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Magazin für Theologie und Ästhetik


Virtuelle Religion

Die Herausforderung der neuen Medien für Theologie und Kirche

von Jörg Herrmann und Andreas Mertin

Das Verhältnis der Kirche zu den neuen Kommunikationstechnologien ist durch eine merkwürdige Ambivalenz gekennzeichnet, es schwankt zwischen Abstinenz und Emphase. Während sich die Mehrzahl der Theologinnen und Theologen äußerst reserviert verhält, stürzen sich einige wenige mit Haut und Haaren in den Datenstrom, offenbar, weil sie neue missionarische Möglichkeiten wittern. Einige Landeskirchen ernennen bereits Beauftragte fürs Internet bzw. präsentieren sich mit einem eigenen Angebot. Auf der anderen Seite pflegen die Protagonisten der neuen Technologien einen durchaus interessierten und spielerischen, häufig problemorientierten und immer sehr individuellen Umgang mit dem Thema Religion. Die theologische Reflexion kratzt bisher nur an der Oberfläche der Phänomene. Untersucht wird bislang zumeist nur das Vorkommen von Religion im Internet. Die Analyse dringt noch kaum zum Kern vor, zur Herausforderung durch neue Sozialformen und neue Transzendenzerfahrungen im virtuellen Raum - eben zur Möglichkeit einer "New Church of Information".

Ursprungsgeschichten

Allucquere Rosanne Stone, Professorin am Institut für Radio-Fernsehen-Film der University of Texas in Austin und Direktorin des Advanced Communication Technologies Laboratories, hat in einem faszinierenden Artikel die Ursprungsgeschichten virtueller Systeme nachgezeichnet. Ihr Interesse gilt den sozialen Räumen im Cyberspace, den Gemeinschaften und ihrer Funktionsweise in einer virtuellen Kultur, also einer Form der Kommunikation, die nicht auf der unmittelbaren körperlichen Präsenz der Beteiligten beruht. Stone unterscheidet vier Epochen in der Entwicklung der virtuellen Kulturen. Die erste Epoche beginnt im 17. Jahrhundert mit der Entwicklung der akademischen Abhandlung durch Robert Boyle. Diese erlaubte es Gelehrten, wissenschaftliche Experimente so zu beschreiben, dass sie auch von nicht anwesenden Wissenschaftlern auf der Basis der reinen Textlektüre nachvollzogen werden konnten. Das Ergebnis war der akademische Stil wissenschaftlicher Texte, der sich bis heute erhalten hat. Die zweite Epoche ist die der frühen elektronischen Gemeinschaften am Anfang unseres Jahrhunderts, die über Telegraph, Phonograph, Radio, Film und Fernsehen vermittelt wurden. Mit dem Computer entwickeln sich dann völlig neue Möglichkeiten virtueller Gemeinschaften. Zwischen 1960 und 1984, der Epoche der Informationstechnologie, entstehen die ersten Computernetze, die bereits Versuche darstellen, über den reinen Austausch technischer Informationen hinauszugehen. Das Gedankengut zu Beginn der dritten Epoche, der online Bulletin Board Systeme (BBS), war stark spirituell inspiriert, wie zum Beispiel die Anfänge des Computer-Netzes der CommuniTree-Gruppe zeigen. Orientiert am Filmzyklus "Star Wars" ging es darum, mit technologischen Mitteln Gutes zu schaffen. Die Zukunft gewinnt, wer lernt, "seinen Gefühlen zu vertrauen". Regelmäßig sollten Konferenzen zu allgemein interessierenden Fragen veranstaltet werden: "Der erste Satz in der Ankündigung der ersten Konferenz lautete: 'Wir sind wie Götter und könnten darin ganz gut werden'. Diese technospirituelle Anmaßung, angefüllt mit den Verheißungen der erlösenden Macht der Technologie und durchdrungen von dem ungezwungenen, alle fesselnden östlichen Mystizismus, der in den höheren Schichten Nordkaliforniens weit verbreitet war, charakterisierte die frühen Konferenzen. Wie man bereits vom Stil der Ankündigung vermuten kann, ging die erste Konferenz mit dem Titel 'Ursprünge' um künftige Religionen." Das System ging zugrunde, als sich Jugendliche einloggten, die die spirituellen und sozialen Interessen der Initiatoren nicht teilten. Ein anderes Netz, Habitat, war für den legendären C64 entworfen worden und entwickelte sehr schnell ein ausgeprägtes soziales Leben: "Habitat hat sich in seinem Charakter als eindeutig sozial erwiesen. Während Habitats Betatest entstanden spontan verschiedene soziale Institutionen. [So] gab es Heiratszeremonien und Scheidungen, eine Kirche (zusammen mit einem griechisch-orthodoxen Priester aus der wirklichen Welt), einen lockeren Verband von Dieben, einen gewählten Sheriff (um die Diebe zu bekämpfen), eine Zeitung mit einem ziemlich exzentrischen Herausgeber und bald auch zwei Rechtsanwälte, die ihre Schilder aufhängten, um ihre Geschäftsbereiche aufzuteilen. All das geschah mit nur 150 Menschen". Die dritte Epoche der virtuellen Kulturen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Teilnehmer der Netze lernen, ihre Körper im System durch Repräsentanten vertreten zu lassen. "Soziale Räume beginnen zu entstehen, die gleichzeitig natürlich, künstlich und durch Einschreibung konstituiert sind." Die Entwicklung der vierten Epoche der virtuellen Realität und des Cyberspace hat gerade erst begonnen. Ihre sozialen und anthropologischen Folgen sind noch kaum absehbar. Aber auch hier zeichnen sich Tendenzen zu radikalen Veränderungen der Sozialformen ab.

