„Es ist Krieg"

Zur Aktualität von Stings Antikriegssong „Russians“

Karin Wendt

Als ich 2010 eine Rezension unter der Überschrift „Es ist Krieg" schrieb, war der Hintergrund eine thematische Gruppenausstellung, bei der es den Kuratorinnen darum ging, „die Folgen und Auswirkungen kriegerischer Ereignisse für das Individuum, Gruppen und Gesellschaften des 20. und 21. Jahrhunderts sichtbar und bewusst“ zu machen. Die „scheinbar sichere Distanz“ sollte „von der Kunst aufgehoben werden“. Krieg war und ist seitdem überall auf der Welt gegenwärtig, und immer ist es die Realität des Krieges. Alexander Kluge hat in einem Interview mit der ZEIT in diesem Zusammenhang von der „Ganzheit des Krieges"[1] gesprochen. Ich beendete meine Besprechung seinerzeit mit den Worten: die Ausstellung „ist nicht nur ein Plädoyer zeitgenössischer Künstler für die Würde des Individuums und gegen den Krieg, sondern ein Plädoyer für die Zeitgenossenschaft der Kunst in Zeiten des Kriegs.“

Aktuell ist in der Ukraine Krieg. Auch jetzt erheben Künstler:innen erneut Einspruch, formulieren ihre Widerrede, versuchen ästhetisch Korridore der Freiheit, der Urteilskraft und Empathie zu öffnen, gegen die Logik von Gewalt und Zerstörung.

Sting zum Krieg in der Ukraine

Am 6. März 2022 performte der Sänger Sting auf Instagram einen seiner früheren Songs mit dem Titel „Russians“, den er 1985 unter dem Eindruck des Kalten Kriegs zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der damaligen Sowjetunion komponiert hatte. Der Künstler verbindet seinen musikalischen Vortrag mit einem Statement und Appell an die Zuhörenden.

„Ich habe diesen Song in den vielen Jahren nur selten gesungen, weil ich nie dachte, dass er wieder relevant werden würde. Aber angesichts des vielen Bluts und der traurig fehlgeleiteten Entscheidung, bei einem friedlichen und unerschrockenen Nachbarn einzufallen, ist der Song erneut ein Plädoyer / Einspruch / Appell / eine Verteidigung / Bitte (engl.: plea) für unsere gemeinsame Menschlichkeit. Für diese mutigen Ukrainer:innen, die gegen diese brutale Tyrannei kämpfen und auch für die vielen Russ:innen, die gegen diese Gewalttätigkeit protestieren trotz der Androhung von Arrest und Inhaftierung – Wir, wir alle, lieben unsere Kinder. Stop the war.“

Russians, 1985

Das Stück „Russians" wurde zwischen 1983 und 1985 aufgenommen, am 1. Juni 1985 auf dem Album „The Dream of the blue Turtles“ veröffentlicht und am 1. November als Single ausgekoppelt.

Pläne, das Lied gemeinsam mit dem Sinfonieorchester in Leningrad einzuspielen, waren, so Sting, an der Bürokratie der UDSSR gescheitert.[2]

„Russians“ ist in erster Linie ein politischer Protestsong gegen die geltende „Ordnung" des Kalten Kriegs zu einem Zeitpunkt, an dem die Machtverhältnisse zementiert schienen und die Argumentation auf beiden Seiten scheinbar keiner Argumente mehr bedurfte.

Der Song ist deshalb kein inhaltliches Abbild der aktuellen Situation, auch wenn es Parallelen in den zentralen aufeinandertreffenden Narrativen gibt, die heute gleichwohl heterogener bzw. zersplitterter sind. Der wesentliche Unterschied zu damals ist die kriegerische Eskalation, mit der ein europäisches Land gewaltsam seiner Souveränität beraubt werden soll und stellvertretend zum Opfer geworden ist. Die Ukraine bzw. ihre freien Bürgerinnen und Bürger müssen politisch das letzte Wort haben.

Stings Song ist aber auch ein zeitloses Antikriegslied, das ästhetisch argumentiert, indem es die einander ausschließenden Standpunkte so gleich-wertig zu Wort kommen lässt, dass es das subjektive Urteil unabschließbar herausfordert. Darin liegen seine poetische Klasse und seine Aktualität.

