Raupen und Schmetterlinge

Dient Kunst heute noch der Welterkenntnis?

Andreas Mertin

Der nachfolgende Text basiert auf einem Vortrag, den ich am 17. November 2022 in der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem in Braunschweig gehalten habe. Er fasst viele meiner Beiträge in diesem Magazin zur documenta fifteen im Jahr 2022 zusammen und fokussiert sie neu (Ausgabe 135Ausgabe 137Ausgabe 138aAusgabe 138bAusgabe 138cAusgabe 138dAusgabe 139aAusgabe 139bAusgabe 139c).

Der Text setzt den etwas anders gelagerten Essay „Identität – Original – Kapital – Häresie. Eine Auseinandersetzung mit Günther Anders“ fort, der in Ausgabe 137 des Magazins erschienen ist, denn auch dieses mal greife ich auf Günther Anders zurück. Beide Texte widme ich Wolfgang Vögele, der dieses Magazin seit vielen Jahren mit seinen differenzierten theologischen und theo-ästhetischen Beiträgen bereichert. Dafür bin ich ihm dankbar.

Die Fragen der documenta fifteen

Selten hat eine Kunst-Veranstaltung derart viele kontroverse Reaktionen auf einige der ausgestellten Objekte und auf die in ihnen zum Ausdruck kommenden Haltungen provoziert, wie die vor knapp zwei Monaten zu Ende gegangene documenta fifteen in Kassel. Wer hätte gedacht, dass die Bildende Kunst und einzelne ihrer Werke Teile der Gesellschaft so verstören könnten, dass wochenlang erregte Debatten im Feuilleton, aber auch in der breiten Öffentlichkeit geführt wurden? Von „Die documenta übertraf alle unserer Erwartungen: die Präsentationen generös, zum Nachdenken anregend, lebendig und einladend“ auf der einen Seite, bis „Diese Kunst tötet“ und „Man sollte die Ausstellung schließen“ auf der anderen Seit erstreckten sich die Reaktionen. Sogar vom Ende der Kunst war die Rede. Das war etwas ganz Anderes, als die Debatten zur documenta 14, die der Kunstkritiker Wolfgang Ullrich seinerzeit unter dem Titel Deko und Diskurs angestoßen hatte (Ullrich, 2014) und die weitgehend im Rahmen der europäischen Moderne verliefen.

Andererseits: Wie realistisch war es, darauf zu setzen, dass die Kunst aus dem globalen Süden tatsächlich einen Beitrag zur Welterkenntnis leistet? Hat denn Kunst je so etwas gebracht: Welterkenntnis? Und sind es nicht nur relativ wenige Privilegierte, die alle fünf Jahre zur documenta reisen und sind es nicht noch viel weniger Menschen, die sich überhaupt große Kunst leisten können und dadurch beeinflussen, welche Kunst den Moment überdauert?

Müssen wir künftig unterscheiden zwischen einer ausdifferenzierten Kunst des Westens und einer nach anderen Regeln funktionierenden Kunst des globalen Südens? Das jedenfalls behauptete die documenta fifteen und die Kuratorengruppe ruangrupa.

Was gilt also? Ist das, was wir im Westen unter Kunst verstehen, gar keine Weltkunst, sondern eine eitle Selbstbespiegelung westlicher Menschen, die sonst nichts zu tun haben? Oder ist im Gegenteil das, was der „globale Süden“ uns da als Kunst vor Augen führte, nicht etwas, was wir im Westen schlicht kollektive Kreativität nennen würden, und zwar eine politisch einseitige kollektive Kreativität?

Schon vor 50 Jahren hatte der Philosoph Theodor W. Adorno seine 1970 posthum erschienene Ästhetische Theorie mit folgendem Satz eröffnet:

„Zur Selbstverständlichkeit wurde, dass nichts, was die Kunst betrifft,
mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis
zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.“ (Adorno, 2014)

Diese Fraglichkeit der Kunst wurde uns in den letzten zehn Monaten noch einmal drastisch vor Augen geführt. "Kunstfreiheit" hin oder her, aber bitte keine Kunst, die sich nicht an die politischen Vorgaben des Staates hält. Die Autonomie der Kunst erschien als überholt. Und das Recht auf Kunstfreiheit nach Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes wurde ethischen und politischen Vorgaben untergeordnet.

Und darüber hinaus konnte man vernichtend über Kunst urteilen, ohne sich überhaupt eines der Objekte vor Ort angesehen zu haben. Das war das Auffällige dieses Sommers. So polemisierte der Politiker Volker Beck 50 Tage lang über die documenta fifteen und forderte ihre Schließung, um sich erst dann zu bequemen, auch mal nach Kassel zu reisen und die kritisierten Werke anzuschauen. Das kunstinteressierte Bürgertum hätte ihm das früher nicht durchgehen lassen: Keine Kunstkritik ohne Kunstanschauung. In Zeiten von Social Media, von Twitter, also der Medialisierung der Lebenswelten scheint es jedoch ‚normal‘ zu sein, in absentia zu urteilen. Kurz gesagt: Selten nach 1945 stand es so schlecht um die Kunst wie in diesem Jahr 2022.

Aber vielleicht ist auch das schon ein Teil der neuen Welterkenntnis, dass der globale Süden kein Interesse mehr hat an jener Kunst, die sich in der europäischen Moderne entwickelt hat. Man überlässt sie daher den Happy Few in ihren exklusiven Museen, während die post-koloniale Welt nach anderen, politischen und funktional ausgerichteten Regeln abläuft. Kunst hat demnach der Veränderung der Gesellschaft zu dienen.

Und dehalb muss man fragen: Wie kommen wir auf die Idee, dass die Kunst zur Welterkenntnis beiträgt? Liegt der Fehler nicht schon im Glauben an die Macht der Bilder? Ist das nicht bloß ein Überbleibsel der Genie-Ästhetik des Deutschen Idealismus, als man etwa nach Venedig reiste, um sich an den Bildern dort zu delektieren? Jedenfalls ist es keinesfalls selbstverständlich, dass Kunst für die Welt etwas leistet.

Letzte Generation

Genau das macht uns gerade die letzte, klima-aktivistisch motivierte Generation klar. Weltweit greifen sie Kunstwerke an, beschmieren sie, übergießen sie mit Tomatensaft oder Kartoffelbrei und rufen laut: „Was ist mehr wert, Kunst oder Leben?“ Diese Frage macht nur Sinn, wenn man der Kunst einen Beitrag zum Leben schon abgesprochen hat. Kunst ist nur noch ein Schmuckstück über der Wohnzimmercoach, ein Luxus, der fraglich wird, wenn der Fortbestand der gesamten Welt auf dem Spiel steht.