Was ist wirklich? Was ist wahr?

Parallel zu den großen Entwicklungsschritten der virtuellen Kulturen und ihren sozialen und spirituellen Implikationen lassen sich aber auch fundamentale lebensweltliche Veränderungen beobachten. So entwickeln sich neue Kommunikationsformen, bei denen die Unterscheidung von Geschlecht, Rasse und Religion innerhalb des Systems (im Blick auf den Zugang zum System hingegen reproduzieren und verschärfen sich die bekannten gesellschaftlichen Segregationen) aufgehoben ist. Die neuen Technologien eröffnen neue, ungeahnte Möglichkeiten der Fiktion und Simulation. Legendär geworden ist Julie, eine körperbehinderte ältere Frau, die Mitte der 80er Jahre in einem New Yorker Netz intensive Beziehungen zu anderen Usern aufbaute. Erst nach einigen Jahren stellte sich heraus, dass Julie nicht existierte. Sie war die Simulation eines männlichen Psychiaters mittleren Alters gewesen. Die Netzgemeinde war schockiert.

Ebenso wie es im Zeitalter der Digitalisierung keine wahren Fotos gibt, gibt es im Netz keine Wahrheit im lebensweltlichen Sinn. Für die Ausbildung eines emphatischen Wahrheitsbegriffs sind die Subjekte auf die Alltagswelt zurückverwiesen. Sie bleibt lebensweltlich von primärer Relevanz. Daran ändern auch die neuen Medien nichts. Ihre Domäne ist die Erweiterung. Durch neue Verbindungen von Mensch und Maschine können die neuen Technologien in einem bisher ungewohnten Ausmaß Erfahrungen simulativ vermitteln, den Körper erweitern, seine Begrenzungen überwinden. Zugleich machen uns diese neuen Möglichkeiten nachhaltig auf die Konstruktivität aller von uns produzierten Bilder, Räume und Texte aufmerksam. Sie werfen damit in einer bisher ungekannten Radikalität die Frage auf nach dem Verhältnis der unterschiedlichen mehr oder weniger virtuellen Welten, nach einer Ethik und Ästhetik der pluralen Virtualität.

