Schafft die documenta ab!

Notizen zur Dialektik der Aufklärung

Andreas Mertin

Zur langsamen Petrifizierung einer Institution

Nach nunmehr 67 Jahren ist die Documenta offenkundig an ihr Ende gekommen. Schon seit 15 Jahren verkünden die Documenta-Leiter:innen, sie wüssten gar nicht, was Kunst ist und präsentieren ein ermüdendes Spiel der Formen und das Drama der Politisierung von Kunst. Die dabei verwendete Rhetorik war zuletzt kaum erträglich.

Die Documenta hatte sich überlebt, ohne es zu bemerken. Auf den einzelnen Documenta-Ausstellungen war selbstverständlich auch gute Kunst zu entdecken, aber eine Weltkunstausstellung, gar die wichtigste Kunstausstellung der Welt, ist die Documenta schon länger nicht mehr. Sie ist nur noch eines von vielen Kunst-Events dieser Welt – und so gesehen überflüssig.

Auch die fortschreitende Geißelung der westlichen Kunst und Kultur wurde immer unerträglicher. Man kann Westkunst mit guten Gründen kritisieren, aber es sollte eben auch begründet werden. Deutschland hat eines der erfolgreichsten Kunstsysteme der Welt, nicht zuletzt Ergebnis unseres föderalen Systems und der Dichte an Kunsthochschulen, Kunstvereinen und Galerien, um die uns die gesamte Welt beneidet. Es ist, so schrieb einmal die New York Times, ähnlich wie der VW-Käfer: es läuft und läuft und läuft. Wer sich die Liste der 100 wichtigsten lebenden Künstler:innen auf der Welt anschaut, wird überproportional häufig auf deutsche Künstler:innen stoßen und auf noch viel mehr, die sich Deutschland als Arbeits- und Wohnort gewählt haben. Dennoch wurde in Kassel so getan, als ob man in globaler Hinsicht Kunst-Analphabet wäre und deshalb äußere Impulse bräuchte, um endlich zu wissen, was aktuell der Stand der Kunst ist.

Und dann werden Kunstwerke in Kassel präsentiert, die schon Patina angesetzt haben, Werke, die schon vor Jahrzehnten so oder so ähnlich zu sehen waren oder, wie vielfach auf der aktuellen Documenta, gar nicht erst mit dem Anspruch auftraten, Kunst zu sein. Sie hätten ihren Platz ebenso gut auf einem evangelischen oder katholischen Kirchentag oder einem Parteitag finden können. Kreative Politikkunst mit ethischen Impulsen. Diese Arbeiten wurden dann mit einem kunsttheoretischen Brei überzogen, der mit viel unverständlichem Kauderwelsch überdecken sollte, wie schwach die ausgestellten Werke und wie kurzatmig das kuratorische Konzept war, das sie nach Kassel gebracht hatte. So hieß es zur documenta 14

"Die Arbeit von Künstler_innen besteht heutzutage hierin: Dispositive parrhesiastischer Affektivität herzustellen, die in der Lage sind, der Ikonizität und den festen Werten zu widerstehen, das heißt den semiotischen Dispositiven, die an der Macht sind und den kinematischen Avatar und das verschuldete Subjekt produzieren."

Wenn man davon ausgeht, dass die Documenta zuletzt mit Okwui Enwezor, also 2002 auf der Höhe der Zeit war, dann muss man ehrlich sagen: sie hat sich 2022 endgültig überholt. Spätestens dann, wenn die Bundespolitik in Gestalt einer grünen Kulturstaatsministerin kulturpolitisch in die Konzeption von Kunstausstellungen eingreift, muss man die Reißleine ziehen. Und da sich auch die lokale sozialdemokratische Politik seit 10 Jahren nun gerade nicht mit Ruhm bekleckert hat, was die Kultur der Documenta betrifft (man erinnere sich nun an das Gezerre um den Obelisken 2017), wäre es am Sinnvollsten, das Experiment Documenta nach 2022 wirklich zu beenden. Es war eine interessante Zeit, sie hat in aufregender und spektakulärer Weise die Kunstwelt im Wandel gezeigt, aber nun hat uns die Institution Documenta nichts mehr zu sagen. Normalerweise sollte man aufhören, wenn es am besten ist, wenn man auf der Höhe der Zeit ist – das wurde in Kassel verpasst. Aber besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