Der Text

Das Lied ist aus sieben Strophen aufgebaut. Die Strophen 2, 4, 6 und 7 enden mit der jeweils etwas variiert eingeleiteten Zeile „… the Russians love their children too“. Die ersten zwei Zeilen von Strophe 4 wiederholen sich in Strophe 7: „We share the same biology / regardless of ideology".

Der Sänger beginnt seine Ballade, indem er eine wachsende Hysterie in der damaligen politischen westlichen Welt konstatiert, bedingt durch das militär-atomare Rüstungsgleichgewicht zwischen den Blockmächten der Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion.

Sting beschreibt damit aus „seiner", der westlichen Perspektive den eigenen Informations- und Wissenshintergrund. In einer Anekdote zur Genese des Songs erzählt Sting, mit bürgerlichem Namen Gordon Matthew Sumner (*1951), dass dieses ideologisch geschlossene Weltbild über das Leben auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs brüchig und irritiert worden war, nachdem er über Satellitenfernsehen eine russische Kindersendung ansehen konnte. Ich erinnere mich, dass bei mir als Kind die DDR-Fernsehsendung „Unser Sandmännchen" eine vielleicht vergleichbare Erfahrung ausgelöst hat.

In den zwei darauffolgenden Strophen werden die rhetorischen Argumente der jeweiligen Seite in wörtlicher Rede aufgerufen: die Beschwörung der systemischen Überlegenheit gegenüber dem Kapitalismus durch ein Zitat aus einer Rede des Vorsitzenden des Zentralkomitees der KPdSU Nikita Chruschtschow in den 60er Jahren, das, so aus dem Zusammenhang genommen, zum sprichwörtlichen Beleg für den atomaren Vernichtungswillen gegenüber Amerika wurde, und konfrontiert mit dem Sicherheitsversprechen durch den amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan an die Bevölkerung angesichts der nuklearen Bedrohung aus dem Osten als „Antwort" des Westens.

Dieser Kriegsrhetorik erteilt der Sänger eine Absage, weil der atomare Erstschlag von beiden und für beide Seiten selbstzerstörerisch wäre. Die Atomwaffe, so Sting, ist kein Spielzeug, das hatten die US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 bewiesen. In einem so geführten Krieg würde es keinen Gewinner geben. In Strophe 4 und 7 ruft der Sänger die biologische Verfasstheit der Spezies Mensch in Erinnerung, die noch vor jeder ideologischen Weltanschauung ohne Unterschiede gegeben ist. Jeden Vers beendet er mit der persönlichen Überzeugung und Hoffnung, dass das Bewusstsein der familiären Bindung, die zuallererst und zuletzt die einer gemeinsamen Menschheitsfamilie ist, eine nationale Bindung und Loyalität überschreitet und obsiegt, indem er singt: „if // I hope // is if – und in einer späteren Veröffentlichung noch eindeutiger – that the Russians love their children too“.

Der Kon-Text

Für die Gesangsmelodie von „Russians“ übernimmt und variiert Sting ein Motiv aus einer Filmmusik des russischen Komponisten Sergej Prokofjew (1891-1953), die dieser für den Film „Leutnant Kishe“ (1933) des sowjetischen Filmregisseurs Aleksandr Fajntsimmer geschrieben und danach in einer sinfonischen Suite zusammengestellt hatte, die 1937 als op. 60 in Paris uraufgeführt wurde. Sie besteht aus fünf Sätzen, wobei Sting das Thema des zweiten, mit „Romance“ überschriebenen Satzes, für die Zwischenteile von „Russians“ abweichend vom Original in einer Instrumentierung mit Glocken und Gongschlägen aufnimmt, die den Sound in der Tradition russischer Nationalmusik färben.[3] Der Film basiert auf der satirischen Novelle „Sekondeleutnant Saber“ (1927) von Juri Nikolajewitsch Tynjanow (1894 -1943). Mit dem Bezug zu Prokofjew und der zugrundeliegenden Erzählung verwebt Sting seine Ballade in einen weiten Kon-Text von entsubjektivierten Strukturen, in denen sich das Individuum als Opfer von Macht und Bürokratie verfängt. Yvonne Waterloos verweist noch darauf, dass „Teile der Suite … seinerzeit in England besonders im Winter überaus präsent [waren], da das Motiv des ersten Satzes häufig zur musikalischen Untermalung von Schneebildern in den Weihnachtsprogrammen des britischen Fernsehens genutzt wurde“.[4] Sting nutzt meines Erachtens diese musikalische Ambiguität, um beim Hörer eine widersprüchliche Stimmung aus Melancholie, Beklemmung, Kindheitserinnerungen und national gefärbter Nostalgie zu erzeugen.

