„Nach der Leere“ oder: Zurück ins Pleistozän?

Eine subjektive Auseinandersetzung mit einem anregenden Buch

Andreas Mertin

Horst Schwebel zum 80. Geburtstag

Seidel, Stefan (2020): Nach der Leere. Versuch über die Religiosität der Zukunft. München: Claudius.

Um die Religion scheint es in der Moderne nicht gut zu stehen – so zumindest lautet die Urban Legend der säkularen Menschen in westlichen Staaten. Die Kirchenfunktionäre wie auch die Religionspädagogen beklagen den Traditionsabbruch, der dazu führt, dass die Menschen, mit denen sie zu tun haben, über so gut wie kein Grundwissen von den zentralen religiösen Erzählungen und den Überlieferungen der christlichen Kirchen verfügen. In dieser Wahrnehmung, die Religiosität an die Verfügung über Religionswissen bindet, wird es sozusagen von Jahr zu Jahr schlimmer. Dazu steht im Kontrast, dass weltweit gesehen die Zahl der Agnostiker und Religionslosen zumindest prozentual immer mehr abnimmt. Das liegt u.a. an der Reproduktionsrate der religiösen Menschen, aber auch an der (nicht nur) sozialen Lebensnotwendigkeit von Religion in anderen Teilen dieser Erde. Wenn überall außerhalb der westlichen Zivilisation die Religionen sich weiterentwickeln, nur in Europa und Amerika nicht, muss man fragen, was uns in Sachen Religion noch bevorsteht. Einen derartigen „Versuch über die Religiosität der Zukunft“ liefert Stefan Seidel mit seinem Buch „Nach der Leere“. Der Autor hat Theologie in Leipzig, Jerusalem und Heidelberg studiert sowie Psychologie in Berlin. Er ist leitender Redakteur bei der evangelischen Wochenzeitung DER SONNTAG in Leipzig.


Annäherung

Das Problem, das sich bei all diesen, ich sage einmal „apologetischen“ Schriften immer wieder zeigt, ist zunächst die Zuordnung dessen, was sich als Religion oder Religiosität überhaupt bezeichnen lässt. Bevor ich genauer auf Seidels Buch eingehe, deshalb ein paar Überlegungen zu dieser Problematik. Wenn eine Religion oder Konfession die Individualisierung der Menschen, ihr freies und selbstbewusstes Auftreten gegenüber Autoritäten, programmatisch vertritt, wenn dann diese Emanzipation auch tatsächlich eintritt, die Emanzipierten in einem späteren Punkt der Geschichte sie nicht mehr als Impuls der Religion oder Konfession begreifen, wie geht man damit um und wie bewertet man das?

Während ich dies schreibe, veröffentlicht der Youtuber Rezo gerade ein Video über die „Corona-Gegner“. Es ist ein entschiedenes Plädoyer für Vernunft, Wissenschaftsorientierung und Sorge für den Nächsten und gegen die Zerstörung des Staates durch angebliche „Querdenker“. Im ganzen Video fällt kein einziges Mal das Wort Religion oder Gott [nur das Judentum wird im Kontext der Novemberpogrome 1938 gestreift]. Und dennoch würde ich es als durch und durch protestantisches Video im besten Wortsinn begreifen. Millionen Menschen werden dieses Video sehen, das mit 18:14 Minuten die durchschnittliche Länge einer sonntäglichen Predigt hat. Ist das nun Religion, obwohl es durch und durch säkular und humanistisch auftritt? Ich glaube: ja. Suchet der Stadt Bestes.

Die protestantische Kultur hat sich hier so sehr in die Säkularität sedimentiert, dass säkulares Engagement und protestantisches Engagement oft nicht mehr unterscheidbar sind. Manche empfinden das als schrecklich und warnen vor der Anpassung an den Zeitgeist. So sehe ich das nicht. Müsste man nun explizit darauf hinweisen, dass es sich um protestantische Tugenden handelt, die der Pfarrersohn Rezo hier pflegt? Ich wüsste nicht, was das bringen sollte. Dann würde man Protestantismus wie ein Markenlogo begreifen und nicht als ein Sachanliegen.

Dieses Beispiel ließe sich durch viele weitere Beispiele ergänzen. Das ursprünglich Luther zugeschriebene „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir“ ist zu einem allgemeinen Habitus geworden, ohne dass der dritte Teil des Satzes noch gesprochen würde. Die Frage, die sich mir stellt: kann sich Religion im hegelschen Sinn dialektisch aufheben? Oder zumindest bestimmte humanistische und gesellschaftspolitische Aspekte von Religion?

Mit anderen Worten: leiden wir in Wirklichkeit nur unter unserem Erfolg und erkennen das bloß nicht? Ist es nicht so wie in der Alltagssprache, die mit Wortschöpfungen Luthers durchsetzt ist, ohne dass wir jedes Mal darauf hinweisen müssen? Natürlich ist es der innerprotestantischen Selbstvergewisserung wichtig, den Ursprung in Erinnerung zu halten, für die Gesellschaft ist es das nicht.

Nun aber zum Buch von Stefan Seidel. Geschrieben wurde es bis in die Zeit der sich ausbreitenden Corona-Pandemie. Der Autor benennt die Angst, die dabei entsteht und nennt die Fragen, die sich die Menschen in der Folge stellen. Er meint, dabei könne er einen „mentalen Mangel an Daseinsfestigkeit“ feststellen.[1] Meine persönliche Erfahrung widerspricht dem. Nicht nur bei mir selbst, auch bei den Menschen, mit denen ich im Gespräch bin, habe ich keine grundlegenden Ängste oder einen Mangel im Blick auf den Sinn des Lebens feststellen können. Es gibt Sorgen um die Gesundheit, das war‘s. Es gibt viele Dinge, an denen man eine Krise der Religionen festmachen kann, Corona gehört meines Erachtens nicht dazu. Das Einzige, was deutlich wurde, war, dass wir die Kirche für die Bewältigung der Corona-Krise nicht brauchen.

Seidel listet die Krisensymptome der Kirchen in der Gegenwart auf: die Kirchenaustrittsstatistik, der Traditionsabbruch, die scheinbare Beantwortung der Sinnfragen durch die Unterhaltungsliteratur. Wenn ich ihn recht verstehe, deutet er diese Verluste im Sinne der Kriegsführung, zumindest dort, wo er davon spricht, dass die Kirchen Jahr für Jahr an Terrain verlieren. Ich würde eher sagen, sie verlieren an Bedeutung und Bindungskraft. Dadurch entsteht aber, so die These von Seidel, eine Leere, und deshalb müsse man neue Versuche des „Bestimmens des Unbestimmbaren“ unternehmen. Die paradoxe Formulierung macht schon das Problem klar: auf mehr als Evidenzen wird man, wenn es denn wirklich Unbestimmbares ist, nicht setzen können.

Der erste Satz, an dem ich mich im Vorwort gestoßen habe, obwohl er nur eine historische Sachlage wiederzugeben scheint, lautet:

Immer wieder, seit dem Aufkommen erster religiöser Riten in der Altsteinzeit, hat sich das Religiöse neu konstelliert im Menschen und in den menschlichen Gesellschaften. [11]

Das ist ein Satz, dem man schnell zuzustimmen geneigt ist, weil man seine Bedeutung überliest. Was besagt er? Zunächst einmal nichts weniger, als dass Religion ein Gewordenes ist. Und wie alles Gewordene kann sie auch wieder vergehen: Alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht.[2] Es hat also Zeiten gegeben, in der Menschen ohne Religion waren. Freilich ist die Zeitbestimmung „Altsteinzeit“ allzu großzügig bemessen. Die Altsteinzeit setzt vor 2,5 Millionen Jahren ein, also lange vor dem Homo sapiens, der erst vor 300.000 Jahren auftritt. Die Altsteinzeit endet vor 12.000 Jahren mit dem Beginn des Holozän. Es gibt keine Hinweise darauf, dass es vor dem Holozän tatsächlich schon gestaltete Religion gegeben hat. Das funktioniert nur, wenn man rituelles Verhalten mit Religion gleichsetzt. Wenn Religion freilich schon bei einer rudimentären Bestattungskultur und einer Beziehung zu den Verstorbenen vorläge, dann wäre sie sehr alt und der Homo sapiens würde sie mit Neandertalern, ja sogar mit Tieren teilen. Denn Trauerreaktionen gehören schon zum Primatenerbe. Mir leuchtet diese Frühdatierung von Religion freilich nicht ein, sie scheint mir mehr ideologisch motivierte Setzung als zutreffende Beschreibung zu sein. Das Vorhandensein von Trauerritualen allein lässt noch nicht auf Religion im Sinne eines Systems schließen, allenfalls auf Vorformen religiöser Empfindungen (die man dann aber auch Tieren zubilligen müsste). Die Religionswissenschaftlerin und Biologin Ina Wunn schreibt dazu:

„Es gibt keinerlei wie auch immer gearteten Hinweise auf religiöse Praktiken des Jungpaläolithikers in der Höhlenmalerei. Weder Zauberer noch Schamanen wurden abgebildet, es fanden keine jagdmagischen Rituale statt und auch nicht die Auseinandersetzung zwischen totemistischen Clanen. Sämtliche diesbezüglichen Aussagen beruhen einerseits auf einer fehlerhaften Deutung der Fakten, andererseits aber auf traditionellen Vorstellungen von vorgeschichtlicher Religion, die heute als überholt gelten müssen“.[3]

Würde man Religion aber mit einem Götterglauben oder wenigstens einem Ritualsystem identifizieren, dann wäre sie eher späten Datums, vielleicht gerade erst zehn- bis zwölftausend Jahre alt. Nicht der Mensch als solcher, wohl aber der religiöse Mensch erscheint im Holozän[4], genauer im Neolithikum. Und das ist dann schon eine ganz andere Aussage:

„Im Neolithikum entstanden die Grundlagen eines Weltbildes, das wir heute als religiös bezeichnen würden. Man glaubte an übermächtige Wesen, die auf die Geschicke derjenigen Menschen Einfluss nehmen, für die … Sorge zu tragen ist oder die im Ritual vergegenwärtigt werden … Dies heißt, es existierten nun religiöse Vorstellungen und Praktiken. Es gab also ein Repertoire an Symbolen, die auf eine jenseitige Welt und höhere Mächte einerseits, auf gemeinsame Werte andererseits verwiesen und die im Ritual vergegenwärtigt wurden – vor allem zu Zeiten, in denen Brüche im Lebenszyklus Einzelner (Pubertät, Tod) die kleine Gesellschaft besonders störanfällig machten.“[5]

Religion, so könnte man sagen, ist entwickelte Kultur und damit Teil der Kulturgeschichte. Man könnte aber auch sagen: Gott offenbart sich den Menschen erst im Neolithikum. Seitdem diversifiziert sich Religion, sie unterliegt einer Evolution.[6] Dabei erweisen sich die monotheistischen Religionen als die durchsetzungsfähigsten. In der Gegenwart kann deren „Daseinsfestigkeit“ aber nicht mehr staatlich erzwungen werden[7], sondern ist an die Reproduktionsquote gebunden, die in den westlichen Staaten deutlich geringer ist als in anderen Teilen der Welt.

Ich betone das deshalb, weil man sonst schnell dem verführerischen Gedanken erliegt, Religion sei so etwas wie eine anthropologische Grundbedingung des Menschen, die es nur angemessen anzusprechen gilt, um sie in der Gegenwart oder in der Zukunft erneut zum Erblühen zu bringen. Wenn man Religion nicht auf die rites de passage (die Übergangsriten) reduzieren will, die bereits bei Tieren beobachtet werden können, dann muss man die historische Rahmung von Religion mitbedenken. Ein „Versuch über die Religiosität der Zukunft“ (wie der Untertitel von Stefan Seidels Buch lautet) wird dann nämlich wesentlich schwerer durchzuführen sein. Natürlich kann man versuchen, in den westlichen Gesellschaften an das anzuknüpfen, was Theologen und Soziologen implizite Religion nennen, um daraus später explizite Formen der Religion zu entwickeln. Ich bin aber skeptisch, ob das gelingen wird, der gesamtgesellschaftliche Trend in den westlichen Gesellschaften scheint mir dagegen zu sprechen. Stefan Seidel sieht das anders. Schauen wir auf seine Argumente.


1. Das Leben in säkularen Zeiten [15-33]

Seidel beginnt mit einer phänomenologischen Bestandsaufnahme der Gegenwart westlicher Gesellschaften. Nach der Säkularisierung ist die Religion nicht verschwunden, sondern in diverse Bereiche diffundiert. Dazu gehören spirituelle Aufbruchsbewegungen, aber auch die „entstellten Gestalten“ von Fundamentalismus und religiös begründetem Terrorismus. Die Bindungskraft der großen Kirchen erodiert, weil sie zum einen durch Skandale erschüttert werden, zum anderen aber auch den Menschen ihre formalisierte Spiritualität vorschreiben wollen. Sie haben die Entwicklung zur religiösen Freiheit der Individuen verschlafen. Für die Zukunft bedeute das, dass man nun eine andere Form von Religiosität kultivieren müsse:

„Die zukunftsweisende Religiosität im 21. Jahrhundert könnte eine religionslos gewordene Frömmigkeit sein, die auch neue Formen findet, neue Denkwege geht und Transzendendem (sic) an ungewohnten Orten begegnet. Die großen, oft verbrauchten Worte und Begriffe der traditionellen Bekenntnisse spielen dabei keine vorherrschende Rolle mehr.“ [20]

Zunächst einmal klingt das für mich, um es etwas zugespitzt zu formulieren, nach der Debatte um Tofu-Schnitzel oder Veggie-Burger. Man möchte aus ideologischen Gründen ein neues Produkt unbedingt mit alten Kategorien deuten. Hieß es zunächst, Religion ja, aber kein Christentum (sozusagen die Vegetarier unter den Diskutanten), so heißt es nun, Religiosität ja, aber keine Religion (die Veganer treten auf). Warum hält man aber noch an der Religiosität fest, wenn sie doch jenseits von Bekenntnis und religiösem System ablaufen soll? Der damit unterbreitete Vorschlag lautet ja, um auf meine obige Annäherung zurückzukommen, religionsgeschichtlich vor das Holozän zurückzugehen in jene Zeit des Pleistozän, in der es noch keine systematisierte Religion und keine Götter gab. „Nach der Leere“ heißt also zurück vor die Lehre? Das mag ein weiterer Evolutionsschritt der Religion sein. Man müsste aber doch bedenken, dass sich die geregelte Religion nicht zuletzt in Reaktion auf eine dramatisch wachsende Bevölkerung gebildet hat. Sie ermöglicht es, über die Horde und den lokalen Bereich hinaus, über Religion zu kommunizieren. Diese Form der Vergemeinschaftung, die ja 12.000 Jahre ein Charakteristikum der Menschheit war, bräuchte ein Äquivalent bei den neuen Formen von „Religiosität“.

Wenn es aber darum geht, „dass man wahrnimmt, dass etwas fehlt, wenn das Religiöse gänzlich abhandenkommt“, dann wäre die Frage, ob man diesen Verlust den Menschen als Gefühl erst vermitteln muss oder ob unterstellt wird, dass er bei den Menschen faktisch vorhanden ist. Wolfgang Vögele hat das Problem in einer Besprechung von Andreas Reckwitz‘ „Gesellschaft der Singularitäten“ in diesem Magazin bündig so zusammengefasst:

„Empirie … zeigt, dass die meisten Menschen in ihrer Alltagsethik ohne religiöse Dimension auskommen. Die Wertsetzungen des Kuratierens haben Religiöses und Theologisches eindeutig in die Schmuddelecke von Aberglaube, Sektierertum und Fundamentalismus abgedrängt. ‚Man‘ braucht das nicht mehr.“[8]

Wenn das so ist, dann kann die religiöse Strategie doch nicht darauf hinauslaufen, dass man nun sagt: Aber ihr verliert etwas, wenn ihr nicht religiös seid. Wenn den Menschen Religiosität eben nicht mehr evident ist, nicht mehr eine evidente Lebensnotwendigkeit – und darauf deuten alle Zeichen hin -, dann hilft es nicht, ihnen diese mangelnde Evidenz als Verlust zu verkaufen.

