Zur Ethik der Appropriation

Eine Rezension

Andreas Mertin

Balzer, Jens (2022): Ethik der Appropriation. Erste Auflage. Berlin: Matthes & Seitz Berlin (Fröhliche Wissenschaft, 207).

[Klappentext] Die Rede von kultureller Aneignung ist allgegenwärtig. Infrage steht mit ihr gerade für eine progressive politische Position die Legitimität kultureller Produktion, die sich an den Beständen anderer, ihr »fremder« Traditionen bedient. Während viele diese als eine Form des Diebstahls an marginalisierten Gruppen kritisieren, weisen andere den Vorwurf zurück: Er drücke eine Vorstellung von Identität aus, die Berührungspunkte mit der völkischen Rechten aufweise. Tatsächlich, so zeigt Jens Balzer, beruht jede Kultur auf Aneignung. Die Frage ist daher nicht, ob Appropriation berechtigt ist, sondern wie man richtig appropriiert. Kenntnisreich skizziert Balzer im Rückgriff auf die Entstehung des Hip Hop wie auf die erstaunliche Beliebtheit des Wunsches, »Indianer« zu sein, in der bundesdeutschen Nachkriegszeit eine Ethik der Appropriation. In ihr stellt er einer schlechten, weil naturalisierenden und festlegenden, eine gute, ihre eigene Gemachtheit bewusst einsetzende Aneignung entgegen. Ausgehend von dem Denken des Kreolischen Édouard Glissants und Paul Gilroys »Schwarzem Atlantik« sowie der Queer Theory Judith Butlers wird eine solche Aneignungsethik auch zur Grundlage eines aufgeklärten Verhältnisses zur eigenen Identität. [/Klappentext]

Ehrlich gesagt, hatte ich mir das Buch aus einem bestimmten Erkenntnisinteresse gekauft. Ich arbeitete gerade an einem Text über einen palästinensischen Künstler, der sich ziemlich direkt und eigentlich auch ziemlich dreist mehrere Bilder des von den Nazis verfolgten jüdischen Künstlers Marc Chagall aneignete, um sie dann gegen den Staat Israel einzusetzen, indem er in die Bilder Chagalls die Grenzmauer einzeichnete. Und ich fragte mich: ist das nicht ein klassischer Fall von Cultural Appropriation? Ist es nicht dem ursprünglichen Blackfacing vergleichbar? Und dann fiel mir auf, dass in all den Debatten, die wir in den letzten Jahren um das Thema „Cultural Appropriation“ führten, das Judentum selten vorkam. Warum nicht? Werden jüdische Kulturelemente grundsätzlich nicht appropriiert? Oder darf man jüdische Kulturelemente einfach appropriieren, weil es sich ja angeblich um die Kultur weißer Kolonialisten handelt? Nun gab es ansatzweise in Deutschland durchaus derartige Debatten, etwa wenn es um die frivole und ungenierte Beerbung der Klezmer-Musik durch deutsche Gruppen ging, oder wenn christliche Gemeinden Pessach-Feiern simulierten, oder Diskussionen darüber, ob deutsche Nicht-Juden aus Solidarität Kippa tragen dürften oder nicht. Das wurde dann doch als „religiöser Raub“ kritisiert. Aber das waren begrenzte, quasi innerreligiöse Konflikte, keine allgemeinen Erörterungen.

Jedenfalls hatte ich die Hoffnung, dass mir Balzers Buch darauf eine Antwort geben könnte. Und wenn nicht direkt auf die Frage nach der Cultural Appropriation jüdischer Kultur, dann doch wenigstens auf die Frage nach sinnvollen ethischen Standards bei der Diskussion der Cultural Appropriation. Auf ersteres gab es (leider) keine Antworten, auf letzteres aber dann doch.

Balzer gliedert sein kleines Bändchen (knapp 90 Seiten) in sechs Abschnitte. Der erste widmet sich der aktuellen Debatte um Winnetou und seine identitätspolitischen Erben. Sehr geschickt steigt Balzer mit einem Zitat von Franz Kafka aus dem Jahr 1912 ein:

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.

