Die Basilika der Hl. Justina

Ein Ort voller Ambivalenz

Andreas Mertin

Den Wenigsten wird die heilige Justina von Padua ein Begriff sein. Und doch ist sie für die Stadt selbst wichtig – nicht so bedeutend vielleicht wie der heilige Antonius, aber doch durchaus identitätsstiftend. Ich fasse einmal die wesentlichen Informationen mit der Wikipedia zusammen:

Justina von Padua († um 304 in Padua) war Jungfrau und Märtyrerin der frühen Kirche. Ihr Gedenktag ist der 7. Oktober. Justina wurde der Überlieferung nach während der Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian als christliche Jungfrau in Padua zum Tode verurteilt und von einem Soldaten unmittelbar danach, noch ehe der Henker kam, mit dem Schwert durchbohrt. Sie ist die Schutzpatronin der Stadt Padua in Italien. Über Justinas Grab wurde schon im 5. Jahrhundert eine Kirche erbaut, bei der im 10. Jahrhundert eine Benediktinerabtei entstand.

Die Abtei Santa Giustina entwickelte sich im 15. Jahrhundert zu einer der bedeutendsten der Region. In ihr befinden sich die Gräber vieler Heiliger, darunter Prosdocimus, Maximus, Julian, Felicitas und Reliquien des Evangelisten Lukas und des Apostels Matthias.

Wer in der Legenda Aurea nach dieser Justina sucht, wird nicht fündig. Dort wird eine andere Heilige gleichen Namens aus Antiochia vorgestellt. Aber ihre historische Existenz scheint gesichert, es gibt relativ frühe Bezeugungen ihres Wirkens und ihrer Wirkungsgeschichte. Auch ansonsten sind die Nachrichten und Legenden über sie spärlich belegt. Lediglich die Künstler scheinen sich regelmäßig mit ihr beschäftigt zu haben.

Die Basilika der Hl. Justina hat ein wechselvolles Schicksal. Die zunächst erbaute frühe Kirche aus dem 5. Jahrhundert kann zumindest noch in den Grundfesten gesehen werden, dort liegt auch Prosdocimus, der erste Bischof von Padua begraben. Bereits diese Kirche war eine Wallfahrtskirche. 1119-23 entstand nach einem Erdbeben ein romanischer Neubau, der später erweitert wurde. Ende des 16. Jahrhunderts wurden die bisherigen Gebäude durch eine Renaissance-Anlage mit fünf Kreuzgängen ersetzt. Von der Vorgängerkirche blieben lediglich die Lukaskapelle und der Chor erhalten.

Heute blicken wir auf die Kirche aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. Von den Vorgängerbauten zeugen, von den Besucher:innen oft übersehen, zwei mächtige Greife auf den Treppenstufen der heutigen Kirche. Diese Greife trugen ehemals einen Teil der Baulast der alten Kirche, heute sind sie nur noch dekorative Elemente. Früher waren sie die Wächter dieser Kirche (heute übernehmen diese Aufgabe die darüber angebrachten Videokameras).

Greife haben in der Zwischenzeit einem konnotativen Bedeutungswechsel vollzogen. Heute sind sie als Drachen eher negativ konnotiert, in der frühen Zeit der Kirche waren sie ein Symbol für Jesus Christus. Isidor von Sevilla sah um 600 n. Chr. in der Doppelnatur des Greifs, sowohl Raubvogel wie Löwe zu sein ein Sinnbild des über Himmel und Erde herrschenden Christus. Vor allem aber in der Romanik erscheint er als starkes und wachsames Tier, das dort, wo es beispielsweise als säulentragendes Wesen die Portale zahlreicher italienischer Kirchen flankiert, alles Böse in Gestalt von Löwen, Schlangen und Basilisken überwindet und abwehrt. In Padua hat er auf der linken Seite einen feindlichen Ritter, auf der rechten Seite einen gefährlichen Löwen erlegt.

Als Goethe 1796 Padua auf seiner italienischen Reise besucht, fühlt er sich – auf durchaus ambivalente Weise – von der Basilika der Hl. Justina angezogen. So schreibt er:

So verweil' ich auch gern in der Kirche der heiligen Justine. Diese vierhundertfünfundachtzig Fuß lang, verhältnismäßig hoch und breit, groß und einfach gebaut. Heut' abend setzt' ich mich in einen Winkel und hatte meine stille Betrachtung; da fühlt' ich mich recht allein, denn kein Mensch in der Welt, der in dem Augenblick an mich gedacht hätte, würde mich hier gesucht haben.


Von Didier Descouens - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0,
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Man muss diese Kirche einmal besucht haben, um die Ambivalenz der Aussagen von Goethe zu ahnen. Goethe geht es um das Erhabene: „Das Erhabene giebt der Seele die schöne Ruhe“. Und das findet sich hier tatsächlich – inszeniert. Es ist eine der größten Kirchen der Welt, pathetisch, auf Eindruck und Überwältigung angelegt. Als ich die Kirche das erste Mal persönlich besuchte, fröstelte es mich, nicht wegen der Raumtemperatur, sondern wegen des Raumeindrucks. Richtig anfreunden konnte ich mich nicht mit ihr.

Es gibt aber Details in der Kirche, die sie auch für jene interessant machen, die nicht Freunde des Erhabenen sind. Das ist zum einen natürlich der Umstand, dass hier der Überlieferung nach, die verbliebenen Reste des Evangelisten Lukas aufbewahrt sind. Persönlich finde ich es immer merkwürdig, dass ein guter Teil der weltweiten Christen den lokalen Heiligen mehr Aufmerksamkeit schenkt als den Evangelisten oder Aposteln. Das ist in Rom so, in Venedig oder in Padua. Antonius scheint wichtiger als Lukas. 

Das zweite Detail hängt damit zusammen. In der Basilika der Hl. Justina gibt es ein dem Evangelisten Lukas zugeschriebenes Bild, dass die Madonna mit Kind zeigt. Diese Bilder haben eine lange, aber nicht ein Jahrtausend übergreifende Tradition. Plausibilisiert werden sie damit, dass sie in einer Art künstlerischen Sukzession zu einem Ursprungsbild stehen, das der Evangelist tatsächlich gemalt hat. Das ist deshalb schwierig, weil Lukas gleich am Anfang des Evangeliums betont, nicht zu den Augenzeugen der Jesusgeschichte zu gehören. Dann kann er ihn schlecht gemalt haben. Aber sei’s drum. In Padua entsteht aber ein anderer Konflikt. Im Dom bzw. der Kathedrale der Stadt gibt es nämlich ein weiteres der Lukas-Tradition zugeschriebenes Bild, nur dass dieses eine ganz andere Frau zeigt. Und das wird zu einem Problem. Nur eines kann ja authentisch sein.

Das dritte und abschließend zu nennende Detail ist die Tatsache, dass auf dem Klosterfriedhof dieser Kirche sich das Grab der ersten Frau befindet, die jemals einen Doktortitel erwarb, Elena Lucrezia Cornaro Piscopia. 1678 wurde ihr der Doktor der Philosophie in der Kathedrale von Padua verliehen, ein Zeichen für die ausgesprochene Liberalität der Stadt. Danach suchte man zu verhindern, dass weitere Frauen promovierten, so dass es über 50 Jahre dauerte, bis mit Laura Bassi wieder eine Frau promovieren konnte, die dann sogar Professorin für Philosophie und später für Physik in Bologna wurde.

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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/133/am735c.htm
© Andreas Mertin, 2021