Das Video

Das begleitende Musikvideo zur Single wurde von dem französischen Fotografen und Videoregisseur Jean-Baptiste Mondino inszeniert. Er entwirft in langsamen Bildern stummfilmartige Szenen, die sich teils weich überblenden, teils in harten Schnitten wechseln. Mondino nutzt das damals neue Medium, um viele vorausgegangene Bildformate bzw. Bildentstehungstechniken der klassischen Fotografie zu zitieren, die im Verlauf des Videos zu immer mehr auseinanderfallenden Einzelbildern beschleunigt werden und in Verbindung mit der Musik und der Gesangsstimme eine starke suggestive Wirkung entfalten.

Zu Beginn fährt der Blick der Kamera auf die Zeiger einer großen runden Wanduhr ohne Ziffern, wie man sie in einem Maschinenraum oder auf einem Werksgelände finden könnte. Deren Ticken im Sekundentakt ist im Lied zu hören – eine Atomuhr? Gleich zu Beginn wird dadurch ein bedrohliches Szenario intoniert; am Ende geht der Blick erneut zu dieser Uhr, deren Geräusch dann die objektive Gleichgültigkeit der verstreichenden Zeit illustriert.

Wir sehen nun einen älteren Mann im Anzug von hinten, der in einem Album mit alten schwarz-weiß-Fotografien blättert. Zu erkennen sind Aufnahmen von jungen Athleten, von denen eine den kunstvoll gestreckten Sprung vermutlich eines Schwimmers festhält. Die Fotos im Album sind mit handschriftlichen Notizen versehen, die den Anfang des Liedtextes von Sting zitieren; wahrscheinlich enthält das Album (virtuell) den ganzen Text, denn später im Video erkennt man darin das Wort „Russians".

Verweisen die Fotos auf die Olympischen Spiele, und wenn, sind es die von 1936? Oder erinnern sie allgemein an die ungebrochene Sportbegeisterung seit den 20-er Jahren bis in die Nachkriegszeit, mit der sich persönlicher Erfolg und nationale Leistungsschau verbinden? An was oder wen genau erinnert sich der Mann?

Langsam hellt sich das Bild auf und wir sehen, dass er in einer Art Schaltzentrale sitzt, mit einer Bunkertür im Hintergrund, vor der ein Offizier oder Agent mit Sonnenbrille auf- und abschreitet; dazu männliche Stimmen und technische Geräusche. Ist es die Tür zum Atombunker? Illustriert der Raumhintergrund den politischen Hintergrund in Amerika oder in beiden Staaten zur Zeit des Kalten Kriegs? Noch immer mit Blick auf das beschriftete Fotoalbum wird nun der Kopf von Sting eingeblendet und er beginnt zu singen, was dort geschrieben steht …

Die Kamera schwenkt jetzt um in einen Raum mit Requisiten, die z. T. in Variationen weiter im Clip auftauchen: ein zerwühltes Bett, ein dreidimensional modellierter Globus, der die Gebiete von Russland und Europa erkennen lässt, eventuell ein motivisches Zitat aus Charlie Chaplins „Der große Diktator“ (1940), und das übergroße Porträt eines Jungen, dessen Blick wie eine kämpferische Ansage sehnsuchtsvoll in die Ferne / Zukunft gerichtet ist. Diese Fotografie und die nachfolgenden könnten Originale zitieren; ich konnte jedoch keine direkten Vorlagen finden. Das Fenster im Raum sieht aus wie ein aufgerollter leerer Negativfilm.