Die Aktivist:innen von „Letzte Generation“, denen es nach eigenem Bekunden wichtig ist, die Kunstwerke nicht wirklich zu zerstören, halten dennoch Kunst für Eskapismus, für eine Flucht aus den Realitäten des Lebens. Die klassische europäische Kunst sei gesellschaftlich wirkungslos, sie reduziere sich auf eine „Idylle auf der Leinwand“:

„Wir dürfen uns nicht verlieren in der Idylle auf der Leinwand, sondern müssen der Realität ins Auge blicken! Zur Bewunderung der Kunst wird keine Zeit mehr sein, wenn wir uns um Nahrung und Wasser bekriegen!“ – "Wir halten diese Kunstwerke für heilig, aber was ist heiliger als das Leben selbst?"

Ein solches Verständnis von Kunst offenbart viel über die, die sich so äußern. Sie begreifen Kunstwerke als bewunderte Kulturgüter, die vor allem dem Genuss des Bürgertums dienen. Adorno hat das als Schwachsinn bezeichnet, der sich als gesunder Menschenverstand ausgibt. Denn wenn Kunst tatsächlich so harmlos ist, dass man keine Zeit damit verschwenden sollte, fragt man sich doch, warum die Nationalsozialist:innen die Kunst so bekämpft haben, warum noch jedes totalitäre Regime dieser Welt die Künstler:innen reglementieren wollte und sie drangsalierte, wenn sie nicht den politischen Leitlinien der Machthaber:innen folgten.

Den Apokalyptikern von der Gruppe „Letzte Generation“ erscheinen die Kulturbürger als Integrierte, die erst einmal über den wahren Zustand dieser Welt aufgeklärt werden müssen. Und dafür nimmt man ihr angebliches Spielzeug, die Kunst, in Geiselhaft.

So muss vor allem geklärt werden: Was leistet Kunst? Reden wir deshalb zunächst über: Raupen und Schmetterlinge.

Raupen und Schmetterlinge

Der jüdische Schriftsteller, Philosoph und Kunstkritiker Günther Anders erhielt vor 70 Jahren die Einladung, die großen Kunstwerke der europäischen Renaissance im Rahmen einer Reise durch Nord- und Mittelitalien zu studieren, also durch Besuche in Venedig, Padua und Florenz. Und vor dieser Reise gibt er sich Rechenschaft darüber, was Kunst für ihn persönlich, aber auch allgemein für die Menschen leistet.

Er nennt das „Über die Nachhut der Geschichte“ (Anders 2020). Es charakterisiert Günther Anders, dass er die Frage nach der Kunst vor allem vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Auschwitz und Hiroshima so zuspitzt, dass man weiß, es geht um alles oder nichts (vgl. Mertin, 2022). Insofern ist seine Radikalität jener der „Letzten Generation“ ähnlich. Beide fragen: Warum sollte man sich Kunst überhaupt anschauen? Nur das Günther Anders darauf eine Antwort gibt, die „Letzte Generation“ nicht.

Günther Anders geht zunächst auf die Vorstellung ein, dass sich in Kunstwerken der Geist der Zeit verkörpere. Er fragt: Wenn wir ein bedeutendes Konzert besuchen, wenn wir in eine wichtige Kunstausstellung wie die documenta gehen, erfahren wir dann etwas über unsere eigene Gegenwart oder können wir sogar Antizipationen der Zukunft beiwohnen? Könnten dann vielleicht Forscher:innen späterer Zeiten sagen, in diesem Konzert, in dieser documenta spiegelte sich der Geist der Zeit, ja es wurden sogar spätere Entwicklungen vorweggenommen?

Diese Vorstellung von Künstler:innen als prophetischen Seher:innen wird ja oft vertreten, aber Günther Anders hält sie für falsch. Weder sei Kunst ein Spiegel der Zeit noch habe sie ihr Antlitz der Zukunft zugewendet. Dafür ereigne sich Geschichte zu schnell und zu komplex. Richtig sei vielmehr der Satz: Kunst steht quer zur Geschichte.

Günther Anders Anregung lautet: Man müsse sich das Besondere der Kunst anhand einer isländischen Schmetterlingsart vergegenwärtigen. Diese Schmetterlingsart sei durch die Kürze der dortigen Sommer gezwungen gewesen, schon als Raupe Reproduktionsfähigkeit zu entwickeln, so dass sich nun Geschlechterfolgen von Raupen bilden, die von ihrem potentiellen Schmetterlingsdasein gar nichts mehr wissen. Sollte es dann eine Raupe doch einmal schaffen, sich zu einem Schmetterling zu entwickeln, dann stünde sie quasi „quer zur Geschichte“ der Raupen. Was heißt das?

Günther Anders erläutert das so:

Einerseits ist der Schmetterling allen Raupen voraus, da er das erreicht hat, was sie ‚noch nicht‘ sind; andererseits aber ist er, da er einer Raupengeneration angehört hatte, die bereits weitergezeugt hat, überholt durch ein neues Raupengeschlecht. Dieses Zugleich von ‚voraus‘ und ‚überholt‘ scheint auf den ersten Blick etwas höchst Sonderbares; nirgends finden wir die Erscheinung beschrieben. Aber in Wirklichkeit ist uns das Phänomen durchaus vertraut. Und zwar eben durch die großen Kunstwerke. Denn sie sind das, was ‚quersteht‘ in unserer Geschichte. (Anders 2020, 303)

Demnach zeigt Kunst eine von vielen Möglichkeiten menschlicher Geschichte. Sie zeigt für einen historischen Moment, was denkbar gewesen wäre, wenn man sich nicht auf die Reproduktion des Lebens, auf Funktionales, auf die Kolonialisierung der Lebenswelten begrenzt hätte. Verstehen wir also diese von Günther Anders beschriebenen Raupen als Sinnbild unserer menschlichen Existenz, dann haben wir in der Kälte der Moderne (Lethen, 1994) gelernt, uns so in dieser Welt einzurichten, dass wir die elementaren Grundbedürfnisse der Reproduktion unserer Gattung befriedigen können und so scheinbar der Erreichung unseres eigentlichen Daseinsziels (des Lebens als Schmetterling) nicht mehr bedürfen. Damit ist die Kunst quasi überholt; falls wir dennoch auf sie stoßen, erscheint sie uns als quer zur realen menschlichen Geschichte.

Dieses Bild von der Raupe und dem Schmetterling ist faszinierend, wenngleich es den so beschriebenen isländischen Schmetterling gar nicht gibt. Er ist eine fantasievolle Erfindung des Autors Günther Anders. Aber das Bild ist dennoch eine treffende Metapher, die in den knapp 70 Jahren, seitdem Anders sie niedergeschrieben hat, eigentlich noch viel aktueller geworden ist. Tatsächlich erscheint manchen die Kunst heute nur noch als mehr oder weniger schöner Schmetterling, der ab und an auftaucht, aber mit der eigenen Existenz als Raupe nichts mehr zu tun hat. Der berühmte Satz „Jede Raupe ist ein Schmetterling“, den ein Schmetterling namens Joseph Beuys in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts geäußert hat, erscheint daher heute nur noch als skurrile Idee einer fernen Vergangenheit.

