Atheistisch glauben?

Überlegungen im Anschluss an Hartmut von Sass

Jörg Herrmann

Meine Faszination für theologische Literatur hat seit dem Studium mit einigen Ausreißern mehr oder weniger stetig abgenommen. Aktuell gibt es unter dem Titel „Atheistisch glauben. Ein theologischer Essay“ aber wieder so einen Ausreißer zu vermelden.[1] Autor des bei Matthes & Seitz erschienenen schmalen Bändchens ist Hartmut von Sass, Titularprofessor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie und Inhaber einer Heisenberg-Stelle an der Humboldt-Universität zu Berlin, wie im Klappentext des Essays zu lesen steht, das sich mit 145 relativ kleinen Seiten gut auf einer längeren Zugfahrt bewältigen lässt. Darin erfährt man, dass sich Atheismus und Gottesglaube nicht ausschließen und dass der Abschied vom traditionellen Theismus die Voraussetzung für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis ist.

Titel und Intention erinnern unwillkürlich an ein älteres Werk, den im Jahr 1968 erschienenen Sammelband „Atheistisch an Gott glauben“ von Dorothee Sölle.[2] In dem titelgebenden Aufsatz „Atheistisch an Gott glauben? schrieb sie: „In einem Satz gefasst, ließe sich die Problematik gegenwärtiger Theologie beschreiben als ein ‚atheistisch an Gott glauben‘. Der paradoxe Ausdruck will sagen, dass Glauben hier als eine Art Leben verstanden wird, das ohne die supranaturale, überweltliche Vorstellung eines himmlischen Wesens auskommt, ohne die Beruhigung und den Trost, den eine solche Vorstellung schenken kann: eine Art Leben also ohne metaphysischen Vorteil vor den Nicht-Christen, in dem trotzdem an der Sache Jesu in der Welt festgehalten wird.“[3] Auf das Wort Gott wollte Sölle dabei nicht verzichten. Ihr ging es vor allem um den Abschied von einer bestimmten theistischen Gottesvorstellung, von dem Bild einer personalen Instanz, die jenseits von Raum und Zeit existiert und an einem Mischpult der Weltgeschichte unsere Geschicke lenkt.

In einem weiteren Aufsatz in dem besagten Band heißt es unter der Überschrift „Theologie nach dem Tode Gottes“: „Das Ende des Theismus ist, mit Nietzsche zu reden, nur eine der ‚Häutungen Gottes‘. Es ist die Frage an die Theologie heute, ob Atheismus und christlicher Glaube wirklich eine Alternative darstellen; ob sie nicht miteinander gelebt werden können und gelebt werden müssen, weil der Karfreitag der reale Tag unserer Geschichte ist, an dem die Sonne erlischt und der Mond verbleicht; weil Gott stirbt und nicht eingreift; weil unser Versöhntsein aussteht und nicht anschaulich wird. Es ist die Frage, ob man nicht, so wie früher innerhalb des Theismus, heute atheistisch an Gott glauben könne.“[4] In dem erstgenannten Text beantwortet sie diese Frage positiv und führt aus: „Christsein heißt nun nicht mehr: etwas sehen, was andere nicht sehen; es heißt nur, die eine Wirklichkeit anders zu sehen. Nicht, dass man sich an bestimmte Inhalte klammert, die zusätzlich zum normalen oder weltlichen Leben Erfahrungen oder Rettung verbürgen, macht das Christliche aus, sondern dass man die ganze ungeteilte Welt mit den Augen Gottes ansieht.“[5] Mit den Augen Gottes meint sie „die Augen jener Liebe, die nichts und niemanden aufgibt und die im Hinsehen, im Mehrsehen das, was sie sieht, verändert, weil sie seine Möglichkeiten entdeckt, weil sie ein schöpferischer Akt und nicht eine bloße Wahrnehmung von Vorhandenem ist.“[6] Aus dieser Weltsicht folge dann unwillkürlich eine bestimmte Praxis, eine „Existenzbewegung“, „eine Art Leben“.[7] Es ist faszinierend, diese frühen Texte von Dorothee Sölle zu lesen, sie haben poetische Power, sind hochaktuell und antizipieren u.a. die praxistheoretische Orientierung heutiger Kulturwissenschaft, die die körperlichen Praktiken sinnverstehender Akteure in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellt.[8]