Mit dem Schwenk der Kamera wird aus dem Globus nun eine an die Wand projizierte Weltkarte, die nun die Länder Nord- und Südamerika zeigt. Jetzt geht die Kamera nach rechts und erfasst einen mächtigen Schreibtisch, an dem ein anderer, ebenso alter Mann wie in der Anfangsszene, auf einem Drehsessel sitzt. Er trägt über dem weißen Smokinghemd eine Art russischen Schlafrock (aus der Zarenzeit?) und wirkt eher wie ein Schauspieler aus einem Stück um die Jahrhundertwende. Auf dem Tisch liegt ein großes aufgeschlagenes Buch, das in einer nachfolgenden Szene wieder auftauchen wird. Wir blicken zunächst von schräg oben in diesen Raum und sehen, dass er mittig mit einer großflächigen Bodenintarsie ausgelegt ist. Soll sie den sowjetischen Stern darstellen, wie ihn Stalin nach dem Aufstieg der Sowjetunion vielerorts anbringen ließ, um Zeugnisse der ehemaligen Zarenzeit zu beseitigen? Sehen wir hier den russischen Protagonisten in seinem Salon im Kremlpalast, der nun das Machtzentrum der neuen Sowjetunion ist?

Der Mann dreht jetzt seinen Blick von der Wand weg, und noch einmal wechselt die Wandprojektion: anstelle der Karte erscheint – nun im Rücken des Mannes – das Gesicht des (amerikanischen?) Jungen von eben, der den Betrachter wütend und stolz frontal anschaut.

Nun wird erneut der Sänger Sting eingeblendet, sein Kopf wechselt ins liegende Profil, wobei er nach unten blickt, wo wir jetzt auch die Filmaufnahme einer kindlichen Band-Turnerin sehen. Ist dies ein Sinnbild für die Schönheit des Sports, für kunstvolle Bewegung, körperliche Perfektion, für Freiheit? Steht sie für den Traum von Olympia? Die rhythmische Sportgymnastik wurde erst 1984 olympische Disziplin. Die Aufnahmen von den Tanzbewegungen der Turnerin, die im Video noch mehrmals wiederkehren bzw. weiterlaufen, verweisen also zeitlich in die 80er Jahre.

Nach einem Cut sehen wir dann, wie der vordem am Schreibtisch sitzende Mann offenbar in seinem Bett aufwacht und das Foto des Jungen in seinen Händen hält, das vordem im Raum projiziert war. Er steht auf und geht durch den Salon, wobei er von einem jungen Priester oder Mönch, der in Rückenansicht die Perspektive des Betrachters einnimmt, beobachtet wird. Er kommt zur Wand, wo die Fotografie des Jungen wie ein Erinnerungsfoto gerahmt hängt. Auf dem Boden ein kreislinienförmiges Muster, das stilisierten Atomkernen ähnelt. Die surreale Anmutung steigert sich, als der Mann sehnsüchtig seine Arme nach dem Jungen ausstreckt und in einer überblendenden Sequenz in den Jungen transfiguriert wird, der nun träumerisch oder getroffen nach oben springt, überrieselt von weißem Flimmern wie in einem alten Dokumentarfilm. Dann wird das Bild schwarz.

Wieder sehen wir den Mann an seinem Schreibtisch. Nun dreht er sich vom Tisch weg und sein Blick geht auf das übergroße Jungenporträt. Er steht auf und nochmals versucht er den Jungen zu erreichen oder aufzufangen. Seine nach oben gereckten Arme werden jetzt transparent überlagert von dem Film des tanzenden Mädchens und dem Gesicht von Sting in Nahaufnahme. Plötzlich erscheint nur noch der Kopf des Mannes im Bild und beginnt immer schneller werdend zu rotieren. Er verwandelt sich dann in die Fotografie des Jungen, die sich wie ein im Entwicklungsbad liegender Abzug wellt, das Bild beginnt zu verschwimmen und dann wie unter Hitzeeinwirkung zu schmilzen – ist dies die Vision des im Feuer einer explodierenden Atombombe verglühenden Körpers? Auch der Körper der Turnerin wird wieder sichtbar und auch er erscheint wie durch Strahlungseinwirkung tödlich verletzt – wir sehen nur noch ihr Röntgenbild.

Kurz darauf sehen wir, wie der Mann stürzt und in seinem Schlafsalon aufwacht, eine Ordensschwester tritt ins Zimmer. Dann schreckt er kurz hoch und wird von dem jungen Priester / Mönch von vorhin wieder in den Schlaf gebracht. Die nächste Szene zeigt nochmal die russische Nonne, während sie den Kopf des Mannes tröstend hält.