Ja, das ist ein Problem. Am Beispiel der Bewerbungsrede einer grünen Spitzenkandidatin, die das I-Wort verwendete, zeigt Balzer, wie schnell es gelingt „schief in der Luft auf ihren rennenden Pferden“ zu sitzen. Es gibt scheinbar nichts Gutes, außer man sagt nichts. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Oder biblisch gesprochen mit Jakobus 1, 19: „Jede und jeder von euch sei schnell zum Zuhören bereit, zögere jedoch mit dem Reden und dem Zürnen“.

Wie kann, so fragt Balzer, die harmlose Erwähnung von Kindheitserinnerungen zu derart starken Verwerfungen führen? Zwar gibt es für beide Seiten gute Argumente, aber sie werden nicht in Debatten ausgetragen, sondern unversöhnlich gegeneinandergestellt. Was wäre also eine sinnvolle Verwendung des Wortes „Cultural Appropriation“, eine die nicht gleich das Kind mit dem Bade ausschüttet. Balzer verweist auf die ursprüngliche „Definition“ des Begriffes durch die Juristin Susan Scafidi in ihrem Buch „Who Owns Culture?“

»Cultural Appropriation, das ist: wenn man sich bei dem intellektuellen Eigentum, dem traditionellen Wissen, den kulturellen Ausdrücken oder Artefakten von jemand anderem bedient, um damit den eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Individualität auszudrücken oder schlichtweg: um daraus Profit zu schlagen.«

Und sofort, darauf weist Balzer hin, wird einem die vielfache Problematik dieser Umschreibung deutlich: inwiefern kann eine Gruppe Eigentum an kulturellen Formen (nicht unbedingt Artefakten) entwickeln. Gibt es so etwas wie geschützte Marken von Ethnien oder kulturellen Minderheiten? Und was ist, wenn man auf historische Vorläufer dieser Formen stößt – wem ‚gehören‘ sie dann? Auf der anderen Seite ist einem auch sofort deutlich, dass diejenigen, die über die entsprechenden Vertriebskanäle verfügen, sich jede kulturelle Markierung in der Welt einfach aneignen und im eigenen Profitinteresse verbreiten können. Es gibt offenkundig Aneignungen, die man als kulturellen Ausbeutungsprozess (und eben nicht als Entdeckungs- und Anreicherungsprozess) deuten muss. Balzer zentrale Frage aber lautet, ob Kultur nicht insgesamt ein Appropriationsprozess ist. Ist eine Kultur überhaupt denkbar, die nur aus dem Eigenen schöpft? Auch wenn man vielleicht Grenzen ziehen muss, so ist für die Kultur eben doch charakteristisch, dass sie Impulse aufnimmt, die außerhalb des bis dato geltenden Kulturbestandes bestehen.

Im zweiten Kapitel wendet sich Balzer dann dem Umgang mit der Schwarzen Kultur zu, zum Beispiel dem wohlbekannten Phänomen des „Blackfacing“, über das ja ein Commonsense im Blick auf seine ethische Problematik besteht. Es ist Balzers Verdienst, an dieser Stelle auch noch einmal die Geschichte des ‚Blackfacing‘ nachzuzeichnen.

Wer sich dem einmal in all seiner Ambivalenz aussetzen will, sollte an dieser Stelle kurz in das Originalvideo zu „Do you really want to hurt me?“ von ‚Culture Club‘ mit Boy George aus dem Jahr 1982 hineinschauen. Es ist ein fiktionaler Gerichtsprozess gegen eine Minorität und Culture Club lässt als Geschworene einen schwarz gefärbten Chor auftreten. Der Regisseur schrieb dazu: "'Do You Really Want To Hurt Me?" was about being gay and being victimized for your sexuality, which George was kind of emblematic of. It seemed appropriate to me that in the video he would be judged by jurors in blackface, to send up bigotry and point out the hypocrisy of the many gay judges and politicians in the UK who'd enacted anti-gay legislation." Und nun fragen Sie sich: Ist das in Ordnung oder überschreitet es eine ethische Grenze? Ist „Blackfacing‘ zu pädagogischen Zwecken erlaubt?