Das gilt auch für den Satz der Raupe Karl Barth, die 1926 sagte:

„Unter dem Gesichtspunkt der Schöpfung … ist der Schmet­ter­ling die der Raupe ursprünglich gegebene Verheißung dessen, was sie werden soll“ (nach Barth, 1928, 381).

Für Karl Barth wird in der Kultur kenntlich, was uns Menschen eigentümlich ist, sie sei das Maß des Menschlichen. Man könne sich der Kultur nicht entziehen, ohne etwas vom Menschsein zu verlieren. Bildlich gesprochen: Keine Raupe ohne Schmetterling.

Das wird von heutigen ‚Raupen‘ anders gesehen. Sie beharren darauf, dass der Zweck der Existenz vor allem die Arterhaltung sei und das könne und müsse man auch ohne Kunst und Kultur schaffen. Allenfalls diene ein Schmetterling der Flucht aus dem Alltag, er sei also eine Art Eskapismus aus dem Raupendasein.

So wäre also kritisch zu fragen: Ist die Auszeichnung der Kunst im Besonderen und der Kultur im Allgemeinen vielleicht doch nur eine versponnene Idee, die den Wert des Schmetterlings, also der Kunst und der Kultur überschätzt? Kommt es zum Leben und Überleben der Menschen auf dieser Welt nicht auf ganz andere Dinge an, wie etwa die Bewahrung der Schöpfung (so die Letzte Generation) oder die Herstellung gerechter Verhältnisse (so die Kuratorengruppe ruangrupa und die documenta fifteen)?

Kunst als Inkarnation von Geschichte

Dem steht allerdings die Erfahrung entgegen, dass wir zumindest im Rückblick einzelnen Kunstwerken und manchmal auch Kunstepochen wie etwa der Renaissance eine zeitdiagnostische Bedeutung für die Gesellschaft und ihre Geschichte beimessen. Noch einmal Günther Anders:

Trotz dieser ‚Irrealität‘ ist es geradezu phantastisch, in welchem Umfang sich Geschichte nachträglich als Kunstgeschichte präsentiert; in welchem Grad uns Rückblickenden die Kunstwerke als die eigentlichen Inkarnationen der geschichtlichen Epochen erscheinen. Dass jene Umwälzungen zwischen 1200 und 1500, die seinerzeit Millionen von Menschen angingen, in unseren heutigen Augen ihre Verkörperung in Bildern, Statuen und Architek­turen gefunden haben; dass der Schein dauerhafter ist als das Wirkliche … – das ist schon eine recht eigentümliche Tatsache. (Anders, 2020, 305)

Und diese Feststellung erscheint ja unbezweifelbar. Und so können wir durchaus eine Geschichte der Menschheit anhand der von ihnen produzierten Bilder bzw. Kunstwerke schreiben: beginnend mit den frühesten Höhlenmalereien vor mehr als 40.000 Jahren über die ersten magischen Momente vor 20.000 Jahren, die Verbindung von Bild und Religion vor 14.000 Jahren bis zu den ersten großen und vor allem visuell ausgerichteten Monumenten der ägyptischen Kultur vor 5.000 Jahren.

Und wenn wir dann auf die spezifische Geschichte von christlicher Religion und Kunst schauen, dann setzt diese als öffentliche Kommunikation vor etwa 1000 Jahren ein und zwar mit der Berndwardtür in Hildesheim, die sich nicht an einen exklusiven Inner Circle, sondern an die breite Öffentlichkeit wendet. Die Kunst entwickelt sich dann von der Romanik und Gotik über die Renaissance und den Barock bis zur Moderne. Und für jede Epoche fallen uns Werke ein, die nicht nur die jeweilige Kunstepoche, sondern auch die historische Epoche als solche charakterisieren.

Mit Giotto beginnen wir, uns am Maß des Menschlichen zu orientieren, mit Masaccio gelingt es uns, Gott perspektivisch in der Welt zu verorten, mit Jan van Eyck blickt uns der Mensch als eigenständiges Subjekt entgegen, mit Albrecht Dürer werden wir Menschen gottgleich, mit Matthis Grünewald passt sich die Religion den Schmerzen der Kreatur an. Und mit Caspar David Friedrich wandelt sich alles ins subjektive Gefühl, aber der Mensch ist nur noch ein kleines Detail in einem schier unendlichen Kosmos. Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. (Kant 2013, 300)

Tatsächlich ergibt sich diese scheinbar diagnostische und prognostische Leistung der Kunst aber daraus, dass wir heute wissen, welche der vielen Möglichkeiten von Geschichte etwa des Jahres 1810 Wirklichkeit wurde. Und wir greifen uns dann jene Kunstwerke heraus, die dieser Entwicklung am besten zu entsprechen scheinen. Es soll nicht bestritten werden, dass auch die Kunst an der Entwicklung der Gesellschaft und der Stärkung des Subjekts ihren Anteil hat, aber sie zu einem seismographischen Instrument zu erklären, ist doch etwas zu viel Gedankengut des 18. Jahrhunderts.

Natürlich könnte man, um noch ein anderes Beispiel zu nennen, aus Richard Oelzes Werk „Die Erwartung“ aus dem Jahr 1935/36 einen prophetischen Hinweis auf die kommenden Ereignisse unter dem Nationalsozialismus herauslesen (Wiehager, 1993), aber dieser Hinweis stünde dann doch in keinem Verhältnis zu dem, was in Auschwitz und auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkrieges wirklich geschah. Das Bild ist eigentlich mehr Projektionsfläche heutiger Erkenntnisse als tatsächlich eine Antizipation späterer Ereignisse. Jahrzehnte später suchen wir unter den zigtausenden von Kunstwerken, die in dieser Zeit entstanden sind, diejenigen heraus, die mit ein bisschen Interpretationsgeschick auf die tatsächlichen Ereignisse bezogen werden können. Und diejenigen Kunstwerke, die keinen Bezug zu den realen Ereignissen hatten, lassen wir einfach draußen vor.

Oftmals ist es aber noch dramatischer: wir substituieren historische Ereignisse durch Bilder, die erst später in der Reaktion auf diese Geschehnisse gemalt wurden. Klassische Fälle sind etwa Guernica von Picasso, Die Erschießung der Aufständischen von Goya oder Das Floß der Medusa von Gericault. Alle diese Bilder entstehen nach den Ereignissen, fassen sie ins Bild, aber sie sind nicht prophetisch, sondern eher dokumentarisch. Das ist nun gerade nicht unbewusste Geschichtsschreibung, sondern bewusster künstlerischer Kommentar.