Zur Vorgeschichte des angezeigten Essays von Hartmut von Sass gehören für mich noch zwei weitere Stationen, an die zu erinnern sich lohnt. Die eine markiert das Buch „Religion ohne Gott“ des 2013 verstorbenen amerikanischen Rechtsphilosophen Ronald Dworkin.[9] Es geht zurück auf die „Einstein Lectures“, die Dworkin im Dezember 2011 an der Universität Bern hielt und in denen er sich zu einem religiösen Atheismus bekennt. Für Dworkin ist Religion „etwas Tieferes als Gott“. Was er unter Religion versteht, macht er schon gleich im zweiten Satz der Einleitung deutlich: „Religion ist eine sehr grundlegende, spezifische und umfassende Weltsicht, die besagt, dass ein inhärenter, objektiver Wert alles durchdringt, dass das Universum und seine Geschöpfe Ehrfurcht gebieten, dass das menschliche Leben einen Sinn und das Universum eine Ordnung hat. Der Glaube an einen Gott ist nur eine der möglichen Manifestationen oder Konsequenzen dieser tieferen Weltsicht.“[10] 

Man könne auch religiös sein, ohne an Gott zu glauben. Als prominentes Beispiel für eine solche Religiosität zitiert Dworkin den Namensgeber seiner Berner Vorlesungen: Albert Einstein: „Das Wissen um die Existenz des für uns Undurchdringlichen, der Manifestationen tiefster Vernunft und leuchtendster Schönheit, die unsere Vernunft nur in ihren primitivsten Formen zugänglich sind, dies Wissen und Fühlen macht wahre Religiosität aus; in diesem Sinn und nur in diesem gehöre ich zu den tief religiösen Menschen.“[11]

Geht der Theist davon aus, dass Gott die Quelle der Erfahrung von Wert und Sinn ist, so macht der religiöse Atheist geltend, dass ihm diese Erfahrungen auch ohne Gott zugänglich sind. Für ihn ist Gott eine Art konstruierter und verzichtbarer Überbau. Dworkin: „Der Bereich der Werte hängt nicht von der Existenz oder der Wirkungsgeschichte irgendeines Gottes ab.“[12] Man kann sie auch ohne theistisches Bekenntnis erfahren und Dworkin zeigt unter Bezugnahme auf die Darstellungen religiöser Erfahrungen bei William James, Rudolf Otto und Paul Tillich, dass ihre Beschreibungen mehr oder weniger ohne theistisches Vokabular auskommen und die Konzeption religiöser Erfahrung also im Religionsdiskurs selbst ganz nah an dem sich bewegt, was Dworkin unter atheistischer Religiosität versteht. Diese Beschreibungen konvergieren wiederum mit den Äußerungen von Einstein und anderen Naturwissenschaftler*innen, bei denen der Blick in den Sternenhimmel Ehrfurcht und Erschaudern auslöst. Friedrich Schleiermacher, den Dworkin erstaunlicherweise nicht erwähnt, kann dieses Bild noch vervollständigen und plausibilisieren, wenn er Religion in seinen „Reden über die Religion“ als „Anschauung und Gefühl“ konzipiert: „Anschauen will sie (die Religion, Verf.) das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will es andächtig belauschen, von seinen eigenen Darstellungen will sie sich in kindlicher Passivität ergreifen und erfüllen lassen.“[13] Auch von der Möglichkeit einer Religion ohne Gott ist hier bei Schleiermacher schon die Rede.[14]