Virtuelle Religion

Folgt man vom Sinn des Wortes "virtuell" (der Kraft, dem Wesen, dem Inhalt oder der Möglichkeit nach vorhanden), kann man auch nach der Virtualität von Religion fragen. Denn was sind etwa die paulinische Christusmystik und die Rede von der Gemeinde als Leib Christi anderes als Imaginationen im geistigen Cyberspace? Wie lassen sich die christlichen Vorstellungen vom Heiligen Geist anders deuten denn als Formen prätechnologischer Virtualität? Die Einsicht in die grundsätzliche Virtualität religiöser Vorstellungswelten könnte zu einem Verständnis von Religion beitragen, das weniger identitätsphilosophisch, sondern mehr lebenspraktisch-kommunikativ bestimmt ist.

Aber das Entstehen virtueller Räume regt nicht nur zum Nachdenken über den Charakter des Religiösen an, es ermöglicht auch neue Transzendenzerfahrungen in dem von Alfred Schütz und Thomas Luckmann beschriebenen Sinne. Denn wenn das Internet zunehmend ein eigenes "symbolisches Universum" ausbildet, dann stellt es de facto ein eigenes Sinngebiet innerhalb der sogenannten großen Transzendenzen dar. Nach Alfred Schütz weisen die Sinngebiete der großen Transzendenzen einen vom Alltag unterschiedenen Erkenntnis- und Erlebnisstil auf, wie etwa die Phantasie-, die Traum-, die Spielwelt oder die Welt der theoretischen Kontemplation; und nun eben die Welt des Cyberspace. Dabei ist das Sinngebiet "Cyberspace" nicht individualistisch und individualisierend, wie ihm immer wieder unterstellt wird, sondern kommunikativ und sozial konstruiert. Es bildet soziale Gemeinschaften, Utopien und Geschichten aus.

Geschichten und Hoffnungen

Jill Scott, Projektleiterin des Multimedia-Laboratoriums am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, hat in einem Multimedia-Kunstwerk die Erinnerungen von acht Frauen aus vier Zeitzonen simuliert. Der Teilnehmer kann sich in die Körper dieser Menschen begeben, an ihren Erfahrungen, Utopien, Sorgen und Hoffnungen partizipieren: "Im Jahr 1900 glaubt Mary an die Gemeinschaft als Paradies, wo gemeinsame Arbeit zu Glück und Wohlstand führt, während Emma der Meinung ist, jegliche Art von Organisation müsste im Namen der Meinungsfreiheit und der Freiheit der Lebensgestaltung abgeschafft werden. Im Jahr 1930 zeigt Margaret eindeutig kapitalistische Züge der technischen Utopie, während Pearl, eine Dienstbotin, auf langes Leben und Gleichberechtigung ihrer Rasse hofft. In den radikalen 60er Jahren denkt Gillian, dass die Technik von einem verantwortungsbewussten sozialistischen Staat kontrolliert werden müsste, während Maria der Meinung ist, dass das organische Leben als Mutter der Unsterblichkeit in Frieden gelassen werden sollte. Heute, in den 90er Jahren, glaubt Ki, dass nur eine Mischung aus östlichem und westlichem Denken den Frieden fördern und die drohende Vereinsamung künftiger Generationen erleichtern kann. Zira ist der Meinung, dass man die Wunder der erfinderischen Technik akzeptieren sollte, aber mit Vorsicht, Sorge und Wachsamkeit über ihre Anwendungsformen und die Menschen, die sie kontrollieren."

Global Village - das neue Jerusalem?