Der Tod, auf den Seidel an dieser Stelle verweist [28f.] und auf den er noch im dritten Kapitel des Buches zurückkommen wird, ist meines Erachtens nicht mehr religionsgenerativ. Ich habe die Befürchtung, dass wir uns hier in einer „Abwehrschlacht“ befinden, die man nur verlieren kann. Tatsächlich arbeitet die Gesellschaft seit Jahrzehnten daran, den Religionen den Tod zu entreißen. Säkulare Trauerredner mögen sich für eine gewisse Zeit an der religiösen Form der Rede orientiert haben, weil sie mit einer Klientel zu tun hatten, die aus der Kirche ausgetreten war, um Geld zu sparen, aber sich vom Religiösen nicht getrennt hatte. Mit der zunehmenden Selbstverständlichkeit eines nicht-religiösen Lebens ist das aber nicht mehr notwendig. Die Begleitung bei dieser Form der rites de passage funktioniert auch ohne Religion. Es gibt, anders als in früheren Zeiten, keine Not mehr, die durch spezifisch religiöse Bearbeitung gewendet werden müsste. Die Mehrheit der Gesellschaft hält noch daran fest, die rites de passage innerhalb der religiösen Institutionen zu begehen, aber weniger aus religiösen, als vielmehr aus gesellschaftlichen Gründen: weil man das so macht. Die Hürde, diese Konvention hinter sich zu lassen, liegt aber niedrig. Je mehr Menschen sie überschreiten, desto plausibler wird das auch für andere. Die Kirchen haben auf dem Gebiet der rites de passage kein Alleinstellungsmerkmal mehr.


2. Der „Gott“ [34-64]

Die Rede von der „Gotteskrise“ ist so lange interessant, wie ein starkes, geradezu patriarchalisches Gottesbild in den westlichen Gesellschaften existiert oder erodiert. Dementsprechend verweist Seidel in diesem Kapitel vor allem auf Wissenschaftler*innen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit diesem Phänomen auseinandergesetzt haben: also Luhmann, Luckmann, Berger, Metz oder Sölle. Das war eine Zeit, in der die Menschen noch Anlass hatten, sich an einem starken Gottesbild zu reiben und demgegenüber ein individuelle(re)s einforderten. Nur scheint mir diese Zeit vorbei, wir begegnen diesem starken theistischen Gottesbild zumindest in der jungen Bevölkerung gar nicht mehr, mithin ist es auch kein Reibungspunkt mehr.

Das Wort „Gotteskrise“ taucht überraschenderweise erst um 1990 in Deutschland auf, hat seinen Höhepunkt kurz nach dem Jahr 2000 und ist nun schon wieder im Verschwinden begriffen. Wir befinden uns sozusagen „nach der Gotteskrise“. Ich werde das am Ende meiner Auseinandersetzung noch einmal akzentuieren, deshalb hier nur thetisch: nicht Gott ist den jungen Menschen heute fraglich, sondern der Mensch selbst. Die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, geht heute ins Leere. Nur ein Abschnitt aus Jean Pauls berühmter Rede erscheint heute noch aktuell:

Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur sein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?[9]

Wie aber steht es um die Religion des Kapitalismus, die Seidel als nächstes erörtert? Dass dieser religiöse (manche würden sagen ersatzreligiöse) Züge angenommen hat, dürfte kaum zu bestreiten sein. Im Augenblick dürften es aber vor allem die Kapitalisten selbst sein, die sich um die Zukunftsfähigkeit ihrer Religion Sorgen machen müssen. Vielleicht erleben wir gerade nicht nur durch Corona, sondern auch durch die Nachhaltigskeits­-Bewegungen und die Klimaaktivist*innen, dass die Religion des Kapitalismus gravierende, wenn nicht sogar dauerhafte Schäden erleidet. Ob ihr eine Transformation zu einem nachhaltigen und ökologischen Kapitalismus gelingt, ist noch nicht absehbar. Zumindest hat die Corona-Krise gezeigt, dass Regelungen, die sich seit 50 Jahren als „Gesetze des Kapitalismus“ etabliert hatten, innerhalb von Tagen umgeworfen werden können. Ob die Menschheit daraus lernt, ist noch nicht abzusehen. Vieles von dem, was Seidel schreibt, beschreibt notgedrungen Szenarien vor der Corona-Krise. Was die Menschen nun lernen, ist, dass man zwar vieles, aber eben nicht alles kaufen kann. Was die Unternehmen lernen, ist, dass Globalisierung auch ihre empfindlichen Schattenseiten hat, dass Auslagerungen und Lieferketten rund um die Welt eben nicht die Lösung sind. Vielleicht kehren wir „danach“, also nach dem Turbo-Kapitalismus, zu etwas normaleren Verhältnissen zurück.[10]

Nach der Religion des Kapitalismus wendet sich Seidel dem „digitalen Himmel“ zu. Innerhalb der Kirchen ist der digitale Hype ja ungebrochen, im Rest der Welt weniger. Nun stammen die Überlegungen von Hartmut Böhme, auf die Seidel sich bezieht, fast noch aus den Anfängen des Internets, als wir noch überwältigt waren von den technologischen Möglichkeiten des Mediums.[11] Aber alle Propheten der damaligen Zeit sind heute stark ernüchtert. Spätestens nach den Enthüllungen von Edward Snowden mag niemand mehr von den religiösen Qualitäten des Internets sprechen, allzu sehr erinnert es jetzt eher an die Schattenseiten der Religion wie Inquisition und Verhaltenskontrolle. Ein Gott ist das Internet nur noch für wenige. „Digitalisierung“ mag dagegen für manche (insbesondere in den Kirchen) noch als Heilsbringer erscheinen, aber wahrscheinlich dürften auch sie irgendwann in die Situation von Goethes Zauber­lehrling geraten: O du Ausgeburt der Hölle! Soll das ganze Haus ersaufen? Seh ich über jede Schwelle doch schon Datenströme laufen. … Willst am Ende gar nicht lassen? Will dich fassen, will dich halten. … Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister werd ich nun nicht los. Und auch hier gilt: Denn als Geister ruft euch nur zu seinem Zwecke, erst hervor der alte Meister.[12]

Schließlich gibt es Menschen, die mit der zunehmenden Komplexität der Lebensverhältnisse nicht zurechtkommen und deshalb zum Fundamentalismus und zur Esoterik neigen. Diesen wendet sich Seidel nun zu. Dass er sie als „Ersatzreligionen“ bezeichnet, behagt mir nicht. Beides gehörte immer zur Religion, es sind keine Ersatz-Religion, sondern bestimmte Erscheinungsformen von Religion. In der Religionswissenschaft jedenfalls wird Esoterik zu den Religionsformen gezählt. Und auch die Fundamentalisten waren ja ursprünglich nur eine traditionalistische Spielart der etablierten Religion. Erst seit 2001 begann man, Fundamentalismus vor allem politisch zu begreifen und auszugrenzen. In der Sache glaube ich, dass sowohl der religiöse Fundamentalismus wie die esoterische Bewegung auf dem Rückzug sind. Die sich von den Amtskirchen bewusst abgrenzenden Freikirchen sind längst liberaler, als sie es vor 30 Jahren sich selbst nicht einmal in ihren Alpträumen hätten denken können. Und die Abstimmung mit den Füßen ist nun gerade nicht zu ihren Gunsten ausgefallen, jedenfalls können sie von der Krise der Amtskirchen nicht profitieren – sie schreien nur lauter. Und auch die Esoterik, die mit dem Millennium ihren Höhepunkt erreicht hatte, wabert auf doch recht armseligen Level vor sich hin.

