dass ich mir erklären könnte, warum. 2014 habe ich selbst dann aufgehört, mich systematisch mit Musikvideos auseinanderzusetzen, weil der Aufwand einfach zu groß wurde. Nur gelegentlich greife ich noch welche im Theomag auf, 2022 etwa zu Adele, zum Ukrainekrieg in der Popkultur, zu Pink Floyd und zu Taylor Swift. Immerhin. Im Folgenden stelle ich nun eine Playlist jener Musikvideos zusammen, mit denen ich mich im Verlauf der Zeit am intensivsten beschäftigt habe.


1.           Madonna - Like a Prayer (1989)

Das ist das Musikvideo, mit dem ich in der ersten Hälfte der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts die eigenen Forschungen zur Religion in der Popkultur begonnen habe. Zwar ist es in Auflösung und Inszenierung heute nicht mehr state of art, aber dennoch halte ich es weiterhin für das beste Musikvideo für Einsteiger:innen, um zu lernen, wie komplex derartige kulturindustrielle Produkte aufgebaut sein können. Die Story selbst ist schnell rekapituliert: Madonna beobachtet beim Verlassen eines Hauses ein Verbrechen, für das dann ein Farbiger zu Unrecht verhaftet wird. Sie flieht panisch, gerät in eine Kirche und hat dort eine mystische Erfahrung mit einem Heiligen, die ihr klarmacht, dass – nachdem Jesus die Welt verlassen hat – nun der/die einzelne in die Nachfolge gerufen ist. Sie geht daraufhin zur Polizei und klärt die Sachlage. Umgesetzt wird das außerordentlich anspielungsreich unter Aufnahme lokaler Heiligentraditionen und auch unter Einbeziehung gender-theoretischer Überlegungen. Mary Lambert, die Regisseurin des Musikvideos orientiert sich an der Hamburger Dramaturgie, sie baut das Geschehen kunstvoll auf, lässt es in der Peripetie umschlagen und zum Epilog kommen. Ein sehr beeindruckendes Werk.


2.           Madonna: Bedtime Story (1994)

Diesen leider allzu oft übersehenen Clip von Madonna habe ich deshalb für diese Playlist ausgewählt, weil ich mich nicht nur selbst intensiv damit auseinandergesetzt habe, sondern auch, weil Jörg Herrmann in der letzten Ausgabe des Magazins so entschieden auf das Gefühl für die (Be)Deutung der Religion hingewiesen hat. Und genau darum geht es in dieser Gute-Nacht-Geschichte, die Madonna uns nicht nur erzählt, sondern auch virtuos vor Augen führt. Madonna setzt sich im Musikvideo und im Liedtext unter Bezug auf diverse Religionen (Christentum, Judentum, Islam) und Konfessionen (z.B. der Sufi-Tradition) mit der Frage der Bedeutung von Lehre, Dogma und Rationalität einerseits und Begehren, Bewegen und Gefühl andererseits für das religiöse Erleben auseinander. Das macht sie in einer opulenten und anspielungsreichen Bilderwelt. Zugleich erzählt sie aber auch eine in sich konsistente und logische Geschichte der Befreiung von der Wort-Religion. Sie plädiert letztlich, sich von der dogmatischen Ausrichtung der Religionen abzuwenden und sich dem Unbewussten zu öffnen und damit ganz eigene Erfahrungen zu machen.


3.           REM – Losing my religion (1991)

Dieses Musikvideo ist eine überaus überraschende Montage von Verweisen auf die ältere und die neuere Kunstgeschichte. Das verbindende Thema ist die Notwendigkeit, sein Bekenntnis zu wählen, sich konfessorisch in der Welt zu verhalten: sei es in der Diversitätsfrage, der Identitätspolitik, den Genderdebatten oder eben auch in Politik und Religion. Das wird an nachgestellten Kunstwerken verdeutlicht, die drei Groß-Erzählungen zugeordnet sind: der bunten Welt der asiatischen Religionen, der Erzählwelt des Christentums und schließlich der Revolutionserzählung des Sozialismus/Kommunismus. Den asiatischen Religionen werden dabei Bilder von Pierre & Gilles zugeordnet, den christlichen Konfessionen Bilder von Rembrandt und Caravaggio, dem rationalistischen Sozialismus Bilder von Leonardo da Vinci. Dazwischen agiert die Gruppe mit Anspielungen auf Bilder von Rene Magritte. [Bei der Recherche für dieses Magazinausgabe musste ich feststellen, dass R.E.M. nachträglich das Musikvideo verändert hat und eine Anspielung auf den Ungläubigen Thomas von Caravaggio entfernt hat. Die Gründe dafür sind nicht ersichtlich, vielleicht erschien ihnen das „Rühren in der Wunde“ zu brutal.]