Die Welt hat bereits seit 1895 eine veritable Alternative, anders im Konzept, aber mit einem viel attraktiverem Ambiente: die Biennale di Venezia. Auch die hat ab und an Schwächephasen, etwa wenn der römische Staat zu sehr in seinen Pavillon eingreift, aber das wird kompensiert durch die Vielzahl anderer Impulse, die von den nationalen Pavillons und eben auch von den Collaterali ausgehen. Über die weltweite Kunst lernt man alle zwei Jahre in Venedig viel mehr als durch die Weltkunstausstellung in Kassel alle fünf Jahre. Und es ist ja nicht so, dass in Venedig nur Staatskunst gezeigt würde – ganz im Gegenteil.

Das einzige Argument, dass für die Fortsetzung der Documenta spricht, wäre ja die fortschreitende Institutionalisierung oder sagen wir bissiger: Bürokratisierung der Veranstaltung. Immer mehr Institutionen werden in Kassel angesiedelt, die keinen anderen Zweck haben, als sich um die Documenta zu kümmern. Aber wenn sie dann mal Krisenmanagement betreiben sollen, wie im vorliegenden Fall das documenta-Archiv in Sachen Antisemitismus, dann versagen sie. Solche Institutionen garantieren eben nicht die Vitalität einer Ausstellung, im Gegenteil, sie tragen zu ihrer Erstarrung bei. Man sieht am Christentum, dass die Petrifizierung nicht das Ende einer Bewegung bedeuten muss. Aber was bedeutet das?

Wenn wir etwas aus der Geschichte des Christentums lernen können, dann dies, dass der nächste Schritt die Gesinnungsschnüffelei sein wird: wie im zweiten und dritten Jahrhundert wird es nun die Scheidung von den Häresien geben, die Kontrolle der Haltungen und das Festlegen der anzuerkennenden Dogmen für die Teilnahme am System. In Zukunft wird es entsprechend dem Bundestagsbeschluss vom Mai 2019 eine Gesinnungsprüfung geben, die mit Kunst und Kultur nichts zu tun hat, sondern nur fragt: haben sich die Auszustellenden schon einmal zu Israel geäußert, haben sie sich dabei ablehnend, kritisch oder neutral verhalten? Der Radikalenerlass kehrt in neuer Form wieder mit all seinen unsäglichen Implikationen. Nun werden auch Juden, die etwa die Jerusalemer Erklärung unterschrieben haben, nicht mehr für eine Documenta in Frage kommen, sie stehen ja, wie die Inquisition des Jahres 2022 bereits bewiesen hat, auf der falschen Seite. Die Abzähllogiken der Gesinnungsschnüffler der Springerpresse haben ja nicht unterschieden, ob jemand bei BDS engagiert ist oder BDS nur nicht ablehnt, oder im Boykott der Boykotteure nur das falsche Mittel sieht. Für die Springerpresse war alles gleich, es ging um Unterwerfung. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Da wird dann auch auf die Religion keine Rücksicht mehr genommen, so dass man durchaus vom "diskursiven Reinigungsfuror eines publizistischen Bataillons aus Anti-Antisemiten" (Eva Menasse) sprechen konnte. In Zukunft würde also nicht mehr die Bedeutung im Betriebssystem Kunst, sondern die Haltung zu einer politischen Bewegung über Teilnehme oder Nichtteilnahme entscheiden. Eine absolute Horrorvorstellung. Heute mag es BDS sein, morgen Russland und übermorgen? Wer möchte den muslimischen Verbänden ihre Intervention verbieten, wenn auf einer Kunstausstellung ein Künstler oder eine Künstlerin den Propheten Mohammed herabsetzend darstellt oder auch Muslime generell mit einer Bombe im Turban? Und den christlichen Kirchen, wenn etwa das Abendmahl lächerlich gemacht wird?[1] Künftig ist die Documenta von politischen und religiösen Vor-Urteilen abhängig. Natürlich muss protestiert werden, wenn Dinge schieflaufen und Menschen herabgesetzt werden, aber der Gedanke, dass künftig Verbände und Verbandsvertreter darüber entscheiden, ob und wie eine Documenta stattfinden kann, ist unerträglich. Die Documenta ist dauerhaft beschädigt.