Gerade weil der Bereich des zu Erfahrenden, des Wahrzunehmenden kaum eingeschränkt ist, ist der Reiz des unbekannten Neuen, des Abenteuers, den kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich mehr so versprechen kann, ungebrochen. Die Propheten des Internet, allen voran Microsoft-Chef Bill Gates, die uns einen Himmel voller Satelliten und eine neue Erde unbegrenzter Kommunikation versprechen, setzen alles daran, ihre Vision vom himmlischen Jerusalem namens "Global Village" umzusetzen. So wirbt IBM für "Solutions for a small planet: Etwas Faszinierendes geschieht auf diesem Planeten. Entfernungen werden immer kleiner, Menschen kommen sich näher. Der Grund dafür ist denkbar einfach. Von Andorra über Sylt bis Zimbabwe entdeckt man überall auf der Welt die grenzenlosen Möglichkeiten, die das Internet bietet". Und die Firma NEC ergänzt: "Riesige Zeiträume, enormer Forschungsaufwand, immenser Einsatz an Mitteln - und die Welt wird zum Dorf! Stellen Sie sich eine Welt vor, die klein genug ist, um gleichzeitig mit Kollegen aus verschiedenen Ländern eng zusammenzuarbeiten, Texte, Daten und Bilder auszutauschen und das alles vom eigenen Schreibtisch aus. Genauso sieht es in der 'multimedialen' Welt aus. Revolutionär? ... Projekte wie 'NEC Global College' zeigen, dass die räumlichen Entfernungen keine Barrieren mehr für das Erlernen und Erfahren fremder Kulturen sind. In dem Maße, wie die Welt sich verkleinert, wachsen die Möglichkeiten für die Menschheit."

Die geradezu religiöse Euphorie, mit der sich die westlichen Gesellschaften auf das Experiment der globalen Telematisierung der Welt einlassen wollen, fordert theologische Reflexion heraus. Denn die neuen Technologien eröffnen den Menschen noch nie da gewesene Möglichkeiten, sich selbst und seine Umgebung zu gestalten und umzugestalten. "Wir sind wie Götter und könnten darin ganz gut werden", befanden die CommuniTree-TeilnehmerInnen deshalb auch nicht ganz zu unrecht. Doch wohin führen die neuen Schöpfungspotenzen, verwirklichen die neuen Medien die in der Offenbarung des Johannes herbeigeschaute neue Welt ohne Tränen, Schmerz und Krieg? Erfüllt sich schließlich doch das Versprechen der Schlange im Paradiesgarten: "Ihr werdet sein wie Gott"? Entdeckt sich der Mensch wie zu Beginn der Renaissance als alter deus? Schon Nikolaus von Kues beschrieb den Menschen als zweiten Gott, nicht zuletzt wegen seiner Fähigkeit, "künstliche Formen" zu schaffen.

Ist der Mensch also an der Schwelle zum dritten Jahrtausend im Begriff, an die Stelle Gottes zu treten? Kann der alte Gott der heiligen Schriften nun endgültig abdanken? Oder wird die in der Religion aufbewahrte Erfahrung der letztendlichen Unverfügbarkeit des Lebens gerade angesichts der sprunghaft angewachsenen Gestaltungsmöglichkeiten des Menschen auf ganz neue und kritische Weise relevant?

Herausforderung für Kirche und Theologie

Das Interesse der Landeskirchen kann sich vor dem Hintergrund solcher Überlegungen nicht darin erschöpfen, im Internet eine Angebotsseite im World Wide Web zu präsentieren, einen Pfarrer bzw. eine Pfarrerin fürs Internet zu berufen und dann eine Art modernisierter Telefonseelsorge zu betreiben. Die Frage ist, ob die Kirchen die Netze nur als Fortsetzung der Wortkultur mit anderen, eben zeitgemäßeren Mitteln begreifen, oder ob sie sich auf die mit den virtuellen Welten einhergehenden qualitativen Veränderungen einlassen. Ist für sie das Internet nur ein komplexes Wissenssystem, auf dem man sich präsentieren und Informationen über Christentum, Kirchen, Theologie und Glaubensfragen verbreiten kann, oder setzen sich die Kirchen auch mit den sich entwickelnden neuen Sozialformen auseinander? Welche Konsequenzen hat die Virtualität dieser Technologien für das Spektrum religiöser Erfahrungen und deren Vergemeinschaftungsformen?