Dass der Diskurs über eine posttheistische Theologie auch in der Theologie selbst auch nach Dorothee Sölle weitergeführt wurde, zeigt u.a. ein 2015 erschienener Essay des Hamburger Theologen Matthias Kroeger.[15] Unter dem Titel „Was bleiben will, muss sich ändern. Zur Legitimität einer Reform in den Herzstücken des christlichen Glaubens“ plädiert er für eine Überwindung des Theismus. „Was kann“, fragt er, „nach dem Tode des metaphysisch-theistischen Gottes, der Sinn des Wortes Gott sein?“[16] Jedenfalls, so seine Antwort, keine „metaphysische Person, die es gibt“.[17] Gott könne vielmehr verstanden werden als „der Name des Rätsels und des Wunders und Geheimnisses der Welt.“ Dieser abstrakt gedachte Gott ist nicht in einem Jenseits dieser Welt angesiedelt, sondern in „jeder Pore dieser Welt wesend, anwesend“.[18] Auf das Wort Gott will Kroeger wie Sölle dabei nicht verzichten. Er hält auch non-theistisches Beten für möglich: „Auch wer das theistische Gottesverständnis hinter sich lässt, kann in persönlicher Anrede des ‚Du‘ beten, im Wissen, dass das ‚Du‘ nicht wörtlich und gegenständlich irgendwo ihm gegenüber ist, sondern dass das Du hier symbolisch verstanden und angesprochen wird.“[19]

Was, so könnte man fragen, bietet der Essay von Hartmut von Sass denn nun Neues gegenüber den genannten Perspektiven einer post-theistischen Religion und Theologie? Eine erste ernüchternde Antwort auf diese Frage erhält man gleich in der Vorbemerkung. Darin konstatiert von Sass: „Nichts von dem, was folgt, ist neu.“[20] Dieser Satz folgt allerdings auf die Ankündigung eines anspruchsvollen dreistufigen Therapieprogramms, das von Sass dem Zustand des herkömmlichen Glaubens verordnet und das aufzeigen soll, „wie der Glaube an Gott in einem ‚nach-metaphysischen Zeitalter‘ (so Jürgen Habermas) überhaupt aussehen könnte“.[21]

Die drei Phasen firmieren unter den Überschriften „Prolog“, „Vorbereitung: Zur Architektur des Glaubens“ und „Konsequenzen: Glaube, als eine Weise, das Leben zu führen“. Als Bonusmaterial gibt es noch eine eschatologische Zugabe außerhalb der Gliederung unter dem Titel „Ohne Ende: Letzte Dinge“. Der Prolog geht von einer Kinderzeichnung aus. Sie zeigt drei Personen, die ein Bild betrachten. Von Sass erläutert, dass die erste Person der Vertreter eines Auktionshauses sei, die zweite Person ein Kunstliebhaber und die dritte eine Chemikerin. Die Pointe des Beispiels: die drei Personen betrachten das Bild aus unterschiedlichen Perspektiven (Wert, Geschmack, Material), die sich weder widersprechen, noch wechselseitig ersetzen bzw. reduzieren. Diese Konstellation wird nun auf den Glauben angewendet, mit dem Unterschied, dass in dem Fall kein Ausschnitt, sondern die Welt in ihrer Gesamtheit betrachtet wird. Auch dafür gilt: man kann die Welt unter wertorientierten, ästhetischen, religiösen oder wissenschaftlichen Gesichtspunkten betrachten und beschreiben. Dabei besteht zwischen z.B. den wissenschaftlichen und religiösen Hinsichten eine widerspruchsfreie Perspektivendifferenz. So weit, so gut.