Ganz und gar nicht überzeugt hat mich der Rekurs auf Thomas Bauers doch etwas arg oberflächliche These von einer zunehmenden Vereindeutigung der Welt.[13] Das ist mir viel zu grobschlächtig konstruiert – zumindest auf dem Gebiet der Bildenden Kunst, auf dem ich mich einigermaßen gut auskenne. Aber auch in den anderen Lebensbereichen sehe ich es nicht. Da hätte ich Stefan Seidel doch lieber Andreas Reckwitz‘ „Gesellschaft der Singularitäten“ zur Gegendiagnose ans Herz gelegt.[14] Der sieht die Welt eher von Singularisierung gekennzeichnet.

Der Theologe Henning Luther, dem sich Seidel dann zuwendet, und den er zu Recht positiv mit seiner Theologie des Fragmentarischen[15] würdigt, hätte, so wie ich ihn kannte, Thomas Bauer sicher klar widersprochen. Und von der Masse hätte er, der das Andere so sehr wertschätzte, nicht so negativ gesprochen. Kulturpessimismus lag ihm ganz sicher nicht. Meines Erachtens ist es aber schwierig, die Theologie des Fragments zu lehren, einfacher schon, sie zu (vorzu)leben.


3. Der Tod [65-86]

Der Tod schien lange Zeit der beste ‚Freund‘ der Religion zu sein. Er war das Faktum, dem sich jeder Mensch ausgesetzt sah und das der Religion so verwandt schien. Seidel verweist hier auf Forscher wie Hermann Müller-Karpe, der die Bestattungsriten des Mittelpaläolithikums als religiös grundierte und sogar in die Götteranbetung eingebettet deutet und hier erste Formen entwickelter Religion erkennen will.[16] Das Problem dieser Deutungen ist, dass sie eben solche sind und sich nicht aus archäologischen Befunden ergeben. Wir haben die Tatsache, dass es Grabriten gab und schließen daraus, dass sie Teil eines religiösen Systems gewesen sein müssen.

„Damit haben die genannten Theorien jedoch den fatalen Nachteil, dass sie im Widerspruch zu den historischen Fakten stehen. Am Anfang der Menschheitsgeschichte findet sich nichts von Göttern, von tempelähnlichen Strukturen für deren Verehrung oder Überresten von zugehörigen Opfern und Riten, sondern etwas ganz anderes: Bestattungen. Die ersten, den Horizont menschlichen Erlebens überschreitenden Ideen beschäftigten sich nicht mit Göttern, sondern mit etwas sehr Menschlichem: mit dem Tod, dem Sterben und dem Begräbnis. Erst 70.000 bis 80.000 Jahre nach diesen ersten Bestattungen tauchen, mit Hinweisen auf Bestattungsrituale, in Anatolien und der Levante Spuren von religiösen Aktivitäten auf, die deutlich machen, dass der Tod nun ganz klar mit Vorstellungen von einem Jenseits verknüpft wird.[17]

Man muss sich dieser Ansicht von Ina Wunn und ihren Kolleg*innen nicht anschließen, aber es bleibt doch problematisch, „einen ursprünglichen Zusammenhang von Todesbewältigung und Religion“ [67] zu postulieren, ohne auf etwas anderes verweisen zu können, als die Bestattungen selbst. Ich verstehe, dass mit der post-säkularen Erweiterung / Aufweichung des Religionsbegriffs sich der Gedanke aufdrängt, auch die Bestattungen der Frühzeit darunter zu fassen, finde es aber eher einen Akt der ahistorischen Eingemeindung. Erst wenn die Bestattungen mit Handlungen für das Jenseits verbunden werden, scheint mir die Schlussfolgerung legitim zu sein.

Die „letzten Bilder“, die Seidel dann im Kontext der Todesthematik anspricht, mögen für viele eine hohe Attraktivität haben, funktionieren aber nur innerhalb eines bestimmten religiösen Narrativs eines ebenso bestimmbaren Milieus. Die Mehrzahl selbst der religiösen Menschen, die ich kenne, pflegt diese Tradition nicht. Wir meditieren heute im Angesicht des Todes weder Christusbilder (wie Luther vorschlägt[18]) noch Engelsbilder. Und gerade die Engelbilder von Paul Klee, die Seidel anführt, mögen spezifisch sein für den Bilderkosmos eines bestimmten, vielleicht sogar spezifisch kirchlichen Milieus, für die breite Masse sind sie es jedenfalls nicht. Was ich zudem problematisch finde, ist die Bedeutungssteigerung von Kunstwerken durch den Rückgriff auf die Lebensumstände des Künstlers: Und ihre letzten Bilder / Worte waren … Das letzte Bild van Goghs, die letzten Bilder Paul Klees, die letzten Worte des Gehenkten – das sind Klischees. Die letzten Bilder, die letzten Worte müssen nicht die Besten sein, sie können völlig daneben liegen. Die Erzählung davon soll dem Tod für die Nachgeborenen den Schrecken nehmen, aber sie geben den Werken eine Bedeutung, die nicht in ihnen selbst begründet ist. Theodor W. Adorno hat dies in seinen Notizen zu Mahler bitter so formuliert: „Alles sind letzte Worte. Der gehenkt werden soll, schmettert heraus, was er noch zu sagen hätte, ohne dass einer es hört. Nur dass es gesagt wird.“[19] Stattdessen käme es darauf an, in den Bildern das zu zeigen, was an ihnen überdauert: „Durch Dauer erhebt Kunst Einspruch gegen den Tod“.[20] Kunst ist nicht das Eintrittstor zur metaphysischen Welt, sondern Protest gegen den Tod.[21]

Die Wahl Paul Klees scheint mir zudem ähnlich willkürlich zu sein wie Paul Tillichs Hervorhebung von Pablo Picassos „Guernica“ oder in den Jahrzehnten davor seine Favorisierung des Expressionismus. Es gibt in der visuellen Kultur der letzten beiden Jahrzehnte viele eindrückliche Auseinandersetzungen mit dem Tod, ohne freilich die Grenzen des jeweiligen Milieus zu überschreiten.

Seidel greift anschließend unter Verweis auf Wolfgang Ullrich[22] die konstitutive Unschärfe auf, die in der Kunst seit der Romantik ein Teil der Moderne wurde.[23] Dieser Verweis auf die Unschärfe hat mich gewundert, steht er doch im diametralen Gegensatz zur wenige Seiten vorher noch aufgegriffenen These von Thomas Bauer, nach der die Kunst der Moderne durch eine zunehmende Vereindeutigung gekennzeichnet sei. Hier muss man sich schon entscheiden. Mit Wolfgang Ullrich und vielen anderen Kunstwissenschaftlern würde ich für die Offenheit der Bilder plädieren, sehe aber überhaupt nicht, inwiefern das etwas mit dem Gedanken der Transzendenz zu tun haben sollte. Nur weil Kunstwerke grundsätzlich „offene Kunstwerke“ sind, sind sie keine Fenster zur Transzendenz.[24] Ich weiß, dass Kolleg*innen insbesondere der katholischen Theologie das anders sehen[25], aber auch hier finde ich es mehr eine Investition des Betrachters in das Bild als eine wirklich Seh- und Leseerfahrung.


4. Das Wort [87-104]

Das vierte Kapitel wendet sich den literarischen und poetischen Versuchen zu, neue Wege zum Religiösen zu eröffnen. Das hat eine längere theologische Tradition, die nicht zuletzt mit Namen wie Karl Josef Kuschel[26] oder Erich Garhammer[27] verbunden ist. Die Begegnung von Literatur und Religion bzw. Theologie ist nicht mein Spezialgebiet, deshalb kann ich dazu nicht viel sagen. Es gibt ohne Zweifel hunderte bedeutender Literaten und Lyriker, in deren Oeuvre Religion das außerästhetische Substrat ist, das sie für die poetische Formbildung nutzen. Das ist für religiöse Menschen auf- und anregend. Aber „Glaubwürdig“[28] wird es vor allem dann, wenn wir diese Gespräche mit den Zweiflern, den Atheisten, den Säkularen und den Grenzgängern führen, in deren Werk wir nicht gleich das Eigene im Fremden entdecken. Wir sollten „nicht vom Schlag einer Theologie [sein], die schon aufatmet, wenn ihre Sache überhaupt verhandelt wird, gleichviel wie das Urteil ausfällt, als ob am Ende des Tunnels metaphysischer Sinnlosigkeit, der Darstellung der Welt als Hölle das Licht hereinschiene“.[29]

Was ich mich frage ist, was der Rekurs auf die religiös inspirierenden Motive in der Literatur für die Religion austrägt. Ich bin groß geworden mit Pfarrern, deren Lieblingslektüren und Lieblingszitate solche aus Werken von Bertolt Brecht, Max Frisch und Kurt Marti waren.[30] Vermittelt wurde mir damit, dass es wichtig ist, sich mit Literatur auseinanderzusetzen, weniger, dass meine Religion wichtig ist, weil sie in der Literatur vorkommt. Aber vielleicht bin ich da eine Ausnahme.