Nachdem Balzer ziemlich faszinierend die Geschichte des Blackfacing nachgezeichnet hat, geht er über zur musikalischen Kommerzialisierung, Beerbung bzw. Ausbeutung schwarzer Musik durch nicht-schwarze Künstler. Er zitiert den schwarzen Musiker Greg Tate mit den Worten:

 Wann immer sie sich eine Form der Schwarzen Kultur wieder einverleibt hatten, versuchten sie die Präsenz schwarzer Menschen in ihr zu tilgen. In den Zwanzigern wurde Paul Whiteman zum ‚King of Swing‘ gekrönt, in den Dreißigern Benny Goodman zum ‚King of Jazz‘, in den Fünfzigern erschien Elvis Presley als ‚King of Rock 'n' Roll‘, in den Sechzigern wurde Eric Clapton zum König der Blues-Gitarre gekrönt.«

Und Balzer fügt hinzu:

„als das Buch von Greg Täte erschien, da hatte gerade »der nächste White Negro« die Bühne betreten: Der Rapper Eminem wurde zum erfolgreichsten Hip-Hop-Künstler der USA und überflügelte in Hinsicht auf seine Verkaufszahlen all die schwarzen Pioniere der vorigen beiden Jahrzehnte.“

Kapitel drei widmet sich dann dem Hip Hop und seiner Appropriation schwarzer Kultur. Das ist der zentrale Abschnitt des Buches. Hier kann man sich noch einmal an konkreten Beispielen vergegenwärtigen, was Appropriation alles bedeuten kann: eben auch Sampling. Dabei geht Balzer auch auf die Theoretiker der Kreolisierung ein, also insbesondere Èdouard Glissant, der sagte:

»Keine Kultur ist heute isoliert von den anderen. Es gibt keine reinen Kulturen, das wäre lächerlich. Die Spur des Lebens wird nicht durch das Identische gelegt, sondern durch das Verschiedene. Das Gleiche produziert: nichts. Das beginnt schon mit der Genetik. Zwei gleiche Zellen können nichts Neues produzieren. Und in der Kultur ist das auch so.«

Glissant hält die Idee einer reinen Kultur, sei sie schwarz oder anders, selbst für kolonialistisch. Balzer schließt daraus: „Wenn man sich also fragt, was in einem ethischen Sinne gute von schlechten Appropriationen unterscheidet, dann könnte man im Anschluss an Edouard Glissant sagen: Eine gute Appropriation ist jene, die erfinderisch ist; die das Spiel der kulturellen Möglichkeiten erweitert; und auch eine, die uns zeigt, dass Identität »nicht aus einer einzigen Wurzel erwächst«, sondern »aus einem Wurzelgeflecht, einem Rhizom«.“ [53]

Im vierten Kapitel „Was wirklich echt ist“ konkretisiert Balzer das bisher Erarbeitete an seinen einführenden Beispielen: dem Winnetou, der Aneignung schwarzer Kultur, der Hip-Hop-Bewegung und wendet sich noch einmal mit Judith Butler der Drag-Bewegung als Zwischenform zu.

Im abschließenden fünften Kapitel „Solidarität im Diversen“ bündelt Balzer dann die Erkenntnisse seiner Beschäftigung mit der Appropriation.

Die Frage, die sich daraus ergibt, ist mithin: Wie kann man zu einer Kritik falscher Formen der Appropriation kommen, die gleichwohl nicht das Verfahren als solches infrage stellt, sondern dieses im Gegenteil als Motor jeder kulturellen Entwicklung anerkennt und feiert? Wie kommt man zu einer Ethik der Appropriation, die richti­ge und falsche Formen voneinander unterscheidet und aneinander begrifflich schärft?

Es erschien mir interessant, dass Balzer erst an dieser Stelle auf die Kunstform der „Appropriation Art“ zu sprechen kommt, also auf die Werke von Cindy Sherman und Sherry Levine im späten 20. Jahrhundert. Sehr schön finde ich die komplexe Beschreibung aus der Wikipedia zur Appropriation Art:

Im engeren Sinn spricht man von Appropriation Art, wenn Künstler bewusst und mit strategischer Überlegung die Werke anderer Künstler kopieren, wobei der Akt des Kopierens und das Resultat selbst als Kunst verstanden werden sollen (andernfalls spricht man von Plagiat oder Fälschung). Strategien beinhalten „Ausleihen, Klauen, Aneignen, Erben, Assimilieren... Beeinflusst-, Inspiriert-, Abhängig-, Gejagt-, Besessen-Sein, Zitieren, Umschreiben, Überarbeiten, Umgestalten... Revision, Reevaluation, Variation, Version, Interpretation, Imitation, Annäherung, Improvisation, Supplement, Zuwachs, Prequel... Pastiche, Paraphrase, Parodie, Piraterie, Fälschung, Hommage, Mimikry, Travestie, Shan-Zhai, Echo, Allusion, Intertextualität und Karaoke.“