Da ist die Biennale doch ehrlicher, weil die Verantwortlichkeiten diversifizierter sind: Der Staat Israel hat ebenso dauerhaft seinen Pavillon im Zentrum der Giardini wie Dänemark, Frankreich oder Korea. Und insgesamt 80 Staaten machen es ihnen im Stadtgebiet von Venedig nach. Auch da kommt es zu Einseitigkeiten und Perversionen: wenn etwa Oligarchen ihren Staaten wie im Fall der Ukraine eine Propagandakirche einrichten. Aber das neutralisiert sich im Konzert der Positionen und die Subjekte werden zu eigenen Urteilen herausgefordert: Rechtfertigt der gute Zweck tatsächlich schlechte Kunstwerke? Aber die diversen Prüfungen auf Rechtgläubigkeit, die man während der Documenta fifteen wie auf einem frühchristlichen Konzil vorgetragen bekam, bekommt man in Venedig nicht vorgesetzt, hier kann man sich der Kunst zuwenden.

Aschenputtel oder: Der Bitterfelder Weg der Ruhrbarone

Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Was wir künftig in Kassel bekommen würden, so es denn eine Nachfolge-Documenta gäbe, wäre eine Kunstausstellung nach dem Modell des Bitterfelder Weges der DDR: staatlich geprüfte und genehmigte Kunst, Kunst mit dem Sigel des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, aber auch der vielen anderen mit Gerechtigkeit und Interessen, sprich Gesinnungsbeauftragten. Jeder Interessensverband darf vorab seine Kriterien für die Documenta-Teilnahme benennen. Wenn Kulturpolitiker:innen eines bei Hitler, Stalin und Ulbricht lernen können, dann dies: wie man staatlicherseits mit Kunst und Kultur umgeht.

Künftig werden also, ähnlich wie Hitlers Schergen die Biografien der im Deutschen Reich ausgestellten Künstler:innen daraufhin durchforsteten, ob diese a) jüdischer Abstammung oder b) Sympathisanten des Kommunismus waren, auch neu-deutsche Kulturbeauftragte kontrollieren, ob die Auszustellenden staatskonform sind. Das wäre das Ende von Kunst und Kultur in Deutschland im Namen des Kampfes gegen den Antisemitismus und für die rechte Gesinnung. In den etwas ungeschickten Worten der Ruhrbarone:

Die Funktionäre der subventionierten Kulturszene liefen Sturm und ignorierten den Willen der Politik. Hätte Schormann dafür gesorgt, die antisemitische(sic!!) Position des höchsten deutschen Parlaments umzusetzen, wäre sie heute noch im Amt und hätte der Documenta einen Skandal erspart, der ihre weitere Existenz gefährdet.

Schon die Rede von den „Funktionären der subventionierten Kulturszene“ ist reaktionär durch und durch. Schon Theodor W. Adorno hat sich in „Vorschlag zur Ungüte“[2] polemisch zu diesen kleinbürgerlichen Gedanken geäußert. Kunst können sich manche Kunstbanausen nur als gemanagte vorstellen. Stattdessen schlagen sie politisch willfährige Kunst vor. Wo kämen wir auch dahin, wenn die bildende Kunst den Willen der Politik ignorieren würde? Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt – selten hat man es seit 1945 so deutlich in Deutschland raunen gehört. Säubern wir die Kunsttempel[3], durchforsten wir die Biografien und die Haltungen der Beteiligten. Und wehe jemand outet sich zum Beispiel als postkolonial Beeinflusster – fort mit ihm in den Orkus der Geschichte.[4] Wer in der Kunst postkoloniale Perspektiven einbezieht, so schreibt ein Ruhrbaron, der Kunst wie manche vor 80 Jahren für Gesinnungskunst hält, „geht in die falsche Richtung“. Der Engel der Geschichte hat seinen Blick nur der Vergangenheit zuzuwenden.

Und das wird dann im Nebensatz auf die Postmoderne erweitert, mit der man sich in Deutschland ja noch nie hat anfreunden können. Die jüdischen französischen Postmodernen werden sich freuen, dass nun deutsche Journalisten sie darüber informieren, dass ihre Theorien ein Angriff auf die Aufklärung und die Werte des Westens seien, und deshalb auszugliedern sind. Der französische Zweig der Postmoderne ist ohne den Einfluss jüdischer Traditionen gar nicht zu denken.