Es folgt eine Szene, die m.E. wieder den Mann im Anzug aus der ersten Szene zeigt. Er sitzt an seinem Schreibpult und versucht verzweifelt, in dem großen Fotoalbum zu blättern und die Bilder zu meditieren; weiter hinten im Raum ist auch hier wieder der Agent zu sehen.

In der darauffolgenden Szene taucht der Mann im Anzug zum letzten Mal auf; er sitzt im Rollstuhl und wird gerade von dem Agenten aus der Machtzentrale / dem Atombunker herausgeschoben. Die Uhr tickt noch immer. Die letzten 10 Sekunden des 3:53 Minuten dauernden Videoclips sehen wir dann nur noch Schneeflocken durch eine schwarze Nacht stöbern, Zeichen des fortdauernden Kalten Krieges oder des wie weiße Flocken aussehenden Niederschlags nach der Zündung einer Wasserstoffbombe.

Die Sportaufnahmen im Clip lassen vermuten, darauf wies mich Andreas Mertin hin, dass der Schlüssel zum Verständnis des Clips in den Olympia-Boykotts von 1980 und 1984 liegen könnte. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan am 27. Dezember 1979 verurteilte die Vollversammlung der Vereinten Nationen im Januar 1980 die sowjetische Invasion und in der Folge boykottierten die Vereinigten Staaten von Amerika die Olympischen Spiele in Moskau, die ersten Olympischen Spiele in einem sozialistischen Land. Nach dem weiteren Ausschluss sowjetischer Sportler boykottierte die Sowjetunion 1984 die Spiele von Los Angeles, mit ihnen weitere vorwiegend realsozialistische Staaten.[5]

Im Video wäre danach der Boykott der Olympischen Spiele die der Bildidee zugrundeliegende Konfliktfolie. Die Sportaufnahmen im Stil der Fotografie der 30-er und 40-er Jahre dienten so als identifikatorische Projektionsfläche für persönlichen und nationalen Erfolg, die im aufgerüsteten Konflikt des Kalten Krieges für beide Männer unerreichbar geworden waren. Beide Protagonisten erleben sich als in ihren Welten gefangen und von der Jugend / der künftigen Generation isoliert; und beide verlieren am Ende ihre Kraft / Macht. Das Video ließe bei dieser Deutung jedoch offen, ob die Olympischen Spiele letztlich positiv konnotiert sind, wie es die Aufnahme von der Turnerin andeutet, oder ob ihre Idee, bei der es um den besseren Menschen geht, selbst bereits den Anfang des Grundkonflikts darstellt.

Stilistisch könnte man in dem Videoclip eventuell Anleihen beim britischen Agententhriller der 60-er Jahre erkennen. Aber anders als etwa die spektakulären Entwürfe der Bond-Filme von Sir Ken Adam, inszeniert Mondino seine Räume im Format des Kammerspiels und erzielt so eher den Eindruck des Theaters, manchmal des Theatralischen.

Für sehr wahrscheinlich halte ich Bezüge zum Werk des russischen Konstruktivisten und Fotografen Alexander Rodtschenko (1891-1956), die sich in Mondinos extremen Perspektiven, der häufig gewählten Vogelperspektive und vor allem in der Ästhetik der schwarz-weiß Fotografien zeigen. Rodtschenko gelangte unter dem Einfluss des Dadaismus über die Fotomontage zur Fotografie. In den 1930er-Jahren wandte er sich der Reportage- und Sportfotografie zu, bis er ab 1942 die Fotografie aufgab und wieder als Maler arbeitete. Mit den von ihm verwendeten Kleinbildkameras, der Leica und der FED, ließen sich besonders Sprünge und Bewegungen erstmals präzise im Moment der Bewegung festhalten, wie etwa „Der Sprung ins Wasser“ aus dem Jahr 1935.[6] Neben dem Erbe von Rodtschenko vermute ich hinter Mondinos amorphen Verfremdungen der Fotografien zudem eine Auseinandersetzung mit der Experimentalfotografie von László Moholy-Nagy (1895 -1946) wie den zwischen 1930 und 1946 entstandenen Licht-Raum-Modulationen. Während Sting in seinem Song durch den Rückgriff auf Prokofjew einen intermusikalischen Bezug zur russischen Nationalkultur herstellt, stellt Mondino im Video einen fotoästhetischen Bezug zur russischen und osteuropäischen bzw. internationalen Avantgarde her.