Das von Sasssche Therapieprogramm beginnt mit einer Diagnose des klassischen Theismus. Seine Merkmale: 1. Gott wird als Person vorgestellt, die 2. in einem Jenseits von Raum und Zeit als Geistwesen existiert und regiert, die 3. durch Allgüte, Allwissenheit und Allmacht dem Menschen weit überlegen ist, 4. unabhängig und frei von allen Bedingtheiten der endlichen Welt, die 5. von diesem Gott erschaffen wurde und erhalten wird. Die mit dieser Konzeption einhergehenden Probleme und Widersprüche hat man mit Variationen (z.B. dem Abschied von der Allmacht im Kontext des Theodizeediskurses) zu lösen versucht. Diese Versuche können von Sass allerdings alle nicht überzeugen und er resümiert: der Anthropomorphismus sei naiv, der Supranaturalimus von Kant ad absurdum geführt, der Perfektibilismus inkonsistent, Gottes Autarkie sei aufzugeben und der Erklärungsanspruch des Schöpfungsglaubens widerlegt. Dennoch beschreibt die genannte Merkmalskonstellation nach wie vor die bis heute dominante Traditionslinie im Gottesverständnis des Christentums. Die darin liegenden Inkohärenzen werden, so von Sass, auf drei unterschiedlichen Wegen verarbeitet: in der Form atheistischer Religionskritik, durch Versuche, sich des metaphysischen Ballasts zu entledigen oder auf dem Weg eines atheistischen Glaubensverständnisses.

Letzteren verfolgt von Sass weiter: die atheistische Revision religiösen Glaubens. Auf diesem Pfad konzentriert sich von Sass auf die auch in der Bibel präferierte Vertrauensdimension des Glaubens und auf ein modales Verständnis des Glaubens (etwas glaubend, im Glauben tun), das er unter Bezugnahme auf Gerhard Ebeling als „Bestimmtsein der Existenz“ erläutert.[22] Ganz ähnlich wollte im Übrigen Dorothee Sölle das Glauben verstanden wissen! Es geht nicht um das Für-wahr-halten von etwas, sondern um eine Haltung und Praxis, die mit einer spezifischen Weltsicht, einem besonderen Weltverständnis verbunden ist. Von Sass erläutert seine Ausführungen an der Stelle mit Hilfe einer einfachen Kippfigur, die man als Hasen oder Ente lesen kann. Er bezieht sich in diesem Zusammenhang erneut auf Wittgensteins Idee des Aspekte-Sehens, die er schon bei der Erläuterung der Kinderzeichnung im Prolog herangezogen hatte: Der Glaube fügt der Welt nichts hinzu, er lässt sie nur anders sehen. Und diese Lesart der Welt verdankt sich einem besonderen Vokabular: der religiösen Sprache des Christentums in diesem Fall. Die Natur wird als Schöpfung gesehen, der Mensch als Nächster usw. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive könnte man auch von einer rezeptionsästhetischen Wende sprechen: Die neue Weltsicht des Glaubens entsteht im Auge des Betrachters durch die Brille der Symbole des Christentums.

Was wird unter diesen Bedingungen aus dem Wirken und der Wirklichkeit Gottes? Von Sass wendet diese Frage auch so: Was bedeutet die „Modalisierung des Glaubens“[23] für die Wirklichkeit, „die glaubende Menschen Gott nennen?“ Die Antwort sucht und findet er im Ersten Johannesbrief. Dort heißt es (4,16): „Und wir haben erkannt und geglaubt die Liebe, die Gott zu uns hat: Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ Mit Feuerbach sei kein Unterschied zwischen dem Wesen und den Eigenschaften Gottes zu machen, also gilt im Sinne des Verses aus dem Ersten Johannisbrief: „Gottes Wirklichkeit ist sein liebendes Wirken am Menschen.“[24] Gott ist Liebe, „in einem anderen Sinn gibt es ihn nicht“.[25] Gott, so könnte man vielleicht auch sagen, ist eine bestimmte Qualität der Wirklichkeit. Der Begriff Gott summiert bestimmte Eigenschaften der Wirklichkeit. Aber es gibt kein gesondertes Subjekt, das Träger dieser Eigenschaften wäre: „Gottes Wirklichkeit als Liebe und Gottes liebendes Wirken sind eins.“[26] Vor diesem Hintergrund kommt von Sass dann zu seinem „Hauptsatz einer atheistisch kodierten Theologie“: „Nicht an Gott wird geglaubt, sondern in Gottes Wirklichkeit wird gelebt. Gott ist die Wirklichkeit des Glaubens.“[27] Das klingt irgendwie gut, aber trägt es auch weiter? Lässt sich so das Christentum umbauen oder handelt es sich bloß um ein sprachphilosophisch inspiriertes Hütchenspiel?