Deutlich ist jedenfalls die anarchische Tendenz des Netzes. Weniger Angebote der Institutionen sind gefragt, als vielmehr der auf individueller Erfahrung basierende Austausch. Und dieser hat einen ganz spezifischen Charakter, der noch weitgehend unerforscht ist und viele neue Fragen aufwirft: Wie ist zum Beispiel die telepräsente Interaktion im virtuellen Raum und in Echtzeit zu bewerten im Vergleich zu einem Gespräch zwischen physisch anwesenden Gesprächspartnern? Geht nicht der physische Widerstand des anderen im virtuellen Raum verloren? Und was bedeutet das? Kann man im virtuellen Raum Gottesdienste feiern? Aber vielleicht ist diese Frage auch falsch gestellt, geht sie doch davon aus, dass Sonntagsgottesdienste in der überlieferten Form ein notwendiges Kennzeichen von Religion sind.

Realpräsenz

Die westeuropäischen Kirchen haben - anders etwa als einige amerikanische - fast exklusiv auf die körperliche Realpräsenz ihrer Gläubigen gesetzt. Radio- wie Fernsehgottesdienste wurden von Anfang an als unzureichender Ersatz realpräsentischer Gemeinschaft beargwöhnt. Ein wichtiges Argument dabei war die Individuierung vor dem Medium. Die Fernsehgemeinde sei keine 'richtige' Gemeinde. Diese Einschätzung zeitigt jetzt Folgen - nicht nur im Blick auf die neuen Technologien. Schon seit längerem sind die nicht körperlich im Gottesdienst präsenten, aber doch virtuell vorhandenen Kirchenmitglieder aus allen Entscheidungsprozessen verbannt. Dementsprechend steigt die Zahl der Gläubigen ohne Kirche. "Glaube und Kirche sind zwei verschiedene Paar Schuhe, wovon ich mir das eine nicht unbedingt anziehen würde", äußerte ein Proband einer religionssoziologischen Studie. Man kann diese Entwicklung als Folge der Dominanz des Prinzips der Realpräsenz deuten, das das kommunikative Handeln der Kirche bestimmt. Wer nur dreimal im Jahr zu den kirchlichen Hoch-Zeiten erscheint, wird vielerorts immer noch scheel angesehen und so indirekt mit einem schlechten Gewissen bestraft. Was aber, wenn das klassische Argument gegen Fernseh- und Radiogottesdienste sich für die neuen Technologien nicht halten ließe, wenn sich im Rahmen religiöser Events im Netz eben doch virtuelle Gemeinschaften bildeten, telepräsent und in Echtzeit interagierend, die zumindest die gleiche Kontinuität hätten wie eine Studentengemeinde? Die exklusive Bindung religiöser Kommunikation an die Realpräsenz der Gläubigen wird im Zeitalter universaler Kommunikation Wandlungen erfahren. Soziale Gemeinschaften werden sich verstärkt auf Vereinbarungen gründen und zunehmend temporär sein.

Der neue Mensch

Doch die Frage der virtuellen Religionsgemeinschaften ist nur ein Aspekt, der mit den neuen technologischen Möglichkeiten gegebenen Problematik. Das Spektrum der in ihr enthaltenen Fragestellungen reicht von der Frage nach einem neuen Verständnis von Religion im Zeichen der Virtualität über die Frage nach einer Ethik virtueller Welten bis hin zur Problematik der Neuschöpfung des Menschen durch den Menschen. Vilém Flusser, einer der Theoretiker der neuen Technologien, ging so weit, die computerbewaffnete Menschheit im Wettstreit mit Gott als Schöpfer zu sehen: "heute kann sie das buchstäblich tun, sie kann tatsächlich Leben schaffen. Sie kann dabei nicht nur mit Gott in Konkurrenz treten, sie kann es besser als Gott machen, denn Gott hat das Prinzip des Zufalls für Kreativität verwendet, während wir es absichtlich, deliberat machen können. Infolgedessen können wir die Evolution beschleunigen und die vielen Fehler, die passiert sind, vermeiden." Diese Allmachtsphantasie ist nicht neu, sie kann in Ansätzen bereits in der Renaissance studiert werden. Und obwohl sie wie ein Aufstand gegen Gott wirkt, bleibt dieser doch der letztgültige Maßstab: sein wie Gott. Deshalb kommt es weniger darauf an, dieses Denken abzuqualifizieren, als vielmehr das dahinter stehende Bedürfnis nach Lebensdeutung und -gestaltung theologisch aufzunehmen und zu reflektieren.