Man muss nicht erst bis zum 20. Jahrhundert warten, um diese Form bewusster „Diebstähle“ bzw. Übernahmen in das eigene Oeuvre zu beobachten. Denn in der bildenden Kunst ist die Appropriation eigentlich seit Jahrhunderten ein Thema, etwa wenn der Niederländer Vincent van Gogh den Franzosen Jean-François Millet appropriiert. Das Ergebnis ist unverkennbar ein van Gogh, aber ohne den Millet wird er nicht wirklich verständlich. Er ehrt die Vorlage, indem er sie appropriiert, sie sich aneignet und ins Eigene überführt, dabei aber etwas Neues schafft.

Balzer verweist nun darauf, dass bis in die Gegenwart die Dialektik der Appropriation fortgeschrieben wird. Zum einen gibt es die ehrende Aneignung, die die kulturelle Eigenständigkeit der Vorlage wahrt und ehrt und es gibt es die ausbeutende Aneignung, bei der die kulturelle Vorlage missbraucht wird, um eigenen (kommerziellen, ideologischen, kolonialistischen) Interessen zu dienen und die letztlich keine Rücksicht auf die Vorlage nimmt.

Eine Ethik der Appropriation müsste sich also nicht in der Form des Verbots konstituieren, sondern vielmehr in der Form des Gebots: Appropriiere! Aber tue es richtig! Das heißt: Tue es, indem du appropriierst - und darin zugleich die Machtverhältnisse reflektierst, die sich in der Appropriation spiegeln. Der Kritik fällt dann die Aufgabe zu, misslungene von gelungenen Formen der Appropriation zu unterscheiden - und misslungene von gelungenen Formen der Kritik der Appropriation. [80f.]

Eine gelungene Form der Appropriation wäre demnach eine solche, bei der etwas Neues entsteht und zugleich der Prozess durchsichtig bleibt, dass es sich um eine Aneignung fremden kulturellen Materials handelt und wie das gemacht wurde.

Epilog: „Im Kampf gegen den globalen Imperialismus wollten alle Palästinenser sein“

Sind meine einleitend benannten Fragen damit beantwortet? Die Stärke von Balzers Buch ist es, bei den zentralen, in den öffentlichen Diskursen gegenwärtig erörterten Topoi etwas Klarheit gebracht und einen Vermittlungsweg vorgeschlagen zu haben. Meine Frage war, wie man damit umgeht, wenn zwei minoritäre Kulturen, die aber dennoch in einen Dominanzverhältnis stehen, miteinander in Konflikt geraten. Was ist, wenn eine Kultur, die historisch zu den am stärksten unterdrückten Minderheiten über tausende von Jahren zählt, ihrerseits von einer anderen Minderheitskultur, die sich von der ersteren unterdrückt fühlt, mit dem Mittel der Cultural Appropriation oder der Counter Appropriation angegriffen wird? Was also, wenn Cultural Appropriation eine Waffe in einer ansonsten durchaus auch militärisch geführten Auseinandersetzung wird? Das war natürlich nicht Balzers Frage, aber er streift sie dort, wo Dritte diese Form der Appropriation aufgreifen und – sich selbst als aufklärerisch empfindend – zum legitimatorischen Ausweis ihres Kampfes machen:

Die antiimperialistische Linke identifizierte sich bevorzugt mit den Befreiungskämpfen ‚einfacher‘, unentfremdeter Völker aus den Regenwäldern und Wüsten der ‚Dritten Welt‘. Das beliebteste fashion item in dieser Zeit war das sogenannte Arafat-Tuch. Im Kampf gegen den globalen Imperialismus wollten alle - irgendwie - Palästinenser sein. In gewisser Hinsicht war der PLO-Führer Jassir Arafat nichts anderes als der Winnetou der linken Alternativkultur. [78]

Das ist wohl wahr und begrenzt sich nicht auf die 70er und 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts, sondern ist – wie die gerade beendete documenta fifteen zeigt immer noch en vogue. Die documenta fifteen hat das Arafat-Tuch wiederbelebt, nicht um der palästinensischen Gruppe zu helfen, sondern um sich selbst zu legitimieren. Das ist die falsche Appropriation.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/139/am768.htm
© Andreas Mertin, 2022