Aber das ist vorbei, denn nun räumen wir auf. Warum gehen wir nicht gleich hin und machen es wie die zweite Documenta und überlassen es dem amerikanischen Geheimdienst CIA, die passende Kunst mit den richtigen westlichen Werten auszuwählen? Einigen Anti-Deutschen würde das ganz sicher gefallen: „Die Documenta muss zu Beginn der Aufarbeitung klare Positionen beziehen und die sollte aus einem Bekenntnis zu den Werten des Westens bestehen.“[5]

Nur am westlichen Wesen wird die Welt genesen. Das alles ist nicht nur illiberal, totalitär, freiheitsfeindlich, sondern es ist auch intellektueller Kolonialismus in Reinkultur.[6] Und dieser Kolonialismus soll nun in Zukunft für die Documenta in Kassel normgebend sein? Ich bin schon ganz gespannt darauf, was dann die Ruhrbarone, Claudia Roth, Volker Beck und all die anderen Gesinnungsschnüffler und Verbandsvertreter zusammenstellen werden. Mit Kunst, diesen Fleurs du Mal, dieser anarchischen und durch und durch un-ethischen Handlung des Menschen, wird es wenig zu tun haben. Es wird wohl der Kunstausstellung der Freunde der Hotelbildmalerei nicht unähnlich sein.

Vielleicht darf man einmal ganz kurz daran erinnern, was hier alles ausgegliedert wird, wenn man aus dem Tal der Ahnungslosen herausruft, die Postmoderne sei wegen ihres Kulturrelativismus problematisch und daher nicht mehr zulässig. Postmoderne Kunst ist Appropriation Art, ist Body Art, ist Fluxus, ist Happening, ist Konzeptkunst, ist Land-Art, ist Performance-Kunst, ist Pop-Art (mithin die Kunst der Documenta IV-XV). Postmoderne Literatur verbinden wir mit Namen wie Paul Auster, Umberto Eco, Italo Calvino, aber auch Thomas Bernhard. Postmoderne bzw. dekonstruktivistische Architektur ist die Documenta-Halle, ist Philipp Johnson, ist Frank Gehry, sind Rob und Leon Krier usw. usf. Nun werden diejenigen, die die Ausgrenzung der Postmoderne als Kulturrelativismus aus dem Kunstbetrieb gefordert haben, sagen, das hätten sie nicht gewollt. Das glaube ich ihnen sogar, nur haben sie etwas anderes gesagt. Man sollte schon nachdenken, bevor man für die Documenta der Zukunft Regeln aufstellt, die fast das gesamte kulturelle Schaffen der letzten 50 Jahre liquidieren würden. Dem Braunauer Anstreicher hätte es gefallen, wenn er wüsste, dass seine geläuterten anti-antisemitischen Nachfolger nun wieder beginnen, die Kunsttempel zu reinigen, denn lustigerweise sind schon wieder etliche Juden unter den Auszugrenzenden.[7] Wer hätte das gedacht?

Man wird jede kommende Documenta unter genau diesen Kriterien der staatlichen Regel-Konformität abklopfen. Auch deshalb sollte die Documenta nicht fortgeführt werden. Nicht nur die BDS-Anhänger haben so gesehen die Documenta zugrunde gerichtet, sondern auch deren Kritiker, indem sie der Kunst und der Kultur Ideologie und Politik vorgeschaltet haben, statt Gespräche zu führen und die Auseinandersetzung vor Ort zu suchen – so wie Meron Mendel es vorgeschlagen hat.

Auffällig war in den Tagen nach dem Rücktritt der Generaldirektorin der Documenta und bei den ersten Überlegungen zur Zukunft dieser Institution, wer sich alles zu Wort meldete und wer nicht. Künstlerinnen und Künstler hörte man nicht, sie ahnten wohl, was nun auf sie zukommt.

Dagegen vernahm man Kulturpolitiker:innen und Verbandsvertreter:innen, die nun mahnten, dieser Rücktritt dürfe nur der erste Schritt sein, „Verantwortungsträger“ müssten nun „einen kritischen Blick in alle vom Bund getragenen und geförderten Kultureinrichtungen werfen“.