Eine valide Deutung des Videos und seiner erzählerischen und stilistischen Elemente bedürfte jedoch einer genaueren Exegese. Man kann aber vielleicht so viel festhalten, dass es um die filmische Ins-Bild-Setzung von totalitärer Macht auf der einen und der Ohnmacht des Subjekts auf der anderen Seite geht. Die Wahrnehmung der Geschichte(n) fällt mehr und mehr auseinander in sich ausschließende Räume und widersprechende Wahrheiten.  

Moral

Im letzten Vers von „Russians" heißt es: „We share the same biology, regardless of ideology“. Wir besitzen, ja wir teilen dieselbe Biologie, ungeachtet und diesseits von Ideologie und Weltanschauung.

Ich musste bei dieser Zeile – und auch mit Blick auf die Haltung von religiösen Repräsentanten des russisch-orthodoxen Christentums im Ukraine-Konflikt – an Überlegungen des niederländischen Primatologen Frans de Waal zum evolutionären Prozess von Empathie und Altruismus denken, die dieser 1989 erstmals populärwissenschaftlich in „Peacemaking among Primates / Wilde Diplomaten“[7] publizierte.

Nach de Waal ist Moral ein Ergebnis der Evolution, um in sozialisiert lebenden Gruppen, nicht nur exklusiv unter Menschen, soziale Normen zu entwickeln und dadurch die Fähigkeit zu Konfliktlösungsstrategien und Mechanismen der gegenseitigen Hilfe herauszubilden. Gefragt nach einer Zukunftsperspektive angesichts der unverminderten Gewaltbereitschaft und Zerstörungswut des Menschen gegenüber seiner Spezies und allen Lebewesen, einschließlich unseres gemeinsamen Planeten, antwortete er in einem Radiointerview einmal sinngemäß: Die Biologie ist unsere (vielleicht letzte) Hoffnung. Im Gespräch mit Arno Widmann erklärt der Forscher:

„Die Menschheit ist Jahrhunderttausende alt. Wir werden aus den materiellen Relikten, die wir aus jener Zeit haben – Knochen und Faustkeile zum Beispiel – wahrscheinlich niemals Rückschlüsse ziehen können auf die moralischen Erwägungen unserer Vorfahren. Wenn wir aber bei anderen Spezies auf moralisches Verhalten oder doch Ansätze dazu stoßen, dann ist sehr wahrscheinlich, dass unsere Vorfahren vor einer Million Jahren, als es noch keine Religion gab, doch bereits moralische Wesen waren. … Es geht um Fairness, um Gerechtigkeit, um Mord und Gewalt … usw. Ich leugne nicht, dass Religionen eine Rolle gespielt haben bei der Herausbildung von Moralsystemen. Aber sie sind sicher nicht der Ursprung der Moral. Wir sind kooperative Primaten.“[8]

An diesem Punkt der Erkenntnis und Einsicht sind wir. Weiter aber nicht.

Anmerkungen

[1]    Alexander Kluge: „Sieger ist nicht, wer die Schlachten gewinnt“. Im Interview mit Peter Neumann, Zeit online, 5. März 2022.

[2]    Yvonne Waterloos: Russians. Sting, in: Songlexikon. Encyclopedia of Songs
http://portal.uni-freiburg.de/songlexikon/songlexikon/songs/russianssting 

[3]    Ebd.

[4]    Ebd.

[5]    Heinz-Peter Kreuzer: Olympia in Zeiten des Kalten Krieges, Deutschlandfunk 19.07.2005.

[7]    Frans de Waal: Peacemaking among Primates. Harvard University Press, Cambridge, Mass 1989. Deutsch: Frans de Waal: Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen. Carl Hanser Verlag, München 1991.

[8]    Arno Widmann im Gespräch mit Frans de Waal: „‘Der Mensch, der Bonobo …‘. Nicht nur Menschen sind menschlich“, Frankfurter Rundschau, 8.9.2015
https://www.fr.de/kultur/literatur/nicht-menschen-sind-menschlich-11443667.html.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/136/kw094.htm
© Karin Wendt, 2022