4.           Metallica - Until it sleeps (1996)

In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts gab es einen regelrechten Wettstreit darum, welches Musikvideo am intensivsten religiöse Motive in die Inszenierung zu integrieren imstande war. Und Metallicas Video zu „Until it sleeos“ war ein heißer Kandidat auf die Krone des Wettbewerbs. Eigentlich war es ungewöhnlich für eine Heavy-Metal-Band ausgerechnet religiöse Motive aufzugreifen, aber hier war es ein biografischer Anlass, der dazu führte. Der Vater des Bandleaders war an Krebs verstorben und hatte bis zuletzt gut fundamentalistisch gefragt, womit er diese Gottesstrafe verdient hat. Diese Panik thematisiert das Musikvideo, indem es zahlreiche Werke von Hieronymus Bosch aufgreift und in die Botschaft des Videos integriert. Ja, es gibt das Leiden des Unschuldigen und es gibt ein historisches Leiden, das Sinn gemacht hat. Damit ist nicht die Sinnhaftigkeit des Leidens erwiesen, wohl aber die Möglichkeit der Klage über den schrecken dieser Welt. Und diese Panik, die jeder Todkranke hat, war eben auch Teil der Biografie des Jesus: Lass diesen Kelch an mir vorübergehen. In den Worten von Metallica: And the pain still hates me, so hold me, until it sleeps.


5.           Guns & Roses: November Rain (1992)

Als Klassiker der videoästhetischen Bearbeitung der rites de passage, also der Übergangsriten, kann man das opulente Video zu „November Rain“ bezeichnen. Das aufwendig produzierte Musikvideo gehört zu den teuersten in der Geschichte dieses Genres. Die Langversion des Videos dauert 9:16 Minuten. In zwei Kapiteln erzählt es vom Zusammenkommen eines jungen Musiker-Paares (dargestellt von Axl Rose und Stephanie Seymour), vom Kennenlernen in der Kneipe bis zur hochdramatisch inszenierten Hochzeit in einer der großen Stadtkirchen. Nun erfolgt ein musikalisches Intermezzo, bei dem der Musiker Slash ein atemberaubendes Solo vor einer Südstaatenkirche in einer Steppenlandschaft spielt. Wenn sich die Geschichte fortsetzt, wird die Hochzeitsfeier von einem Sturzregen unterbrochen und umstandslos stehen wir dann vor dem Sarg der Braut, die sich offenbar das Leben genommen hat. Der Epilog verweist auf die literarische Vorlage, eine Erzählung, die von einem Rockstar handelt, der einer Partnerin hinterhertrauert, welche sich mit einem Kopfschuss das Leben nahm, nachdem sie ihn beim Fremdgehen erwischt hatte.


6.           Mylene Farmer: Je Te Rends Ton amour (1999)

Ich hätte nicht gedacht, dass dieses Lied und das dazugehörige Musikvideo auch nach fast einem Vierteljahrhundert noch so aktuell sind. 1999 erschienen, habe ich mich 2006 im Magazin intensiv damit befasst. Das damalige Video spielt in einer Zisterzienserkirche und erzählt von Zuwendung und Verrat, von Gewalt und Missbrauch, von Empowerment und Emanzipation. Eine junge Frau wird von einem Priester – so wird es zumindest angedeutet – im Kontext eines Beichtprozesses missbraucht und löst sich erst nach und nach von der gesamten Institution Kirche und von Jesus: Du hast mich betrogen – Du hast mich verlassen – Ich nehme meine Liebe zurück.

2019 hat Mylène Farmer dann eine aufregende neue Version des Musikvideos veröffentlicht, die sich in die Utopien und Dystopien des 21. Jahrhunderts einzeichnet. Sie erzählt nun visuell von der Schwierigkeit, Kontur zu finden, Identitäten auszubilden, ein Mensch zu werden, der die Ambiguitäten des Lebens aushält und sich nicht den Erwartungen der Umwelt anpasst.


7.           Cat Stevens / Yusuf: In the Blackness of the night (1967 / 2017)

Das ist ein Lied, das Cat Stevens zunächst 1967 veröffentlicht hat, damals noch ohne Musikvideo. Und es ist von einer erschreckenden Aktualität geblieben. Stevens schreibt auf seiner Seite zu diesem Lied: „Blackness of the Night“ war einer meiner ersten „Protest“-Songs der 60er-Jahre. Als ich nach dem Krieg in London aufwuchs, waren die Erinnerungen noch sehr präsent und die Stadt war von zerbombten Ruinen geprägt. Der Song spiegelt auch das Gefühl der Leere wider, wenn man nachts allein durch die Straßen wandert und darüber nachdacht, wie man in einer dunklen, unbekannten Zukunft überleben könnte. Aktuell hat das Lied eine große Relevanz für die Situation vieler Flüchtlingskinder, verloren und verlassen, die sich in einer feindlichen Welt von ihren Familien und ihrem Zuhause getrennt wiederfinden. 2017 re-aktualisiert Stevens, der zwischenzeitlich zum Islam konvertierte und sich nun Yusuf Islam nennt, das Lied und es entstand ein wunderbar anrührendes Zeichentrick-Video, das die aktuellen Fragen der Weltpolitik und der weltweiten Flüchtlingsbewegungen ansprechend umsetzte.