Da wir nun aber rückblickend meinen, in den Kunstwerken der Geschichte immer Verkörperungen der jeweiligen Epoche oder sogar Antizipationen künftiger Entwicklungen erkennen zu können, vermuten wir dies auch für die Kunst der Gegenwart. Die aktuelle Kunst zeige uns, meinten dann auch einige der Apologeten der documenta fifteen, dass die Macht des Westens endgültig gebrochen sei, sie antizipiere quasi das Ende der globalisierten Welt. Das ist vermutlich mehr Wunsch als Denken.

Die Idee dahinter ist freilich selbst schon ein Produkt der europäischen Moderne, die in immer radikaleren Überbietungsgesten nach Neuem und Grenzüberschreitendem suchte. Und wenn man das Gefühl hat, die westliche Moderne oder Postmoderne oder Zweite Moderne habe sich überholt, sucht man sein Heil im Exotismus, dieses Mal also im globalen Süden.

Triumph des Kulturalismus

Aktuell hat sich innerhalb des Betriebssystems Kunst auf internationaler Ebene ein Verständnis durchgesetzt, das die Kunst als Mittel zum Zweck betrachtet. Kunst kann in diesem Sinn Ausdruck einer nationalen oder ethnischen Identität sein, kreatives Hilfsmittel zur revolutionären Umgestaltung der Welt, Diskursanlass für Debatten über Ethik, Politik und Ethnizität. Was sie offenbar nicht mehr sein soll, ist ein autonomes, für das einzelne Individuum stehendes Werk. Es ist eine andere Kultur.

Heute dominiert das, was der Kunstphilosoph Bazon Brock anlässlich der documenta fifteen so charakterisiert hat: Kulturpolitik ordnet sich der Kunst vor und umgekehrt unterwirft sich die Kunst der Kulturpolitik (Brock, 2022). Brock benennt diese aktuelle Gefahr für die Kunst ganz konkret den Triumph des Kulturalismus. Nun kann Kulturalismus natürlich viel bedeuten, je nachdem, in welcher Wissenschaft der Begriff gebraucht wird. Zudem ist es auch ein Kampfbegriff in den Auseinandersetzungen um die Deutung der Gegenwart. Brock macht aber einen klar definierten Gebrauch des Wortes zur Grundlage seines Ansatzes, denn er begreift „Kulturalismus“ als intentionale „Führerschaft von Kulturen und ihrer Herren gegenüber der Kunst“:

„Es gibt nur noch Entscheidungen aus den Legitimationen des Kulturkontextes, vor allem der politischen Korrektheit innerhalb der Kulturen. Jede individuelle Äußerungsform, jede Autorität durch Autorschaft, die das Prinzip der westlichen Intellektuellen, der Schriftsteller, Philosophen und Künstler gewesen ist, wird ein für allemal liquidiert ... die Kultur siegt endgültig über das europäische Prinzip der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, das über 600 Jahre existiert und enormen Weltkenntnisfortschritt gebracht hat“.

Diesen Fortschritt und diese Freiheit wollten sowohl die documenta fifteen wie deren nationalen Kritiker:innen begrenzen und unter ihre Kontrolle bringen:

„Was Kunst ist, bestimmen die Kulturträger.“

Es ist der entscheidende Vorteil dieser Bestimmung von Kulturalismus durch Bazon Brock, dass sie beide Seiten des aktuellen Konflikts in die Kritik nimmt, also die Zangenbewegung von Kulturpolitik und Aktivismus gegen die Kunst präzis benennt (einerseits normativ kulturpolitisch oder klimapolitisch aus dem Westen, andererseits identitätspolitisch aus dem globalen Süden). Man muss dabei nicht allen polemischen Zuspitzungen von Brock folgen, aber hier trifft er ein entscheidendes Moment der elementaren Gefährdung der freien Kunst bzw. der Kunstfreiheit in der Gegenwart.

Im Grunde, so könnte man sagen, expliziert Brock einen berühmten Satz von Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1960: „Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung, ob er will oder nicht“ (Adorno 1960, 101). Adorno führte damals aus:

Die Forderung der Verwaltung an die Kultur ist wesentlich heteronom: sie muss Kulturelles … an Normen messen, die ihm nicht innewohnen, die nichts mit der Qualität des Objekts zu tun haben, sondern lediglich mit irgendwelchen abstrakt von außen herangebrachten Maßstäben, während gleichzeitig … der Verwaltende meist ablehnen muss, auf Fragen der immanenten Qualität, der Wahrheit der Sache selbst, ihrer objektiven Vernunft überhaupt sich einzulassen.

Das, was Adorno hier in relativ abstrakter Sprache beschreibt, haben wir ganz konkret in den letzten zehn Monaten erlebt. Wie Normen artikuliert wurden, die mit der Qualität von Kunst überhaupt nichts zu tun hatten, die aber zum Ausschlusskriterium einer Kunstausstellung wurden. Wer etwa der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“ beigetreten war oder der diese unterstützenden Gruppe „Wir können nur ändern, was wir konfrontieren“, sollte in Deutschland nicht mehr ausstellen dürfen und auch nicht als Kurator:in in einer öffentlich geförderten Ausstellung tätig sein. Ein klarer Verstoß gegen die in unserer Verfassung garantierte Kunstfreiheit, ein klarer Verstoß gegen die in unserer Verfassung garantierte Meinungsfreiheit, aber das interessierte die Politiker nicht. Für sie war klar: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“, nur in der modernen Variante: Will ich öffentliches Geld bekommen, muss ich auch staatskonforme Kunst schaffen. Was wir der Industrie nie durchgehen lassen würden, dass sie nämlich im Gegenzug fürs Sponsorengelder Kunst auswählen oder ausjurieren darf, das sollte nun politisch möglich werden. Keine Großausstellung ohne Normenkontrolle.

Bazon Brock verweist nun in Ergänzung zu Adorno und aus aktuellem Anlass darauf, dass diese Denkmuster nicht nur staatlichen Verwaltungen westlicher Länder eigen sind (auf die Adorno ja gezielt hatte), sondern auch bei identitätspolitischen und postkolonialen Kunst-Bewegungen bestimmend sind. Auch sie stellen Normen auf, die nichts mit der Qualität der Kunst zu tun haben, sondern ihr äußerlich sind. Meines Erachtens unterbewertet Brock dabei jedoch die Gefahr, die weiterhin von Verwaltungen und Kulturpolitiker:innen ausgeht. Die documenta fifteen war ein auf 100 Tage limitiertes Ereignis – und damit wirklich nur ein begrenztes Geschehen, das zudem von zahlreichen kulturellen Veranstaltungen in der ganzen Welt wie etwa der Biennale in Venedig konterkariert wird, die ganz andere Perspektiven eröffnete. Was aber von den staatlichen Kulturverwaltungen und den Kulturpolitiker:innen, aber auch von kirchlichen Kulturbeauftragten geäußert wurde, ist für die Situation der Kunst in Deutschland viel dramatischer.