Diese Frage nimmt von Sass in einem kurzen Zwischenspiel auf, das unter der Überschrift „Gott und/als Kunst“ steht. Die damit angespielte Analogie scheint mir allerdings nur halb zu funktionieren. Zwar entsteht die Kunst als Kunst erst im Vollzug ihrer Wahrnehmung. Man kann auch eine von Joseph Beuys mit Fett und Mull ausstaffierte Badewanne einfach nur für versifft und reinigungsbedürftig halten, wie es 1973 in einem Museum geschah. Aber immerhin gibt es bei der Kunst ein Werk als gegenständliche Einheit. Gut, wir verstehen, was der Autor uns sagen will.

Im dritten Kapitel kommt von Sass zu den Konsequenzen seiner Neuorientierung, zu „Glaube, als eine Weise, das Leben zu führen“. Dabei interpretiert er klassische Topoi der christlichen Dogmatik, es geht um die Schöpfung, das Böse, Gottes Sohn, die Erlösung, das Beten und schließlich die Hoffnung. Klar ist zunächst, dass die Schöpfungsberichte der Bibel nicht als Welterklärungsmodelle in der Konkurrenz zu den Naturwissenschaften verstanden werden wollen. Sie artikulieren vielmehr, wie die Natur im Glauben als Schöpfung gesehen wird: „Denn mit dem Glauben kommt der Aspekt der Schöpfung erst zur Welt, zumal die Welt mit den Augen des Glaubens zu betrachten gerade heißt, sie als Schöpfung wahrzunehmen. Die Schöpfung wiederum bringt zum Ausdruck, dass mit jenem Blick etwas Neues geschaffen wird.“[28] Besondere Aufmerksamkeit widmet von Sass dem Problem des Bösen. Dabei geht er von den Widersprüchen aus, die sich auf der Basis des traditionellen theistischen Gottesbegriffs zwischen den Eigenschaften Allmacht und Allgüte und der Existenz des Bösen ergeben und die man im Rahmen der Theodizeediskurse u.a. versucht hat zu lösen, indem man für das Böse die Freiheit des Menschen verantwortlich gemacht hat oder das Gute der Schöpfung als Kompensation des Bösen in Stellung gebracht hat. Von Sass bezeichnet derlei spekulative Klimmzüge zu recht als „intellektuellen Zynismus“.[29]

Auch andere Operationen mit dem Theismus lehnt er ab (wie z.B. den Abschied von der Allmacht). Es sei vielmehr nötig auch bei diesem Thema den theistischen Rahmen zu verlassen. Allerdings wird die Frage nach der Ursache des Bösen, dem unschuldigen Leiden und der Rettung der Opfer damit aus dem religiösen Diskurs mehr oder weniger ausgeklammert. Gefragt ist der Glaube nach von Sass in diesen Zusammenhängen vor allem als Hilfe beim Umgang mit dem Leiden. So können die Bilder und Symbole der biblischen Traditionen helfen, Leiden zur Sprache und zum Ausdruck zu bringen. Fazit: „Dem Schmerz einen Ort und dem Leid einen Ausdruck geben – gelingt das, ist Gott mitten unter den Menschen, indem er an seiner Kreatur wirkt.“[30] Das ist nicht wenig, aber auch nicht viel. Weniger jedenfalls als das, was Johann Baptist Metz das „Rettungsversprechen“ der biblischen Tradition nennt, das Versprechen höherer Gerechtigkeit.[31] Damit steht nicht zuletzt die Frage im Raum, wie es der atheistische Glaube mit dem Evangelium hält. Wie versteht er die Botschaft Jesu, wie Kreuz und Auferstehung?