5. Die Würde [105-121]

In diesem Kapitel geht es vor allem um die Genese der Begründung der Menschenwürde, später dann auch um die Tierwürde. Es gibt eine längere Tradition, die Menschenwürde aus der christlichen Lehre abzuleiten. Seidel verweist hier auf den Philosophen Hans Joas, der unter der Überschrift „Die Sakralität der Person“[31] der religiösen Genese der Vorstellung der Menschenwürde nachgeht. Daran ist viel Richtiges. Wenn man sorgfältig die religiöse Praxis und die Implikationen religiöser Lehre unterscheidet, dann sind die, die mit Emphase das Konzept der Menschenwürde ausformuliert haben, ohne Zweifel christlich inspiriert. Durchgesetzt werden musste dieses Konzept allerdings allzu häufig gegen die Interventionen der christlichen Kirchen. Joas lässt es aber nicht dabei bewenden, sondern er möchte zudem das fortdauernde „innovative Potential des Religiösen aufzeigen: dass der Glaube an das Leben als Gabe und die unsterbliche Seele ein wichtiger Motor für die Bewahrung der Würde des Menschen sein kann“, ja mehr noch, dass es „möglichweise in tieferen und deshalb haltbareren Schichten des menschlichen Bewusstseins angesiedelt ist als das Vertrauen in die rational begründeten neuzeitlichen Menschenrechte“ [107]. Demgegenüber haben, darauf verweist Seidel, säkulare Theoretiker wie Bijan Fateh-Mogdadam und seine Kollegen unter der Überschrift „Säkulare Tabus. Die Begründung von Unverfügbarkeit“[32] Joas widersprochen und beharrt, dass „mit der Umstellung des Rechts und der Moral auf postkonventionelle Modi der normativen Rechtfertigung … Religion und Tradition ihre legitimierende Kraft verloren“ haben. Auch Seidel sieht im säkularen Konzept die größere Tragfähigkeit gegeben, möchte aber doch wenigstens die Erinnerung an die die religiöse Spur gewahrt sehen, die zu den Menschenrechten geführt hat. Der weitere Teil des Kapitels wendet sich exemplarisch den Tierrechten zu.


6. Die Ehrfurcht [122-132]

Wie könnte sich eine tiefenökologische Religiosität entwickeln? Das ist die Frage des sechsten Kapitels, das zunächst die entsprechenden Überlegungen Albert Schweitzers dazu aufgreift. Die Ehrfurcht ist hier also die „Ehrfurcht vor dem Leben“[33].

Mein Problem an dieser Stelle ist nur, dass genau diese Frage der ökologisch orientierten Religion innerhalb der Kirchen seit Jahrzehnten ihren fest etablierten Ort hat, ja, dass diese hier im Blick auf den Rest der Gesellschaft geradezu vorbildlich wirken. Natürlich kann man mit dem Youtuber und ZEIT-Kolumnisten Rezo fragen, warum das nicht besser kommuniziert wird,[34] aber man braucht an dieser Stelle nicht auf eine allgemeine religionslose Religiosität auszuweichen, sondern kann an den bewährten ökumenischen Weg des Konziliaren Prozesses seit 1983 anknüpfen.

Die andere Frage wäre aber auch die, wie viel von der ökologischen Katastrophe der Gegenwart und wie viel vom Klimawandel auf das dem Christentum eigentümliche heilsgeschichtliche Fortschrittsdenken zurückzuführen ist. Der Wachstumsgedanke, die permanente Orientierung nach vorne anstelle des Eingedenkens der Geschichte (dass es ‚so weitergeht‘ ist die Katastrophe[35]), ist ja eines der Probleme des (protestantischen) Christentums.


7. Die zerspringende Diesseitsrinde [133-144]

Das letzte Kapitel bündelt die bisherigen. Die erklärungsbedürftige Überschrift des Abschnitts stammt aus dem Gedicht „FÜR JETZT NOCH NICHT“ der Ordensschwester und Schriftstellerin Silja Walter.[36] Darin heißt es:

Glaubst du, dann bist auch du darin im
Heutehierundjetzt,
dem stunden- und dem ortelosen Ort auf Erden,
an dem die dicke Diesseitsrinde
ein für allemal zersprang
und sich der schwere Stein davor
von selbst zur Seite drehte -
und du bist Magdalena. ….

Dort riß die dicke, dunkle Diesseitsrinde
wohl in der dritten Nacht
wie ein Behang
entzwei

In dem ganzen Gedicht geht es um eine poetische Deutung dessen, was Matthäus 28, 2f. für die Welt und für uns heute bedeutet. Die ‚Diesseitsrinde‘ ist die Profanität der Welt, in die mit der Auferstehung Jesu ein Riss kommt. Ich war etwas überrascht, dass Seidel diese Formulierung von der „zerspringenden Daseinsrinde“, die ja zudem bei Walter sogar eine „dunkle Daseinsrinde“ ist, für das Schlusskapitel gewählt hat. Denn im Gedicht geht es nun doch eigentlich um traditionelle Glaubenstatsachen, weit entfernt von einer Religiosität jenseits der Religion. Ich sehe hier nun gerade keine Verflüssigung der Religion ins Religiöse, sondern eher eine poetisch modifizierte Hinwendung zur traditionellen Verkündigung. Es ist quasi wie ein Christusbild in der Kunst des 21. Jahrhunderts,[37] durchaus möglich, aktuell nur noch selten vorfindlich, und wenn doch, dann eher randständig.

Anders ist der Entdeckungszusammenhang in Patrick Roths Erzählung „Mulholland Drive: Magdalena am Grab“[38], bei der in der biblischen Erzählung selbst etwas entdeckt wird, das bis dahin nicht im Blickfeld der christlichen Ausleger lag. Der Bibeltext enthält eine Leerstelle, die nur dann gefüllt werden kann, wenn die Leser*innen die Figuren anders agieren lassen, als es im Bibeltext steht.

Die geradezu wortwörtliche Textbegehung, die Patrick Roth seine Figuren vornehmen lässt, schafft nun tatsächlich Einblicke in das Außergewöhnliche, das sich (literarisch) mit der Auferstehung ereignet. Und insofern Roth dies im Kontext Hollywoods macht, ist es auch noch anschlussfähig an die populäre Kultur der Gegenwart.

Ich finde es interessant, wie die dann von Seidel im Anschluss an Hans Joas skizzierte „Macht des Heiligen“[39] jenen Formen des Religiösen bzw. Proto-Religiösen ähnelt, welche die Menschen vor dem Holozän, also im Pleistozän pflegten. Also eine im Wesentlichen auf rituelle Handlungen basierende, noch nicht zur systematischen Ausgestaltung gelangte Form des Weltumgangs, basierend auf Übergangsriten und symbolischer Kommunikation. Diese Formen sind noch nicht organisierte Religion,[40] sondern binden allenfalls kleine Gruppen. Vielleicht verläuft die Evolution der Religionen so, dass nach dem Ende der Großerzählungen[41] eine radikal individuierte Gestalt des Religiösen, die aber dann auch nicht breit als Religion kommunizierbar wäre, weil sie in Singularitäten aufgelöst wäre, sich entwickelt.