Ich fasse es noch einmal zusammen: Aktuell treffen wir auf Kulturbeauftragte, die die Kunstobjekte, die sie verdammen, eingestandenermaßen gar nicht gesehen haben. Wir stoßen auf Kulturpolitiker:innen, die meinen, auch wenn die von ihnen beanstandeten Bilder gar nicht justitiabel seien, also von Gerichten niemals verboten werden würden, müssten sie dennoch entfernt werden. Wir stoßen auf religiöse Institutionen, die fordern, künftig vor der Eröffnung jeder bedeutenden Kunst­ausstellung müssten die zu zeigenden Objekte von ihnen oder sog. Verantwortungsträgern vorab auf die Einhaltung extern vorgegebener Normen geprüft werden. Wir beobachten allgemein die Tendenz, Vertreter:innen bestimmter Meinungen grundsätzlich vom Kulturbetrieb auszuschließen. All das ist kulturelle Wirklichkeit in Deutschland. Und das muss uns erschrecken, denn so kommt freie Kunst gar nicht erst zustande.

Dagegen ist eine Erscheinung wie die documenta fifteen selbst ephemer. Sie dient tatsächlich, wie Bazon Brock es auch festhält, allenfalls als temporärer Index einer bestimmten Situation der Kunst. Diese Documenta fifteen, so hatte er gesagt,

ist die wichtigste, weil sie die Situation der Weltlage im Augenblick am genauesten abbildet. Sie ist damit die gefährlichste und folgenreichste. Sie ist damit auch die beachtenswerteste. Jetzt kann man nicht mehr davon absehen, prononciert Stellung zu beziehen. Jeder ist jetzt aufgefordert, sich zu entscheiden: [will] man zu den Kulturalisten [gehören], die alles vernichten, was überhaupt je Autorität durch Autoren und Wissenschaftler [erhalten hat]?

Aber was wäre die Alternative? Es scheint mir offenkundig, dass die Bestimmung von Kunst, die Bazon Brock im Gegenzug vorzuschweben scheint, von der Mehrheit in der gegenwärtigen Gesellschaft, ja vielleicht sogar selbst von der Mehrheit der Aktiven im Betriebssystem Kunst gar nicht mehr geteilt wird. Es ist nicht unbedingt die Idee des l’art pour l’art, die von Brock hier in Anschlag gebracht wird, wohl aber die Idee einer wirklich freien Kunst im Sinne von Autonomie, ganz so wie sie die aufklärerische Philosophie im Gefolge von Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ entworfen hatte (Kant 2011) und wie sie Theodor W. Adorno im 20. Jahrhundert noch einmal in der „Ästhetischen Theorie“ reformuliert hat (Adorno 2014).

Die Idee der autonomen Kunst

Wir müssen daher noch einmal im Sinne dessen, was Günther Anders mit der Metapher von der Raupe und dem Schmetterling andeutete, nach der Eigentümlichkeit des so herausgestellten Schmetterlings fragen.

Was ist das Besondere des Schmetterlings namens Kunst, wenn wir sie nicht funktional, identitätspolitisch oder kulturpolitisch bestimmen und damit eingrenzen, sondern als frei und autonom anerkennen? Was kennzeichnet Kunst, dass wir ihr ausdrücklich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland eine vorbehaltlose Freiheit einräumen – ein Privileg, das kaum eine andere Verfassung kennt, weil sich das Grundgesetz aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus speist und als Gegenentwurf zu den Kulturreglementierungen zwischen 1933 und 1945 versteht und allen Tendenzen in diese Richtung entgegenwirken will.

Nun lebte das von Immanuel Kant entwickelte Konzept der Autonomie der Kunst von Voraussetzungen, die schon früher nur wenige Bürger:innen wirklich geteilt haben. Sie waren kein Common Sense, der von allen verteidigt wurde, aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht verteidigenswert wären. Auch andere elementare Konzepte basieren nicht unbedingt auf einem breiten Common Sense, aber sie bilden dennoch die Grundlage unserer Zivilisation.

In seinem jüngst erschienen Buch „Die Kunst ist frei? Eine Streitschrift für die Kunstautonomie“ hat der jüdische Soziologe Moshe Zuckermann drei Grundannahmen für das Verständnis der autonomen Kunst beschrieben (Zuckermann, 2022):

  • 1.    „Im Gegensatz zur Ausrichtung der Welt auf die zunehmende Unterordnung von immer mehr Lebensbereichen unter das hermetische Diktat der instrumentellen Vernunft, … begreift sich die Raison d'etre [Existenzberechtigung] der Kunst in der Verwirklichung ihres Selbstzwecks. Die Frage »Warum Kunst?« beantwortet sich mit der dezidierten Antwort »Um der Kunst willen« und nicht, um ein anderes, außerkünstlerisches Ziel zu verfolgen … So besehen, manifestiert sich der Zweck der Kunst … in ihrer kategorischen Weigerung, sich fremdbestimmten Zwecken unterzuordnen, heteronomen Zielen, die ihre Autonomie zwangsläufig verraten.“

Ich gehe davon aus, dass aktuell nur wenige der „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ als Beschreibung von Kunst zustimmen würden. Dass die Kunst allein schon deshalb „quer steht zur Welt“, weil sie nicht deren Logiken unterliegt, erscheint kaum einsichtig. Allzu selbstverständlich erscheint in der durchgehend zweckrationalisierten Welt, dass auch die Kunst zu etwas dienen muss. Und nichts erscheint grauenhafter, als dass die Kunst ohne Zweck und nur in und für sich zweckmäßig wäre. Keine Kirchenrät:innen, keine Kulturpolitiker.innen, keine Klimaaktivist:innen können sich mit diesem Gedanken anfreunden. Aber er bildet eine zentrale Grundlage von autonomer Kunst.

  • 2.    „Die spezifische Materialanordnung - die Komposition - ist ihr nicht nur als Technik, Methode oder Prozedur zu eigen, sondern vor allem als das, was ihr We­sen als schöpferischen Akt ausmacht“.       

Auch dieser zweite Punkt, dass nämlich die ästhetische Materialbeherrschung ein für die Kunst zentraler Moment ist, erscheint heute nur noch Wenigen einsichtig. War es lange Zeit und in der breiten Öffentlichkeit vor allem der Inhalt, das Sujet der Kunst, das erörtert wurde, so ist es heute oft die Haltung der Künstler:innen. Nach dem Motto: Es mag ja gute Kunst sein, aber wen interessiert es, wenn die Künstler:innen doch die falsche Haltung einnehmen.

Über das Kunsthafte der Kunst wurde auf der documenta weder von den Kurator:innen noch von den Kritiker:innen wirklich gesprochen, sondern über politische oder ethische Haltungen.

Das war in früheren Zeiten anders, als bei einem Mehrfachmörder wie Benvenuto Cellini noch zwischen seiner Kunst und seiner Lebensführung unterschieden wurde. Bis heute ehrt die Stadt Florenz den Künstler Benvenuto Cellini mit einer Büste auf der Ponte Vecchio und zeigt weiterhin seinen Perseus in der Loggia vor dem Palazzo Vecchio, weil man zwischen menschlichem Fehlverhalten und ästhetischer Materialbeherrschung sorgfältig unterscheidet.