Darum geht es in dem Abschnitt „Gottes Sohn und die Erlösung von den Sünden“. Der Begriff der Sünde kommt dabei nach von Sass erst mit dem Glauben ins Spiel. Er hat darum außerhalb des Sprachspiels des Glaubens keinen Ort. Im Unterschied zur traditionellen Auffassung gilt allerdings: „Tatsünden gibt es gar nicht, während das Anliegen der Erbsünde vollkommen richtig ist.“[32] Ein Bewusstsein von ihr stellt sich erst mit dem Glauben ein. Ohne Glaube keine Sünde, aber auch keine Erlösung. Denn der modale Glaubensbegriff beinhaltet sowohl die Wahrnehmung, dass etwas mit dieser Welt nicht stimmt (Sünde), wie auch die Erlösung von der Sünde. Was aber hat das alles mit dem Wanderprediger Jesus von Nazareth zu tun?

Im Vorfeld von Kreuz und Auferstehung lässt sich den Umbaumaßnamen der atheistischen Revision noch leicht folgen: Jesus spricht in Gleichnissen vom Himmelreich und lädt damit zu einem neuen Blick auf die Welt ein, der schon Anteil am Himmelreich gibt. Zum Fortgang der Operation am Herzen des Christentums schreibt von Sass: „Die Verkündigung der Auferstehung von den Toten muss (..) nicht als mirakelhafte Revision eines eigentlich unwiderruflichen Todes aufgefasst werden, auch nicht als martialische Opferung des Sohnes durch den auf Satisfaktion bestehenden Vater (dabei ist einzugestehen, dass diese Interpretamente eine in der Christentumsgeschichte prominente, auch ungute Rolle eingenommen haben). Vielmehr kann Jesu Auferstehung als Artikulation eines Glaubens daran verstanden werden, dass sein Heilen und Predigen ein Geschehen sei, welches mit diesem Tod am Kreuz gerade nicht  endet; dass die Wirklichkeit, in der Jesus von Nazareth selbst lebte und von der er Zeugnis ablegte, mitten unter seinen Jünger:innen bleiben werde; dass sie gerade darin Jünger:innen würden, sofern sie mit seinen Gleichnissen und dem Reich Gottes, das diese Gleichnisse bringen, leben werden; und dass sie darin die Sünde hinter sich lassen, indem sie glaubend durchs Leben gehen.“[33] In diesem Sinne kann von Sass dann auch in Anlehnung an Bultmann formulieren, dass Jesus „in seine gleichnishafte Verkündigung hinein auferstanden“ ist.[34] 

Kann man zu diesem Jesus, zu dieser posttheistischen Gottheit dann noch beten? Ist insbesondere das Bittgebet noch möglich und sinnvoll? Wie kann Gott ein Adressat des Gebets sein, „ohne dabei zum personalen Agenten zu werden“? Der Theismus ist schließlich verabschiedet und kann nicht in der Gebetsfrage wieder zurück auf die Bühne geholt werden.

Wie von Sass dieses Problem löst, möge ein erneutes etwas längeres Zitat verdeutlichen: „Und wenn gilt, dass Gottes Wirklichkeit sein Wirken am Menschen ist, folgt daraus, dass die Sprache – auch die des Gebets – am Menschen wirkt. Das Gebet gibt dann Anteil an diesem Wirken Gottes, das Gott selbst ist: Worte des Trosts, der Vergebung, der Verheißung. Die Tradition spricht daher von Gott als Geist oder davon, dass Gottes Realität eine geistige sei. Die Praxis des Gebets ist dann die Teilnahme an dieser geistigen Wirklichkeit – eine Praxis (in) göttlicher Gegenwart. Und so darf gesagt werden, dass Gott das Gegenüber (oder Gegen-Über) des Menschen bleibt, obwohl nicht mit dieser oder jener Bitte zu ihm gebetet wird; vielmehr bewegt sich der betende Mensch bereits in Gottes Wirklichkeit, indem dieses Gebet die Wirklichkeit Gottes ist. Gott ist nicht derjenige, zu dem gebetet, sondern die Wirklichkeit, in der gebetet wird.“[35]