Das Problem dabei scheint mir, dass dies als „Insellösung“ der westlichen Zivilisationen da auf Grenzen stößt, wo im Weltmaßstab die Großerzählungen weiter funktionieren – ja sich ausbreiten. So mag die skizzierte religionslose Religiosität ein westliches Modell sein, aber keines der gesamten Menschheit. Es sei denn, man denkt den Westen als Avantgarde – davon sollten wir uns freilich verabschiedet haben.

Den westlichen Kirchen wird in diesem Modell (nur) die Rolle des Mythenlieferanten zugewiesen, die die religionslos Religiösen dann verflüssigen können. Die herangezogene Lyrik von Silja Walter soll als Beispiel dafür dienen. Ob das dann wirklich ein Tor zu Gott öffnet? War das nicht schon der Versuch der deutschen Romantik – vor 200 Jahren? Wie dichtete 1800 schon Novalis:

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freye Leben
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu ächter Klarheit werden gatten,
Und man in Mährchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt vor Einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.[42]

Und dennoch kam erst danach die Rationalisierung, Industrialisierung und Kolonisierung der Lebenswelten. Ein Heilmittel scheint die Poetisierung der Welt nicht zu sein.


Auf dem Absprung: Gott im Angesicht des Anthropozäns

Wenn ich die Erkenntnisse aus dem Buch von Stefan Seidel bedenke, dann erscheint es mir als ein durchaus gelungener Versuch, den mit der Religion bereits verbundenen Menschen der westlichen Welt die fortdauernde Attraktivität des Religiösen einsichtig zu machen und Spuren des Religiösen in der Welt der Kultur aufzuzeigen.

Diese Spuren stammen allerdings vor allem aus der Hochkultur und gehören zur klassischen Selbstverständigung des Kulturbürgertums. Das Buch sagt zu diesem Milieu, zu dieser Klientel: Es macht Sinn religiös zu sein, mehr Sinn, als man auf den ersten Blick wohl meinen könnte. Zugleich schlägt es vor, den Begriff der Religion zu liberalisieren, ihn damit aber auch aufzuweichen. Denn der ja auch klar benannte Preis für diese Bewegung ist die Abkehr von einem offenbarungstheologisch orientierten Christentum. Die Bibel und die daraus gezogenen Lehren der Kirche(n) spielen eine nachgeordnete Rolle. Anders als manch andere liberale Theolog*innen grenzt sich das Buch aber an verschiedenen Stellen von der Massenkultur, allgemein von der Masse ab und kann in deren alltagsweltlichen Ritualisierungen nur „Ersatzreligionen“ erkennen. Da greift es meines Erachtens zu kurz. Wenn man schon den liberalen Weg geht, sollte man sich auch hier offen zeigen.[43]

Was das Buch nicht schafft, ist, eine Rede über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern[44] zu sein. Es bündelt viele Reflexionen aus dem unmittelbaren Umfeld der christlichen Religion, greift dabei aber zu sehr auf Akteure aus dem Inner Circle zu (Literatur von Pfarrern oder Ordensschwestern) und setzt damit eine Sprache voraus, die jenen, die der Religion skeptisch gegenüberstehen, nicht entgegenkommt, ja sie ausgrenzen muss. Der „Kunstpater“ Friedhelm Mennekes hat in seinen Gesprächen mit Bildenden Künstlern, die ja oftmals heftige Atheisten sind, einen anderen Weg eingeschlagen.[45] Er hat sich ganz auf sie eingelassen und dann gefragt, ob es nicht dennoch Gemeinsamkeiten gibt. Das ist für mich, wenn man einen Ansatz der Plausibilisierung von Religion verfolgt, der sinnvollere Weg.

Wer den Spuren folgt, auf die Stefan Seidel verweist, ist dagegen meist schon ein Einwohner des religiösen Kosmos. Er wird vermutlich aber auch in einem anderen Lebensabschnitt sein als die jungen Menschen, die es doch langfristig zu überzeugen gilt. Und das finde ich ein zentrales Problem des Buches. Auch als Älterer bekomme ich von den Jugendwelten doch so viel mit, dass ich weiß, dass mit all dem große Teile der jungen und jüngsten Generation wenig anfangen können.

Wenn ich die Musik der gerade 19 werdenden Billie Eilish höre, bei der religiöse Stoffe ja durchaus als frei flottierendes Material auftauchen, dann spielt sie doch in einem anderen Universum.[46] Längst steht dort nicht mehr die Religion in Frage, sondern die gesamte Menschheit: Man is such a fool / Why are we saving him? Scheint es nicht so, als ob Gott sich angesichts des Anthropozäns (also seit 1800) endgültig von der Menschheit abgewandt hat? So könnte der Pre-Chor in Eilishs Song „All the good girls go to hell” die Haltung Gottes spiegeln: Hills burn in California / My turn to ignore ya / Don‘t say I didn‘t warn ya.

Das koinzidiert mit dem allgemeinen Sprachgebrauch. Das Heilige verschwindet aus der Welt, weniges führt einem das dramatischer vor Augen als der Blick auf Googles NGram-Viewer (1600-2019) oder wenn man es etwas seriöser mag, auf die Wortstatistik des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache (1600-1999):

Nur wenn man den Blick einschränkt auf die letzten 20 Jahre, dann scheint es eine minimale Renaissance des „Heiligen“ zu geben, aber es ändert den großen Trend nicht.

Nun kann man dem verschieden begegnen. Ein Versuch der katholischen Theologie im 20. Jahrhundert war, mit dem „Untergang des Sakralen“ zu leben oder sich die Profanität durch Deutung anzueignen. 1967 erschien das Buch „Das Sakrale im Widerspruch“, das von diesen Bemühungen zeugt:

Ich bin profan" — so bekennt ein Psalmendichter unserer Tage, und er trifft damit wesentlich die Gegebenheit unserer Zeit. Als ent- oder desakralisiert hat man unsere Gegenwart gekennzeichnet. Wir befinden uns in einem fortschreitenden Prozess, der das zu bestätigen scheint. Es ist wohl wirklich so, dass wir das Profane an die erste Stelle gerückt haben und damit an das Absurde, an das Nichts in unserer Geistigkeit herangekommen sind. In weiten Bereichen sind wir so in einen ‚Widerspruch‘ zum Sakralen geraten.
     Und dennoch erhebt sich die Frage — und sie wird hier gestellt —, ob damit wirklich das Sakrale aus unserm Dasein eliminiert wurde, ob wir seiner nicht mehr bedürfen? Hat sich vielleicht — eine späte Erkenntnis — die Entsakralisierung schon damals zugetragen, als Jesus von Nazareth vom Kreuze die Worte ausstieß: Es ist vollbracht, ein Vorgang, den der Apostel in die Worte kleidet: „Er hat aus beiden eins gemacht, indem er Frieden stiftete und die beiden in seinem Leib mit Gott versöhnte durch das Kreuz" (Eph 2,16)? Lässt sich in diesem Heilsvorgang auch das Einswerden von sakral und profan verstehen? Gibt es seitdem eine neue Seinsweise des Profanen, die zugleich das Sakrale miterfasst? Andererseits lässt sich nicht leugnen, wir begegnen noch dem Sakralen, es berührt uns, es geht uns an, es bewegt und ergreift uns, man denke nur an manche Schöpfung moderner Kunst oder der neuen Musik, ganz abgesehen von dem ihm zukommenden Bezirk des Sakramentalen. Es bedarf deshalb doch einer neuen Sicht beider Größen, die sich uns vielleicht anders darstellen, als es bisher der Fall war, als es bisher der Fall sein konnte, weil die Welt, in der wir leben, diese technisierte, automatisierte Welt, eine andere geworden ist.“[47]

Das sind Reflexionen, die bereits über 50 Jahre alt sind. Und weitere zehn Jahre vorher hatte der Schweizer reformierte Theologe und Schriftsteller Kurt Marti mit Blick auf die Künste seine Deutung so formuliert: Jesus Christus sei die Befreiung zur Profanität.[48] Wenn beide Überlegungen Richtiges treffen, dann wäre die explizite Suche nach dem Heiligen oder dem Sakralen gerade nicht der richtige Weg. Die Frage der katholischen Kollegen Gibt es seitdem eine neue Seinsweise des Profanen, die zugleich das Sakrale miterfasst? wäre auch seitens der Kirchen neu zu reflektieren.