  • 3.    Die „emanzipative Dimension ist nicht als eine ihrer selbst bewussten Deklaration der Kunst zu verstehen, sondern sie ergibt sich aus ihrem schieren Stand als Gegenentwurf zur repressiven Lebensrealität ...“      

Dieser dritte Punkt ergibt sich aus den beiden vorherigen. Emanzipatorisch ist die Kunst demnach, gerade weil sie quasi ein Modell nicht zweckhaften Lebens vorlebt und nicht deshalb, weil sie engagiert ist.

Nun gibt es im 20. Jahrhundert durchaus „Engagierte Kunst“, die inhaltlich emanzipatorisch sein will. Sie ist mit Namen wie Jean-Paul Sartre oder Käthe Kollwitz verknüpft.

Die „engagierte Kunst“ bezieht ihre Daseinsberechtigung aus der Politik, oder deutlicher: der Macht (statt aus der Liebe, dem Tod oder dem Glauben). Dabei setzt das Adjektiv nicht nur eine politische Einstellung voraus, sondern auch den festen Vorsatz, sie ausdrücklich, nahezu obsessiv öffentlich auszustellen; und die Auffassung, die Kunst sei ein Werkzeug, mit dem die Gesellschaft verändert werden könne. (Sylvester 2011)

Das haben wir extensiv auf der documenta fifteen erlebt. Die Frage bleibt allerdings, was ist das Kunsthafte an der „engagierten Kunst“, also das, was sie von einem nicht-künstlerischen Engagement spezifisch unterscheidet? Ist es nur der Tatbestand, dass es von politisch engagierten Künstler:innen betrieben wird? Oder ist es eine besonders kreative Form des Engagements? Hat es etwas mit den Inhalten zu tun oder betrifft es auch die Form? Nun war ja auch die christliche Kunst engagierte Kunst, denn sie trat für das Christentum, dessen Ideologie und dessen Themen ein. Und es gehörte zum Selbstverständnis der Kunst nach 1300 sich genau davon zu emanzipieren. Warum dann nun eine neue Bindung der Kunst - an die politische Funktion?

Der Schriftsteller Jorge Luis Borges hat deshalb den Begriff der „engagierten Kunst“ für völlig abwegig gehalten, für ihn erscheine das so ähnlich, als wenn man von „protestantischem Reitsport“ sprechen würde. Und so gab es viele Stimmen in der Diskussion über die Leistung und das Wesen der Kunst, die daran festhielten, dass gerade im Verzicht auf die politische Parteinahme der wahre emanzipatorische Charakter der Kunst liege. Nicht indem sie selbst zweckrational an den politischen Konflikten der Gegenwart teilnimmt und sich damit zugleich kompromittiert, sondern indem sie die Alternative zur Zweckrationalität bildet und das einsichtig macht.

Wir kommen so in die paradoxe Situation, dass gerade in der Tatsache, dass die Kunst kein Spiegel der Welt ist, dass sie nicht künftige Entwicklungen antizipiert, sondern dass sie quer steht zur Geschichte, ihre besondere emanzipatorische Bedeutung für die Menschen liegt.

Die „Welterkenntnis“ der Kunst besteht darin, dass dies alles, was uns umgibt, mit seinen Instrumentalisierungen und Funktionalisierungen eben noch nicht alles ist. Denn in der Kunst erfahren wir, so hat das der Philosoph Rüdiger Bubner ausgedrückt,

„die Welt nicht, wie sie ist – das wäre Aufgabe der Erkenntnis, und ebenso wenig, wie sie sein soll – das wäre praktische Verwirklichung des Intelligiblen. Kunst zeigt Welt, wie sie wäre, wenn sie in sich und d.h. ohne unser Zutun sinnvoll strukturiert wäre“
(Bubner 1989, 127).

Diese Positionsbestimmung der Kunst entspricht der Philosophie Immanuel Kants in der „Kritik der Urteilskraft“ und sie wurde für das Verständnis der europäischen Kunst grundlegend. Das abendländische Modell der Kunst,

  • für sich selbst und das Individuum zu stehen,
  • nicht Illustration vorgegebener Inhalte zu sein, sondern formale Durchdringung selbstgewählter Materialien und Stoffe und dadurch
  • ein Gegenmodell auszubilden zur verwalteten Gesellschaft,

macht die abendländische Kunst nicht erst in der Moderne bedeutsam.

Die Wahrheit der Kritik

Man muss aber nun auch eingestehen, dass dieses abendländische Modell der Kunst sich in einer Gesellschaft entwickelt hat und mit ihr fast untrennbar verbunden ist, die ausbeuterisch, kolonialistisch, repressiv und keinesfalls egalitär war. Keine Renaissance-Kultur ohne die Medici, keine bürgerlichen Kunstvereine ohne die Gewinnmaximierung durch Industrialisierung und Kolonialismus. Das muss bedacht werden.

Die Kunst betont die „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu 2000), sie lebt von der Distinktion und eben auch von der Feier des Überflusses (Thorstein Veblen 1989). Das ist ihr Schatten, seitdem Menschen freigesetzt wurden, Bilder und Kultur zu produzieren. Und dieser Schatten ist lang, er zeigt sich bis in die Gegenwart im Umgang mit Kunst. Wenn Menschen heute ein Museum oder eine Ausstellung besuchen und vor Bildern stehen, dann wird diese Situation immer noch nicht von allen gleich empfunden. Einige bringen vom Elternhaus viel „kulturelles Kapital“ mit und wissen, welche Fragen man vor Bildern stellen und welche Aussagen man (nicht) machen sollte. Auch heute dient Kunst der Abgrenzung. Kunst als Kunst „lesen“ zu können, ist ein Privileg.

Ein klassisches Beispiel, das der Soziologe Pierre Bourdieu einmal vorgestellt hat, ist der Blick auf eine Schwarz-Weiß-Fotografie von zwei Händen. Während Menschen ohne kulturelles Kapital sofort beginnen, über die funktionalen Kontexte nachzudenken (Arbeiterhände, Bauernhände, schwere Arbeit, Ausbeutung usw.), urteilen Menschen mit kulturellem Kapital völlig anders. Sie sprechen über die Körnung, die Schattenbildung, die Lichtführung. Und das machen sie, weil für sie die funktionalen Kontexte nur das außerästhetische Substrat sind, mit dem Künstler:innen arbeiten. Und diese unterschiedlichen Zugangsweisen bestehen bis in die Gegenwart.

Nun könnte man meinen, gerade weil Kunst quer zur Geschichte steht, sei sie nicht darauf beschränkt, nur Ausdruck dieser negativen Verhältnisse zu sein, vielmehr könne sie auch das Bewusstsein davon wachhalten, dass es auch anders sein könnte.