So fängt Totalitarismus in Sachen Kunst und Kultur an. „Verantwortungsträger“ – was waren das noch für Zeiten, als solche Begriffe zurecht im Wörterbuch des Unmenschen aufgespießt wurden.

Nicht mehr die uns Bürgern gegenüber Verantwortlichen, sondern vom Staat berufene Verantwortungsträger kümmern sich nun um die Kultur. Der Verantwortungsträger tritt nicht zufällig 1933 in die deutsche Sprache ein und hat seitdem eine steile Karriere hingelegt. Es ist das, was fast alle Politik einigt: die Betreuungsmentalität, der Versuch, den Subjekten das Denken abzunehmen, denn man hat ja die „Verantwortungsträger“, die über das Wirken der „Kulturschaffenden“ wachen.[8]

Darf man mit dem Wörterbuch des Unmenschen daran erinnern, dass all dies auch etwas mit der Kolonialisierung der Lebenswelten zu tun hat? Weil es so aufklärerisch ist, hier ein Zitat aus diesem Wörterbuch und zwar zum Stichwort „Kulturschaffender“:

Kulturgeschichte, Kulturmensch, Kulturpflanze - das sind weitere wohlbekannte Zusammensetzungen mit »Kultur-«. Die Wörter kommen alle von »colere«, und der Stammsinn dieses lateinischen Worts enthält schon alle Bedeutungen unserer »Kultur«. Colere heißt bebauen, heranziehen, pflegen: die Kulturpflanze ist die Pflanze, die auf Pflege und »Kultivierung« Anspruch macht und nicht im Wildwuchs gedeiht. Von dieser Bedeutung (und sichtbar vom Wortstamm) abgeleitet ist der colonus, die colonia: der Kolonist und die Kolonie, Pflänzling und Pflanzung, die - Ableger und Weiterwucherer in einem -, von der Kultur ausgestreut, Kultur weiterverbreiten und so den passiv-aktiven Sinn dieses wie vieler anderer Wörter wunderbar veranschaulichen. Colere heißt weiter hegen und pflegen im allgemeinsten Sinn: es heißt die Götter verehren und ihre Feste feiern, nicht minder aber seine irdischen Pflichten wahrnehmen - und insofern ist ein Kulturmensch jemand, der an das Höhere und Institutionelle glaubt, wiederum in dem Doppelsinn, dass er es ausübt, indem er fromm darin befangen ist und als »cultor« nur gelten kann, wenn er zeitlebens ein Bauer bleibt. 

Damit wir, die wir künftig die documenta in Kassel besuchen könnten, brav Bauern vor allem der heimischen westlichen Werte-Kultur bleiben und nicht mit postkolonialen Werten konfrontiert werden, haben wir die politischen Verantwortungsträger der herrschenden Klasse, die vorausschauend für uns über die Kulturschaffenden der Welt wachen.

500 Jahre haben die Künste – alle Künste – gegen diese Art der Bevormundung durch religiöse Institutionen wie die Kirchen und den feudalen und bürgerlichen Staat gekämpft – und jetzt führen wir diese Bevormundung mit Applaus des Feuilletons wieder ein, weil Autonomie und autonome Kunst nur eine vorübergehende Episode in der Geschichte der Menschheit sei.[9] Vorbei die Zeiten, in denen Adorno in der Ästhetischen Theorie noch schreiben konnte: „Ihre Autonomie ist ein Gewordenes, das ihren Begriff konstituiert“. Heute ist Autonomie der Kunst nur noch ein Akzidens.

Die Frage ist, warum sollte man sich an dieser Dekonstruktion der Kunst beteiligen, warum ihrer kulturpolitischen Zerstörung Vorschub leisten? Nur damit wir hinterher zwar keinen indonesischen Agit-Prop, sondern westliche Kulturpropaganda anschauen? Das scheint mir kaum sinnvoll zu sein. Machen wir dem ein Ende, schaffen wir die documenta ab, bevor sie zum staatlichen Kulturpropagandainstitut wird.