Meine Frage wäre es daher, ob es nicht plausibler wäre, eine konsequente Bejahung der Säkularität dergestalt mit der biblischen Erzählwelt zu verbinden, dass sich deren Aktualität und Sprachfähigkeit in der Säkularität erweist. Das wäre zugleich ein konsequentes Programm der Theologie des Narrativen biblischer Texte und Lehre. Also gerade keine religionslose Religiosität, sondern den Differenzierungsgewinn der Moderne in Sachen Säkularisierung begrüßen und zugleich das Ureigenste des Christentums: die Erzählung vom Kommen Gottes in diese Welt prononciert fruchtbar zu machen. So wären die biblischen Erzählungen von der Diversität[49] neu zu entdecken und zu pflegen, ähnlich wie die 68er-Bewegung die biblischen Erzählungen von Amos und Hosea für ihre Zeit neu entdeckt und gepflegt hat oder wie die Post-68er die Krise der Weisheit in Gestalt des Hiob-Buches für sich entdeckte.[50] Das wäre kein Programm „Nach der Leere“, sondern zurück zur Fülle und Breite biblischer Überlieferung.

Anmerkungen

[1]    Das Wort „Daseinsfestigkeit“ hat mich irritiert. Ich wusste zunächst nicht, was ich darunter verstehen soll. Die Recherche zeigt einen gewissen Höhepunkt im Gebrauch des Wortes in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Wenn er mehr sein sagen soll, als bloße Beständigkeit oder Standfestigkeit, wäre er erläuterungsbedürftig. Gefunden habe ich einen Kontext, der zum Buch passt, aber aus dem Munde eines esoterischen Christen stammt, dem Franzosen Paul Sédir. Beim ihm heißt es. „Indessen, ein gemeinsamer Zug verknüpft sie (die Religionen), ein schicksalhafter Wesenszug, ohne den sie eben keine Religionen mehr wären: das ist der Formalismus! Ihm verdanken sie ihre Daseinsfestigkeit, aber er ist es auch, der ihre geistige Entwicklung begrenzt. Durch die Riten empfangen die Religionen die Kraft, den Stürmen der Jahrhunderte und der sozialen Bewegungen zu widerstehen; durch die Riten hält die unermeßliche Mehrheit der Gläubigen ihren schwachen Willen aufrecht; durch die Riten erhalten die unsichtbaren Hierarchien, die Verbindungsglieder zwischen den Gläubigen und ihrem Gott, eine zusätzliche Nahrung.“

[2]    Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, 1808. Studierzimmer, Mephistopheles zu Faust

[3]    Ina Wunn, Religion und steinzeitliche Kunst. Die Höhlenmalerei als Spiegel der jungpaläolithischen Geisteswelt. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft (2000) 8, S. 193–211, S. 210.

[4]    Frisch, Max (1979): Der Mensch erscheint Im Holozän. Eine Erzählung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[5]    Wunn, Ina; Urban, Patrick; Klein, Constantin (2015): Götter - Gene - Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung. Berlin: Springer Spektrum (Sachbuch)., S. 177.

[6]    Vgl. Wunn, Ina (2018): Barbaren, Geister, Gotteskrieger. Die Evolution der Religionen – entschlüsselt. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg (SpringerLink : Bücher).

[7]    Auf diese Überlegung bin ich durch ein wunderbares Zitat des deutschen Verwaltungsbeamten und Verfassers kirchenrechtlicher Studien Emil Wilhelm Klee (1806-1855) gekommen: „Das Leben der einzelnen Gemeinden sollte selbst darin seine innere und äußere Haltung haben, damit die Kirche unabhängig von der Gesinnung der Einzelnen und der Gemeinden das Reich Gottes als eine bleibende Wirklichkeit des menschlichen Daseins darstellte, in welchem der ewige Prozess des Baues an diesem Reich selbst seinen unverrückten Fortgang haben soll. Solche Festigkeit des Daseins, solche das Einzelne zusammenfassende Totalität hat die Kirche erst von dem Moment an erlangt, wo sie sich mit derjenigen Organisation des menschlichen Lebens verband, die in der Notwendigkeit ihrer Existenz ein unverrückbares Fundament des Daseins, und eben darin zugleich die Fülle der Macht über die Bedingungen der zeitlichen Existenz hat, d.i. der Staat.“

[8]    Vögele, Wolfgang (2020): Singularisierung, Säkularisierung oder sichere Schrumpfung? Eine Auseinandersetzung mit Andreas Reckwitz‘ These von der Singularisierung. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 22, H. 125. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/125/wv059.htm.

[9]    https://www.theomag.de/11/jp1.htm

[10]   Vgl. dazu aktuell Kluge, Alexander (2020): Wir sind aus- und wieder angeschaltet worden. Das Virus als Algorithmenkönig. Ein philosophischer Briefwechsel mit Giorgio Agamben, F.A.Z. 28.11.2020, online unter https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/alexander-kluges-brief-an-giorgio-agamben-zu-sars-cov-2-17071973.html

[11]   Böhme, Hartmut (1996): Die technische Form Gottes. Über die theologischen Implikationen von Cyberspace. Neue Zürcher Zeitung, 13./14.4.1996, S. 53

[12]   Johann Wolfgang von Goethe (1822) Der Zauberlehrling (entstanden 1797).

[13]   Bauer, Thomas (2018): Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. 3., erneut durchgesehene Auflage. Ditzingen: Reclam (Was bedeutet das alles?, Nr. 19492).

[14]   Reckwitz, Andreas (2018): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. 6. Auflage. Berlin: Suhrkamp.

[15]   Luther, Henning (1992): Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen. In: Henning Luther: Religion und Alltag. Bausteine zu einer praktischen Theologie des Subjekts. Hg. v. Gerd Otto. Stuttgart: Radius-Verl. (Radius-Bücher), S. 160–182.

[16]   Müller-Karpe, Hermann (1976, 1974): Geschichte der Steinzeit. 2. Aufl. München: Beck (Beck'sche Sonderausgaben). Müller-Karpes Buch krankt vor allem an der Tatsache, dass seine Schlussfolgerungen aus einer Zeit stammen, in der die wichtigsten Höhlen mit Höhlenmalereien noch gar nicht entdeckt waren. Die Chauvet-Höhle wurde erst 1994 entdeckt, die Cosquer-Höhle 1985. Die El-Castillo-Höhle mit den ältesten bekannten Malereien wird im Buch nicht berücksichtigt. Zudem bekennt sich Müller-Karpe ja dezidiert zu einer „geistesgeschichtlichen Sicht des Urmenschen“, für ihn ist die theistische Ausrichtung der frühen Geschichte bereits vorentschieden. In seinem Spätwerk berücksichtigt er nur die Chauvethöhle, deutet sie aber durch die Augen des katholischen Priesters und Prähistorikers Henri Breuil. Vgl. dazu kritisch: Wunn, Ina (2000): Religion und steinzeitliche Kunst. Die Höhlenmalerei als Spiegel der jungpaläolithischen Geisteswelt. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft (8), S. 193–211.

[17]   Wunn, Ina; Urban, Patrick; Klein, Constantin (2015): Götter - Gene – Genesis, a.a.O.

[18]   Luther, Martin (1519): Sermon von der Bereitung zum Sterben.

[19]   Adorno, Theodor W. (2003, 1960): Mahler. Eine musikalische Physiognomik, Gesammelte Schriften 13, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 309.

[20]   Adorno, Theodor W. (2014, 1970): Ästhetische Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 48.

