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Magazin für Theologie und Ästhetik


T O E oder: Der himmlische Raum

Eine Rezension

Andreas Mertin

Unbestreitbar wird das, was sich unter dem Stichwort "Cyberspace" abzeichnet, in der Gegenwart vor allem mit religiösen Begriffen beschrieben.[1] Die biblische Rede vom neuen Himmel und der neuen Erde ist einfach zu verführerisch, um sie nicht als Metapher für die virtuellen Welten in Gebrauch zu nehmen.

Margaret Wertheim, 1960 in Australien geboren, hat Physik, Mathematik und Informatik studiert und ist Wissenschaftsjournalistin für Zeitschriften, Radio und Fernsehen. Ihr Buch "Die Himmelstür zum Cyberspace. Von Dante zum Internet" geht den kulturgeschichtlichen Voraussetzungen derartiger Verknüpfungen ganz konkret am Beispiel des Raumes nach. Was verbindet mittelalterliche Raumverstellungen mit den heutigen Fantasien der virtual Reality? Was hat Raumschiff Enterprise mit Dantes Hölle zu tun? Wo gibt es Analogien und wo Widersprüche?

In acht Kapitel bietet Wertheim eine Zeitreise vom Seelen-Raum über den Physikalischen Raum, den Himmlischen Raum, den Relativistischen Raum, den Hyperspace, den Cyberspace bis zum Cyber-Seelen-Raum und der Cyber-Utopia. Das Spielfeld ihrer Beobachtungen und Beschreibungen ist dabei weit gesteckt: von der Literatur über die Malerei und Philosophie bis zu popkulturellen Phänomenen des Unterhaltungsfernsehens der Gegenwart. Das Buch ist mit zahlreichen Illustrationen versehen, die das Beschriebene noch weiter erläutern. Wertheims Buch ist kein naturwissenschaftliches Buch im engeren Sinne, es ist ein kulturgeschichtliches, ja kulturhermeneutisches Buch mit der Bereitschaft, sich auch auf ungewöhnlich und populärkulturelle Fragestellungen einzulassen. Und es ist ein theo-ästhetisches Buch insofern, als es die religiösen, ästhetischen und nicht zuletzt künstlerischen Fragen des Raumes durchgehend mitreflektiert.

Giotto, Arena-Fresken (Klick für größeres Bild)Anhand von Giottos Bildern an der Chorwand der Kapelle der Madonna dell'Arena in Padua erläutert Wertheim zum Beispiel sowohl die malerische Darstellung des mittelalterlichen physikalischen Raumes wie die des himmlischen Raumes. In Giottos Darstellung sehen wir "das erste Aufflackern einer neuen Denkungsart, die schließlich in der neuzeitlichen 'wissenschaftlichen' Konzeption vom physikalischen Raum gipfeln sollte" (S. 78). Zugleich ist sie aber auch Darstellung des göttlichen Raumes.

Nicht alles, was Wertheim zusammenträgt, hält kritischer Nachfrage stand. Vieles ist mit Enthusiasmus geschrieben und bedarf der prüfenden Distanz des Lesers. Dennoch wird manch Interessantes, Amüsantes, Gewagtes und Spekulatives auf den 360 Seiten zusammengetragen, es erweist sich selbst als eine "Theory of everything" (T O E). "Der Charme des Buches liegt eher in der akribischen Recherche über die Vorstellungen der Menschen vom Raum als in der bemühten Deutung moderner Informationstechnologie. Margaret Wertheim ist, wie viele US-Sachbuchautoren, unvorstellbar belesen und schafft es, im Vorbeigehen Descartes' dualistische Metaphysik, Einsteins spezielle Relativitätstheorie und den wissenschaftlichen Hintergrund von Kasimir Malewitschs "schwarzem Quadrat" zu erläutern." - schreibt die ZEIT zutreffend in ihrer Kritik.[2] Ich empfehle das Buch für ästhetisch interessierte Internetfans als anregende Wochenendlektüre.

Anmerkungen
  1. Vgl. dazu Verf. Internet im Religionsunterricht, Göttingen 2/2001; Andreas Mertin u. Jörg Herrmann, Virtuelle Religion, Magazin für Theologie und Ästhetik, Heft 7, https://www.theomag.de/7/mh1.htm; Hartmut Böhme, Hartmut: "Die technische Form Gottes. Über die theologischen Implikationen von Cyberspace". Praktische Theologie 31 Jg., Heft 4, 1996, S. 257-261.
  2. http://www.zeit.de/2001/09/Media/200109_sm-space.html

© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 13/2001
https://www.theomag.de/13/am36.htm

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Margaret Wertheim, Die Himmelstür zum Cyberspace. Von Dante zum Internet, Zürich 2000