P.S.: Lehren aus Adornos „Vorschlag zur Ungüte“

In der Zweiteilung zwischen Freunden und Gegnern der neuen Kunst steckt ein Denkfehler. Sie unterstellt eine gewisse Beliebigkeit des Verhaltens, nach dem kunstfremden bürgerlichen Convenu vom Geschmack als bloßer Vorliebe oder Abneigung. Man kann nicht, in plumper Analogie zu den Spielregeln des politischen Parlamentarismus, für oder gegen neue Kunst sich entscheiden, so wie im Zweiparteiensystem, wo einem zwei »tickets« präsentiert werden, deren Verhältnis zu den eigenen Interessen und Ansichten einigermaßen durchsichtig sein soll. Mit dem Gestus der Liberalität wird unterschlagen, worauf es in ästhetischen Kontroversen zu allererst ankommt, die Beziehung zum Gegenstand selbst. …

Man meint, über das herfallen zu dürfen, was man nicht versteht, weil in solchem Unverständnis ohnehin alle vernünftigen Leute übereinstimmten. Hinter dem Zugeständnis, es liege an einem selbst, lauert urteilslose Verdammung. Die Bescheidenheit ist verlogen, die gleiche fatale Selbststilisierung wie die des deutschen Michel, der sich als naiv und tumb ausgibt, nur um daraus ableiten zu können, dass er immerzu über die Ohren gehauen werde, permanentes Opfer jener Manipulationen, an welche nach alter Vätersitte ganz gewiss auch die denken, welche der neuen Kunst vorhalten, sie werde gemanagt. Die stolz darauf sind, nichts zu verstehen, sollte man nicht zu Partnern dort erküren, wo das Urteil eben jenes Verständnis voraussetzt, dass sie sich selber aberkennen. Sie sollten lieber schweigen, als ihr Nichtverständnis in die Waagschale zu werfen.[10]

Anmerkungen

[1]    Was schon häufiger auf der Documenta passiert ist, aber bisher nur zu angeregten Diskussionen geführt hat.

[2]    Adorno, Theodor W. (1970): Vorschlag zur Ungüte. In: Adorno, Theodor W.: Ohne Leitbild. Parva aesthetica. 4. Aufl. Frankfurt a.M: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 201), S. 52–59.

[3]    Vgl. das unsägliche Machwerk von Wolfgang Willrich (1937): Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art. München: J.F. Lehmann.

[4]    Man hat den starken Eiondruick, dass mit der Kritik des Antisemitismus die Kritik des Rassismus und des Imperialismus verhindert werden soll.

[5]    Darin sind sich zumindest der NS-belastete Werner Haftmann und die heutigen Documenta-Kritiker einig: dass es vor allem um Westkunst geht. Nur was unter Westkunst zählt, ist strittig. Haftmann hätte israelische Kunst nicht dazu gezählt. Haftmann, Werner (1954): Malerei im 20. Jahrhundert. München: Prestel.

[6]    Zum Verhältnis von Kultur und Kolonialismus vgl. Simons, Oliver (2017): Kolonialismus als Kultur. In: Göttsche, Dirk; Dunker, Axel; Dürbeck, Gabriele (Hg.): Handbuch Postkolonialismus und Literatur. Stuttgart: J.B. Metzler (SpringerLink Bücher), S. 168–171.

[7]    Volker Beck sagt auf den Einwand, es würden auch einige Juden gegen den Bundestagsbeschluss gegen BDS sein, folgendes: „Nicht jeder, der BDS unterstützt, ist ein Antisemit, man kann BDS auch aus Dummheit oder Naivität unterstützen.“ So einfach ist das, wenn Deutschland den Juden erklärt, wie sie sich zu Israel zu verhalten haben. www.hna.de/kultur/documenta/documenta-kassel-antisemitismus-volker-beck-harte-kritik-judensau-91679473.html   

[8]    Es ist sicher nicht zufällig so, dass das digitale Wörterbuch zur Deutschen Sprache dem Wort „Verantwortungsträger“ als typische Verbindung zuweist: kirchlich – politisch.

[9]    Vgl. Noemi Smolik, War der moderne Kunstbegriff nur eine kurze Episode? Kunstforum international 283, S. 84-89.

[10]   Adorno, Theodor W. (1970): Vorschlag zur Ungüte, a.a.O.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/138/am762.htm
© Andreas Mertin, 2022