Die Erläuterung der von Sassschen Antwort auf den Einwand, dass Gottes Wirken in dieser Konstruktion zu einem Produkt menschlicher Praxis wird, wenn schon die menschliche Selbstauslegung mit Hilfe der symbolischen Welten des Christentums die Wirklichkeit Gottes auf den Plan ruft, spare ich mir, sie leuchtet mir auch nicht unmittelbar ein. Dass die atheistische Revision des Glaubens beim Gebetsthema besonders herausgefordert ist, liegt hingegen auf der Hand.

Zum Schluss noch „die Hoffnung des Glaubens“. Im Alltäglichen richtet sich Hoffnung in der Regel auf Zukünftiges und hat dabei ganz Konkretes im Blick. Nicht so im religiösen Kontext. Hier ist die Hoffnung Teil einer bestimmten Art und Weise, das Leben zu verstehen. So wie der Glaube lässt sich auch die Hoffnung modal verstehen (hoffnungsvoll leben). So gesehen braucht die Hoffnung keinen konkreten Gegenstand. Die Hoffnung auf Konkretes ist aber nicht ganz ausgeschlossen. Vorrang habe jedoch der modale Hoffnungsbegriff. Denn er beschreibt ein Mindset, das konkrete Hoffnung überhaupt erst ermöglicht. Mit der Hoffnung der Heilsgeschichte als Weg in eine neue Welt am Ende der Tage kann er allerdings nichts anfangen. Für von Sass ist das temporal Vorgestellte (Jüngstes Gericht und ewiges Leben) im Glauben schon jetzt präsent - oder sagen wir besser: in Reichweite. Eine gewisse Spannung zwischen dem Jetzt und dem Noch-Nicht löst die Hoffnung schon noch aus, eine Spannung, die zur konkreten Arbeit für die Realisierung des Erhofften motiviert.

Damit ist der Leser bei dem Bonuskapitel „Ohne Ende: Letzte Dinge“ angekommen. Es unterstreicht noch einmal die Hoffnung, sie sollte zum Leitfaden werden, an dem sich die Theologie insgesamt orientiert. Denn gehofft werde ja im Glauben darauf, dass sich Gottes Wirklichkeit einstellt und am Menschen wirkt. Moment: war uns nicht gesagt worden, dass sich die Wirklichkeit Gottes schon im bloßen Selbstverstehen anhand christlicher Symbolwelten einstellt? Offenbar doch nicht zwangsläufig. Auf der letzten Seite steht zu lesen: „Es sind Ritus, Gebet, Musik und Gesang, Gottesdienst, Liturgie, die Sprache des Glaubens und seine Gleichnisse und Erzählungen, all die fantastischen Bilder der Bibel, die jenen Wechsel der Aspekte umspielen, ohne ihn jemals erzwingen zu können.“[36]