Kirche und neue Medien

Nach unserer Überzeugung ist es gerade nicht an erster Stelle Aufgabe der Kirche, ihre Rolle in dem neuartigen Kulturraum der Datennetze "als Kulturträger, als gesellschaftliche Kraft, als sozialer Anwalt und als Missionarin" wahrzunehmen, wie dies Johannes Neukirch in den Lutherischen Monatsheften gefordert hat. Diese Sichtweise überschätzt die Einflussmöglichkeiten der Kirche im aktuellen kulturellen Kontext und gerade auch im Blick auf die neuen Technologien. Überdies wird jeder Versuch institutioneller Einflussnahme im Netz sofort machtpolitisch gedeutet. Wer also meint, man könne es nicht verantworten, "Menschen mit ihren religiösen Anliegen dem Zufall der Diskussionsentwicklung im jeweiligen Netz zu überlassen", wähnt sich offenbar nach wie vor monopolistisch im Zentrum und glaubt, die Kirche vertrete religiöse Lebensdeutungskompetenz exklusiv. Die religiösen Diskussionen im Internet entstehen aber, weil die Menschen zur institutionalisierten Religion auf Distanz gegangen sind, weil sie nicht mehr möchten, dass die Kirche ihnen als Missionarin und Alleinvertreterin von Religion entgegentritt. Die mit dem Internet entwickelte Religiosität hat ihre Spitze gerade darin, dass sie sich an die von der Kirche verbreitete Etikette nicht halten will, sondern die Beteiligten selbst als Produzenten von Theologie auftreten. Genau aus diesem Grunde ist es wiederum für die Kirche wichtig, sich mit den Entwicklungen des Internet zu beschäftigen, nicht um Einfluss auszuüben oder ein Marktsegment zu besetzen, sondern um teilzunehmen am Kommunikationsgeschehen einer Vergemeinschaftungsform, die die Kirche von jeher propagiert hat und die im Internet ganz unabhängig von kirchlichen Interessen realisiert wird. Für die Kirche könnte es dabei vor allem darum gehen, etwas zu lernen und sich belehren zu lassen von den Menschen, die ihre religiösen Vorstellungen lieber in virtuellen Räumen erörtern, als sich an den Veranstaltungen der Gemeinde zu beteiligen und deren religiösen Leitlinien zu folgen. Eine Theologie, die sich für diese Entwicklungen interessiert und mit ihnen ins Gespräch kommen will, muss versuchen, "dem spezifischen Eigensinn der Alltagskommunikation gerecht zu werden und gerade die darin enthaltenen, virulenten und latenten, Fragen, Widersprüche und kritischen Einsprüche gegen religiös-ideologische Gewissheiten und dogmatische Behauptungen aufzuschlüsseln suchen" (Henning Luther).

Literatur
  • Allucquere Rosanne Stone, Würde sich der wirkliche Körper bitte erheben. Grenzgeschichten über virtuelle Kulturen, Kunstforum 133, S. 68-83.
  • Jill Scott, Die digitale Körperethik, Kunstforum 133, S. 172-178.
  • Johannes Neukirch, Religion im Internet. Elektronische Kommunikationsformen und die Aufgaben der Kirchen, Lutherische Monatshefte 2/96, S. 22-26.
  • Paul Virillio, Cybersex, Lettre, Heft 32, 1996, S. 74-77.
  • Stefan Bollmann (Hg.), Kursbuch Neue Medien. Trends in Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur, Mannheim 1996.
Hinweis

Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in: Barbara Heller (Hg.): Kulturtheologie heute? Hofgeismar 1997, S. 117-124.


© Mertin / Herrmann 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 7/2000
https://www.theomag.de/07/mh1.htm