Aber das wird ihr im postkolonialen Diskurs weitgehend bestritten. Dieser sieht die abendländische Kunst durch die Geschichte ihrer Gesellschaften als grundsätzlich und unentrinnbar kompromittiert an. Das Sein bestimme eben das Bewusstsein. Das ist ein fast schon klassisches, aber eigentlich auch überholtes vulgär-marxistisches Modell des Verhältnisses von Basis und Überbau, ganz so als ob der Überbau (also die Kultur) ein direkter Spiegel der Basis (also der ökonomischen Verhältnisse) sei und nicht auch Elemente beinhalten könnte, die gegenüber der Ökonomie widerständig sein können.

Künstler wie Giotto oder Masaccio haben zeitlebens für die Reichen ihrer Zeit gearbeitet und doch bilden ihre Werke die geistigen Grundlagen dafür aus, dass das Weltbild der damaligen Zeit erschüttert wird. Albrecht Dürer war ein vermögender Bürger und Ratsherr seiner Zeit, aber er schafft Kunst, die über den Rahmen der spätmittelalterlichen Gesellschaft weit hinausführt. Artemisia Genteleschi hat sicher ebenfalls nur für die Reichen gearbeitet, aber ihr Werk war so revolutionär, dass man sich bis ins 20. Jahrhundert nicht vorstellen konnte, dass es von einer Frau geschaffen wurde, weshalb man es ihrem Vater zuschrieb. Alle diese Künstler:innen waren Auftragnehmer:innen des jeweiligen herrschenden Apparats und schufen zugleich die Voraussetzungen zu dessen Kritik und  Sturz. Das müsste m.E. dann auch für die gesamte abendländische Kunst in Anschlag gebracht werden.

Ich glaube daher, dass trotz all der Verstrickungen der Künste mit dem herrschenden Apparat, man es sich schlicht zu leicht macht, die Kunstwerke diesem umstandslos zuzurechnen. Kunst, darauf habe ich ja nun eingehend hingewiesen, besitzt als Kunst einen Überschuss, der die bestehenden Verhältnisse überschreitet. Dennoch muss man einräumen, dass Bildende Kunst allzu oft zur Herrschaftsstabilisierung beigetragen hat. Und Bildende Kunst war zugleich sicher auch eine Profiteurin des durch den Kolonialismus erwirtschafteten Kapitals.

Kleiner amüsierter Exkurs über koloniale ‚Stillleben mit Bananen‘

Wenn ich schon einmal bei exotischen Metaphern für Kunst und Welterkenntnis bin, kann ich (neben Raupen und Schmetterlingen) aus postkolonialen Diskussionen auch die Bananen aufgreifen. Dazu hat die Kunsthalle Bremen 2017 eine Ausstellung gemacht: „Der blinde Fleck. Bremen und die Kunst in der Kolonialzeit.“

Inwiefern ist ein Kunstwerk mit Bananen, das 1905 entstanden ist, ein Beispiel kolonialistischer Verstrickung? Tatsächlich zeigt eine postkoloniale Analyse von Paula Modersohn-Beckers Stillleben mit Äpfeln und Bananen, dass sie von Voraussetzungen Gebrauch macht, die heute so nicht mehr unmittelbar einsichtig sind, also sozusagen zu den blinden Flecken unserer Wahrnehmung gehören. Denn es ist so, dass Bananen 1905 zu den absoluten Luxusgütern des Kolonialimports gehören. Erst nach 1920 werden diese Kolonial­importe häufiger angeboten, so dass sie sich auch normale Bürger:innen leisten  können. Wäre also Karl Schmidt-Rottluffs Bananenstillleben von 1928 weniger in den Kolonialismus verstrickt? Oder ist gar erst das Bild des Künstlers aus dem Jahr 1950 von kolonialistischen Verstrickungen freizusprechen? Vielleicht aber sind beide Bilder noch schlimmer, weil sich Deutschland postkolonial mit der afrikanischen Frucht-Compagnie die Bananen-Plantagen 1923 wieder erschlichen hat? Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Aber ich bereit zu lernen. Manchmal sind eben simple Bananen auf einem Kunstwerk in Fragen des Kolonialismus aussagekräftiger als man meint.

„Religion in der Kunst“ – eine spezifische Form des Kulturalismus

Was heißt all das nun für das Verhältnis von Religion und Kunst? Es dürfte einsichtig sein, dass vieles von dem, was ich bisher beschrieben habe, auch für dieses besondere Verhältnis zutrifft. Der Umgang der Kirche mit der Kunst ist schon fast ‚naturgemäß‘ eine spezifische Form des Kulturalismus. Es wird zunächst ein kultureller Kontext bestimmt (religiös / christlich / protestantisch / lutherisch) und dann wird jene Kunst gesucht, die etwas von diesem kulturellen Kontext spiegelt oder in diesem Sinn interpretiert werden kann. Kirche fragt also nicht: was geschieht in der Kunst als einem Spezifikum des Menschen, was kann ich aus ihr erfahren und lernen? Sondern sie sucht nach dem Eigenem im Fremden: wo sind verwertbare religiöse Restbestände in der Kunst der Gegenwart zu finden?

Ein Beispiel: In der Stadt Wittenberg gibt es eine Stiftung Christliche Kunst, die man als typisch in diesem Sinn begreifen kann. Sie schreibt über die gesammelten Objekte:

„Die Kunstwerke der Sammlung thematisieren existentielle Grundfragen menschlichen Lebens im Spiegel biblischer Bilder, Gleichnisse oder Themen der christlichen Ikonografie. Die Sammlung zeigt eindrucksvoll die Prägung selbst der jüngsten Kunst durch die abendländisch-christliche Tradition.“

Das ist eine identitätspolitische Formulierung durch und durch. Man bestimmt vorab die Identität durch eine kulturtheologische These (biblische Bilder und Gleichnisse thematisieren existentielle Grundfragen), die traditionsgeschichtlich erweitert wird (weitere Themen der christlichen Ikonografie). Diese so bestimmte Identität wird in der zeitgenössischen Kunst gesucht und, sobald man fündig wird, als eindrucksvolle Prägung der Kunst durch die abendländisch-christliche Tradition gedeutet.

Ich schlage vor, dasselbe auch mal für die Metzgerei oder die Landwirtschaft zu versuchen. Metzgerei sei deshalb bedeutsam, weil ihre Produkte auch in der Kunst der Gegenwart vor­kom­men. Und Landwirtschaft, weil Äcker weiterhin auf vielen Kunstwerken zu sehen sind. Das ist lächerlich. Nur nicht bei der Kirche. Man könnte vermuten, in ihrer Panik angesichts des sich abzeichnenden Bedeutungsverlustes klammert die Kirche sich an alles, was ihr noch Bedeutung zu geben scheint und sei es das angebliche Vorkommen christlicher Motive in einer säkular gewordenen Kunst. Zum Problem wird das, wenn nur noch auf diese religiösen Restbestände in der Kunst geschaut wird. Denn blickt man nur auf die religiöse Ikonographie, dann gehen einem spätestens im 20. Jahrhundert 96% der Bildenden Kunst verloren (vgl. Morel 1975).