Hartmut von Sass hat den Diskurs des atheistischen Glaubens klug weitergedacht. Im Rückblick auf die eingangs erinnerten Stationen fällt dabei auf, dass zentrale Motive seiner Überlegungen schon bei Dorothee Sölle vorkommen bzw. angelegt sind: der Abschied vom traditionellen Theismus, die Einsicht, dass kein Gott am Karfreitag der Geschichte eingreift, eingegriffen hat und nicht zuletzt, fast mit denselben Formulierungen wie von Sass, dass atheistisch glauben „nicht heißt, etwas zu sehen, was andere nicht sehen; es heißt nur, die eine Wirklichkeit anders zu sehen“. Dieses Neusehen geht dann, wie bei von Sass, mit „einer Art Leben“ einher. Hier konvergieren diese Ansätze im Übrigen mit der Diskussion um die „gelebte Religion“ in der Praktischen Theologie.[37] Die Erinnerung an Dworkins Thesen macht dann weiterhin deutlich, was bei den sprachphilosophisch orientierten Überlegungen von von Sass m. E. zu kurz kommt: das Gefühl. Religiosität/Glauben sind eben nicht nur kognitive Phänomene, bei denen es um durch Sprachspiele geprägte Weltsichten geht. Sie haben, das wird noch deutlicher, wenn man an Schleiermachers Reden denkt, mit Anschauung und Gefühl zu tun. Diese Dimension müsste in eine Theorie des posttheistischen Glaubens noch stärker integriert werden.

Insgesamt scheint mir der Abschied vom traditionellen theistischen Gottesbegriff aber einmal mehr an der Zeit. Der Essay von von Sass zeigt auf, wohin die Reise gehen könnte/müsste. Ob dieser Diskurs in der etablierten systematischen Theologie Resonanz finden wird, ist die Frage. Eine bittere Konsequenz des von Sassschen Essays wird auch nicht dazu beitragen: der mit der Verabschiedung des Theismus einhergehende Abschied vom „Rettungsversprechen“ (Johann Baptist Metz) der biblischen Tradition. Oder ist das ein Missverständnis?  

Sass, Hartmut von (2022): Atheistisch glauben. Ein theologischer Essay.
Berlin: Matthes & Seitz Berlin Verlag (Fröhliche Wissenschaft).
       

Atheist und trotzdem gläubig – geht das?
Sternstunde Philosophie | SRF Kultur

Anmerkungen

[1]    Hartmut von Sass, Atheistisch glauben. Ein theologischer Essay, Berlin 2022.

[2]    Dorothee Sölle, Atheistische an Gott glauben. Beiträge zur Theologie, Olten 1968.

[3]    A.a.O., 79.

[4]    A.a.O., 74.

[5]    A.a.O., 83.

[6]    A.a.O., 84.

[7]    A.a.O., 81.

[8]    Vgl. Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist 2000, 190, 558.  

[9]    Richard Dworkin, Religion ohne Gott, Berlin 2014.

[10]   Ders., a.a.O., 11.

[11]   Albert Einstein, zit. n. Richard Dworkin, a.a.O., 13.

[12]   Ders., a.a.O., 18.

[13]   Friedrich Schleiermacher, Reden über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Stuttgart 1980 (1899), 35. 

[14]   Vgl. ders., a.a.O., 84.

[15]   Matthias Kroeger, „Was bleiben will, muss sich ändern.“ Zur Legitimität einer Reform in den Herzstücken des christlichen Glaubens, Gütersloh 2015.

[16]   Ders., a.a.O., 65.

[17]   Ebd.

[18]   A.a.O., 67.

[19]   A.a.O., 86.

[20]   Hartmut von Sass, a.a.O., 7.

[21]   Ders., a.a.O., 6.

[22]   A.a.O., 43.

[23]   Ebd.

[24]   A.a.O., 62.

[25]   A.a.O., 63.

[26]   A.a.O., 64.

[27]   A.a.O., 65.

[28]   A.a.O., 92.

[29]   A.a.O., 99.

[30]   A.a.O., 103.

[31]   Johann Baptist Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006, 15.

[32]   Hartmut von Sass, a.a.O., 111.

[33]   A.a.O., 116.

[34]   A.a.O., 117,

[35]   A.a.O., 125.

[36]   A.a.O., 145.

[37]   Vgl. Jörg Herrmann, Medienerfahrung und Religion. Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion, Göttingen 2007, 45ff.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/141/jh41.htm
© Jörg Herrmann, 2023