8.           Billie Eilish – All the good girls go to hell (2019)

My Lucifer is lonely – Mein Luzifer ist einsam, singt Billie Eilish in ihrem Ende 2019 veröffentlichten, endzeitlich zugespitzten Song „All the good girls go to hell”. Das Lied der 2001 geborenen Künstlerin ist ein Indiz dafür, dass die bisher vertraute Religionskritik in der Popmusik an ihr Ende gekommen ist (dazu ausführlicher mein Text im Loccumer Pelikan 3/2020). Selbstverständlich gibt es diese Kritik an der Religion weiterhin, aber sie ist rhetorisch trivialisiert, eine bloße Chiffre im Symbolreservoir kritischer Popmusiker. Stattdessen steht heute nicht mehr die Religion in Frage, sondern die gesamte Menschheit: Man is such a fool / Why are we saving him? Es ist, als ob Satan im Buch Hiob den Menschen nicht mehr als satisfaktionsfähig ansehen würde. Warum noch mit Gott um den Menschen streiten? Peter‘s on vacation, an open invitation – Pearly gates look more like a picket fence. Von Bewahrung der Schöpfung keine Rede mehr, das perlenbesetzte himmlische Jerusalem ist zum ölverschmierten Vorstadtghetto mit Bauzaun geworden. Billie Eilish wendet mit anderen Worten die Macht der religiösen (Bilder-)Sprache gegen die Religion. Die Enden der Religionskritik in der Popkultur lassen die Religion nicht los, sie fordern sie heraus.


9.           a-ha: Take on me (1985)

Am Beispiel des Musikvideos „Take on me“ von „a-ha“ lässt sich die durchgehende Fiktionalisierung der Lebenswelten beobachten. Am Anfang sieht man Bilder aus einem Comic: ein Motorradrennen voller Action. Dann wechselt die Perspektive und man sieht ein junges Mädchen in einem Bistro, das in diesem Comic blättert. Ihr gefällt der Held des Comics. Plötzlich kommt eine gezeichnete Hand aus dem Comic heraus und lädt das Mädchen ein, die Comic-Welt zu betreten. Sie ergreift die Hand und wird in den Comic hineingezogen. Es beginnt ein Verwirrspiel zwischen Realität, Virtualität und Fiktionalität.

Douglas Rushkoff charakterisiert den Clip so: „Wir betrachten Videos nicht, wir werden von ihnen eingenommen. Die erfolgreichsten Videos laden die Zuschauer zum Besuch in einer neuen Weltordnung ein ... Videos, die in der Tradition von ‘Take On Me’ stehen, laden zur Interaktivität ein. Wenn wir den Bildern in unseren Medien genügend Glauben schenken, so verspricht man uns, können sie für uns wirklich.“  Das Fiktionale, so die paradoxe Behauptung, kann Realität werden, etwas von seinem Geheimnis kann die Gegenwart bereichern.


10.        UNKLE: Rabbit in your headlight (1998)

Unter der Regie von Jonathan Glazer wurde UNKLEs geheimnisvoller Videoclip inszeniert. Der Clip ist vielfältig lesbar, er kann ebenso als alptraumartige Erfahrung des "Nicht-Wahrgenommen-Werdens", wie auch als Auseinandersetzung von Mensch und Technik, und als Paradigma atomisierter menschlicher Existenz in einer automatisierten Umwelt gedeutet werden.

Der Betrachter sieht zunächst einen Mann in einem Tunnel mitten über die Fahrbahn laufen, während die PKWs nur mit äußerster Mühe dem Hindernis ausweichen können. Der Mann redet pausenlos vor sich hin, beachtet die Umwelt in keiner Weise, sondern geht stetig seinen Weg, der ihn unausweichlich in Kollision mit seiner Umgebung führt. Bleibt er zunächst wie tot auf der Fahrbahn liegen, so rappelt er sich kurz darauf wieder auf und setzt seinen Weg unverdrossen fort. Immer zorniger in seiner Artikulation reißt er sich schließlich die Kleidung vom Oberkörper und bleibt - wie als ob ihn eine plötzliche Erkenntnis getroffen hätte - stehen. Er breitet die Arme aus und wartet auf die finale Kollision mit dem heranbrausenden Auto. Aber entgegen der Erwartung wird er nicht getötet, paradoxerweise zerbricht der Stahl des PKWs am Körper des Tunnelläufers, welcher nach und nach in einer verklärenden Staubwolke verschwindet.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/142/am782.htm
© Andreas Mertin, 2023