Letztlich ist es aber auch ein vormodernes Kunstverständnis, das sich da zeigt, da es sich am dargestellten Inhalt der gesammelten Kunstwerke orientiert. Selbst da, wo liberale Kulturtheolog:innen sich nun ans Gefühl klammern und so den Objektbereich noch einmal drastisch erweitern, geht es ihnen doch nur um einen Beweis der eigenen Bedeutung. Metzger-Innungen und Bauern-Verbände haben das offenbar nicht nötig.

Alle Bemühungen, im Fremden nur das Eigene zu suchen, erfüllen mich mit Skepsis. Es ist kulturelles Missverständnis. Man betreibt Kulturalismus im Auftrag der Kirche – auch dann, wenn man sich als Religionshermeneutiker:in liberaler Provenienz tarnt und in der Tradition Schleiermachers nur nach religiösen Gefühlswelten sucht.

Indirekt sagt die Kirche damit aber noch etwas anderes: wenn die Kunst nichts Religiöses mehr zeigt, was kümmert sie uns dann? Leicht modifiziert ist die von den Klimaaktivist:innen herausgebrüllte Formel „Was ist mehr wert: Kunst oder Leben?“ eben auch die Losung der Kirche: Kunst, die nicht dem eigenen Selbsterhalt dient, interessiert nicht. Wenn also Religion, religiöse Befindlichkeit in der Kunst nicht mehr vorkäme, wäre sie für die Kirche abgeschrieben. Das wäre fatal, denn in jeder Raupe steckt ein Schmetterling.

Selbstverständlich kann die Kunst auch religiöse Motive aufgreifen, das gehört zu ihrer Autonomie. So hat das Andres Serrano mit seinem legendären „Piss Christ“ getan. Das entscheidende Kriterium bleibt dabei die formale Durchdringung des Motivs. Ich benenne das Werk „Piss Christ“ deshalb, weil es vor 35 Jahren einen ähnlichen Konflikt ausgelöst hat wie die documenta fifteen. Auch damals meinte man, an inhalt­lichen Elementen festmachen zu können, dass die Kunst und Kultur, die so etwas macht, nicht mehr gefördert werden dürfe. Wenn wir aber nicht endlich lernen, die Autono­mie der Kunst anzuerkennen, werden solche Konflikte immer wiederkehren.

Zusammenfassender Epilog: Nur Raupen oder doch auch Schmetterlinge?

Vor 300.000 Jahren entwickelte sich der Homo sapiens, 200.000 Jahre später begann er, Kultur als Spezifikum seiner Art auszubilden. Er wechselte sozusagen von der reinen Raupe zu einem Wesen, das auch Schmetterling werden kann. Mit der Sesshaftwerdung entwickelte sich die Religion und bekam eine zunehmend dominante Funktion für die Kultur, bis sich nach dem Jahr 1000 die Kultur von der Religion und später dann auch vom Staat emanzipierte. Heute stehen wir vor einer säkularisierten Kultur, die selbst bestimmt, was sie macht und nach welchen Regeln sie verläuft. Es macht keinen Sinn so zu tun, als ob man noch in vorneuzeitlichen Zeiten lebt.

Rückblickend erweist sich die Kunst als relativ guter Index der Zeitumstände. Dabei greifen wir aus der Vielzahl der Objekte jene heraus, die zur tatsächlichen Geschichte passend erscheinen. Selbstverständlich können Kunstwerke Geschichte beeinflussen, dies aber nicht durch eine besondere Begabung oder gar das Genie der Künstler:innen, sondern weil sie selbst Teil der Geschichte sind. Das besondere Moment der Kunst ist daher nicht ihre Zeitdiagnostik, die sie an die Geschichte bindet, sondern der Umstand, dass sie quer zur Geschichte steht. Sie zeigt uns, wie eine Welt beschaffen wäre, die nicht aus Zwang oder Not handelte, nicht instrumentell die Dinge zurichtet, sondern wo alles so steht, wie es sinnvoll wäre. Sie zeigt uns im Stande der Raupen, was ein Dasein als Schmetterling bedeutet. Theologisch gesprochen „Unter dem Gesichtspunkt der Schöpfung … ist der Schmet­ter­ling die der Raupe ursprünglich gegebene Verheißung dessen, was sie werden soll“. 

Literaturverzeichnis
  • Adorno, Theodor W. (1960): Kultur und Verwaltung. In: Merkur, Jg. 14, H. 144. S. 101-121.
  • Adorno, Theodor W. (2014): Ästhetische Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main.
  • Anders, Günther (2020): Über die Nachhut der Geschichte Vorfragen auf einer Kunstreise. In: Anders, Günther: Schriften zu Kunst und Film. Herausgegeben von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz. München, S. 301–306.
  • Barth, Karl (1928): Die Kirche und die Kultur. In: Barth, Karl (Hg.): Die Theologie und die Kirche. München, S. 364–391.
  • Bourdieu, Pierre (2000): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main.
  • Brock, Bazon (2022): Kürzeste Besucherschule d 15 von Bazon Brock, Denker im Dienst der Polemosophie. Der Fluch der guten Tat/Kulturalismus erledigt die Kunst. Köln
  • Bubner, Rüdiger (1989): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a. M.
  • Kant, Immanuel (2013): Kritik der praktischen Vernunft. Stuttgart
  • Kant, Immanuel (2011): Kritik der Urteilskraft. Stuttgart
  • Lethen, Helmut (1994): Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt am Main.
  • Mertin, Andreas (2022): Identität – Original – Kapital – Häresie. Eine Auseinandersetzung mit Günther Anders. In: tà katoptrizómena, Jg. 24, H. 137. https://www.theomag.de/137/am756.htm.
  • Morel, J. (1975): Säkularisierung und die Zukunft der Religionen. In: Hanf, Theodor (Hg.): Funk-Kolleg sozialer Wandel. Frankfurt/M. S. 237–254.
  • Ullrich, Wolfgang (2017): Zwischen Deko und Diskurs. https://www.perlentaucher.de/essay/wolfgang-ullrich-ueber-kuratoren-und-kunstmarktkunst.html.
  • Wiehager, Renate (1993): Richard Oelze, Erwartung. Die ungewisse Gegenwart des Kommenden. Frankfurt am Main.
  • Sylvester, Santiago (2011): Darf Kunst engagiert sein? In: Le Monde diplomatique.
    https://monde-diplomatique.de/artikel/!256363.
  • Veblen, Thorstein (1989): Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Frankfurt a.M.
  • Zuckermann, Moshe (2022): Die Kunst ist frei? Eine Streitschrift für die Kunstautonomie. Frankfurt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/140/am774.htm
© Andreas Mertin, 2022