[21]   Am Eindrücklichsten ist xder künstlerische Protest gegen den Tod wohl von Bazon Brock aus Anlass des Todes von Siegfried Kracauer formuliert worden: „Diese klägliche Bereitschaft, die Leiche zu akzeptieren, wenn sie nun einmal da ist; dieses verdammte Eingeständnis der natürlichen Determination: das sei der Lauf der Welt. Die Natur las-sen wir da "zu ihrem Recht kommen" als das Stückchen Dreck, als die Handvoll zermahlenen Staubs. Stoffwechsel heißt man diese Schweinerei, mal in den Nachttopf, mal in die Urne. Ein Geschäftchen machen, der Tod ist ein schweres Geschäft. Schwer sagt man, aber doch unabänderlich. Jedem seine Zeit zum guten Maß. Am Ende sei doch alles gleich, niemand könne übers Grab hinaus. Wenn das auch in finsteren Zeiten als Drohung der Religion gegen die Herr-schaften manchen Sinn gehabt haben mag, so hat das längst seinen Sinn nicht mehr, ist nicht mehr rationalisierbar, es sei denn als Drohung der Herrschaften gegen die Abschaffung des Todes. Denn der Tod muß abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muß aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter an der Solidarität aller Menschen gegen den Tod. Wer sich hinreißen läßt aus noch so verständlichen Gründen, aus Anlaß des Todes Siegfried Kracauers ein rührendes Wort zu sprechen, eine Erklärung anzubieten, die Taten aufzuwiegen, die Existenz als erfüllte zu beschreiben, der entehrt ihn, läßt ihn nicht besser als die Mörder in die Kadaververwertungsanstalt abschleppen. Wer den Firlefanz, die Verschleierungen, die Riten der Feierlichkeit an Grabstätten mitmacht, ohne die Schamanen zu ohrfeigen, dürfte ohne Erinnerungen leben und sich gleich mit einpacken lassen“. http://www.bazonbrock.de/werke/detail/?id=579

[22]   Ullrich, Wolfgang (2003): Die Geschichte der Unschärfe. 2. Aufl. Berlin: Wagenbach.

[23]   Grundlegend dazu Robert Rosenblum (1981): Die moderne Malerei und die Tradition der Romantik. Von C.D. Friedrich zu Mark Rothko. München: Schirmer-Mosel

[24]   Vgl. Franz, Erich (Hg.) (1992): Das offene Bild. Aspekte der Moderne in Europa nach 1945. Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte; Museum der Bildenden Künste; Das offene Bild. Stuttgart: Ed. Cantz.

[25]   So etwa Rombold, Günter (1998): Ästhetik und Spiritualität. Bilder, Rituale, Theorien. Stuttgart: Verl. Kath. Bibelwerk.

[26]   Kuschel, Karl-Josef (Hg.) (1985): Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen. 12 Schriftsteller über Religion und Literatur.

[27]   Garhammer, Erich (2018): Erzähl mir Gott. Theologie und Literatur auf Augenhöhe. 1. Auflage. Würzburg: Echter.

[28]   Schwebel, Horst (1979): Glaubwürdig. Fünf Gespräche über heutige Kunst und Religion mit Joseph Beuys, Heinrich Böll, Herbert Falken, Kurt Marti, Dieter Wellershoff. München: Kaiser.

[29]   Adorno, Theodor W. (2014, 1970): Ästhetische Theorie, a.a.O., S. 230.

[30]   Vgl. Grözinger, Elisabeth (1992): Dichtung in der Predigtvorbereitung. Zur homiletischen Rezeption literarischer Texte, dargestellt am Beispiel der "Predigtstudien" (1968-1984) unter besonderer Berücksichtigung von Bertolt Brecht, Max Frisch und Kurt Marti. Frankfurt am Main, New York: P. Lang.

[31]   Joas, Hans (2017): Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung. Berlin: Suhrkamp.

[32]   Fateh-Moghadam, Bijan (2015): Säkulare Tabus. Die Begründung von Unverfügbarkeit. Erste Auflage. Berlin: Matthes & Seitz (Fröhliche Wissenschaft, 065).

[33]   Schweitzer, Albert (2020): Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten. 11. Auflage. Hg. v. Hans Walter Bähr. München: C.H. Beck.

[34]   Rezo (2019: Traue dich, o Christenheit!, online unter https://www.zeit.de/kultur/2019-12/klimawandel-kirche-klimaschutz-positionierung-bischofskonferenz-rezo/komplettansicht

[35]   Walter Benjamin (1991): "Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus"; Zentralpark, 1937, in:  Gesammelte Schriften. 1. Band. Herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S. 683

[36]   Walter, Silja; Wolitz, Ulrike (Hg.) (2003): Lyrik. Freiburg, Schweiz: Paulusverlag (Gesamtausgabe Bd. 8).

[37]   Rombold, Günter; Schwebel, Horst (1983): Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Eine Dokumentation. Freiburg/Br.: Herder. Die bisher vorgelegten Versuche zum 21. Jahrhundert überzeugen mich nicht: Gärtner, Claudia (2010): Jesus Christus - in der Gegenwartskunst ohne Zuspruch und Anspruch? In: impulse (95), S. 4–9.

[38]   Roth, Patrick (2012, 2002): Magdalena am Grab. 6. Aufl. Frankfurt am Main [u.a.]: Insel-Verl.

[39]   Joas, Hans (2013): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. 3. Auflage. Berlin: Suhrkamp.

[41]   Lyotard, Jean-François (Hg.) (2012): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. 7., überarb. Aufl. Wien: Passagen-Verl.

[42]   Novalis (1960-1988): Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. 6 Bände. Hg. v. Paul Kluckhohn und R. H. Samuel. Stuttgart: W. Kohlhammer. Bd. 1, S. 344

[43]   Gräb, Wilhelm (2002): Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft. Gütersloh: Kaiser Gütersloher Verl.-Haus.

[44]   Schleiermacher, Friedrich Daniel (2004, 1799): Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern: Meiner, F.

[45]   van der Grinten, Franz Joseph; Mennekes, Friedhelm (1985): Menschenbild, Christusbild. Auseinandersetzung mit einem Thema der Gegenwartskunst. 2. Aufl. Stuttgart: Verl. Kath. Bibelwerk. van der Grinten, Franz Joseph; Mennekes, Friedhelm (1985): Mythos und Bibel. Auseinandersetzung mit einem Thema der Gegenwartskunst. Stuttgart: Verl. Kath. Bibelwerk; Verlag Katholisches Bibelwerk. van der Grinten, Franz Joseph; Mennekes, Friedhelm (1987): Abstraktion - Kontemplation. Auseinandersetzung mit e. Thema d. Gegenwartskunst. Stuttgart: Verl. Kath. Bibelwerk.

[46]   Mertin, Andreas (2020): All the good girls go to hell. Die Enden der Religionskritik in der Popkultur. In: Loccumer Pelikan (3), S. 83–87. Online verfügbar unter https://www.rpi-loccum.de/material/pelikan/pel3_20/3-20_Mertin

[47]   Bogler, Theodor (Hg.) (1967): Das Sakrale im Widerspruch. Gesammelte Aufsätze. Maria Laach: Ars Liturgica.

[48]   Marti, Kurt (1958): Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität. In: Evangelische Theologie (8), S. 371–375.

[49]   Mertin, Andreas (2020): Wie in einem dunklen Spiegel, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Erkundungen in Sachen Rassismus, Kunst, Kult, Hautfarbe und Bibel I. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 22, H. 126. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/126/am704.htm. Mertin, Andreas (2020): Äthiopier, Eunuch, Hofbeamter Erkundungen in Sachen Rassismus, Kunst, Kult, Hautfarbe und Bibel II. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 22, H. 126. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/126/am703.htm.

[50]   So verstehe ich die vielfachen Bemühungen von Jürgen Ebach, z.B. Ebach, Jürgen (1984): Leviathan und Behemoth. Eine biblische Erinnerung wider die Kolonisierung der Lebenswelt durch das Prinzip der Zweckrationalität: Schöningh Paderborn. Ebach, Jürgen (1987): Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag. Ebach, Jürgen (1994): Hiobs Post. Gesammelte Aufsätze zum Hiobbuch, zu Themen biblischer Theologie und zur Methodik der Exegese: Neukirchener.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/128/am717.htm
© Andreas Mertin, 2020