Im Labyrinth der Spiegel

Versuch, eine Zeitschrift zu verstehen und ihrem Herausgeber zum Geburtstag zu gratulieren

Wolfgang Vögele

Fürchtest du ein Lied, ein Bild?
Richard Wagner

1.    Spiegelkabinett

Der Herausgeber der Zeitschrift „tà katoptrizómena“ feiert einen runden Geburtstag, und um ihm zu gratulieren, will ich einen weiteren Versuch unternehmen, den Titel der Zeitschrift aufzuklären, das Bild, besser Bildfeld von spiegeln, Spiegel, Spiegelungen zu erläutern und mit dem Titel in Beziehung zu setzen. Die griechische Wendung, die für den Titel herhält, ist biblischen Ursprungs, wird aber grammatisch sofort vom männlichen ins neutrale Genus verwandelt. Wer in den Spiegel schaut, der kann sich schnell täuschen, aber auch Entdeckungen machen wie in den Spiegelkabinetten zu lernen wäre, die früher auf Jahrmärkten für kindliche Besucher ihre Pforten öffnen.

Deswegen soll dieser Essay das intellektuelle Äquivalent eines Kindergeburtstags sein: Patenonkel oder Großmütter haben dem Geburtstag feiernden Kind und seinen Freunden im Voraus Eintrittskarten gekauft, um dann am Feiertag auf dem Jahrmarkt das Spiegelkabinett zu besuchen.

Ich nehme also zuerst den Jubilar und dann die Schar seiner Leser – selbstverständlich gratis - mit auf den Weg ins kulturelle Labyrinth der Spiegel.

2.    Moses‘ Rückspiegel

Der Titel der Zeitschrift ist neutestamentlichen Ursprungs, er findet sich in einer wichtigen Passage des 2.Korintherbriefs (2Kor 3,12-18). Um den Unterschied zwischen Gesetz und Glauben zu erläutern, bedient sich Paulus des Bildes vom Spiegel. Und im Kontext dieser Spiegelungspassage tauchen zwei wichtige Stichworte auf, die sich auch auf die Zeitschrift beziehen lassen: parrhesia (v. 12) und eleutheria (v.17). Parrhesia meint Freimut, Unerschrockenheit, die Fähigkeit, sich nicht hinter falscher Rücksichtnahme zu verstecken, und - in Paulus‘ Fall – die Bereitschaft, den Glauben des Evangeliums gegenüber Kritikern, Skeptikern, Schlechtrednern zu verteidigen. Wer Freimut zeigt, der kann auf dem Boden des Evangeliums und allein mit der Kraft seiner Argumente alle Ängstlichkeit und Verzagtheit überwinden. Freimut ist im Übrigen auch verwandt mit Freude, nämlich mit einer Lust am Entdecken des Neuen.

Die Freiheit (eleutheria) dagegen erklärt Paulus zum Kennzeichen für die Anwesenheit des Heiligen Geistes. Die Gemeinde in Korinth, der er schreibt, ist in ihren Ursprungsjahren noch nicht in Strukturen, Rechtsbestimmungen und Ordnungen erstarrt, stattdessen öffnen sich Verfasser wie Adressaten dem Enthusiasmus, der Überraschung, dem Ungewöhnlichen. Es soll nicht verschwiegen werden, dass das auch zu Problemen geführt hat.

Beide Begriffe, eleutheria wie parrhesia, rahmen die kurze Passage, in der sich Paulus mit dem theologischen Spiegelungsprozess beschäftigt. Für ihn zeigt sich in der Tora Gott, das bleibt auch für ihn selbstverständlich, aber er nimmt genauso ein Moment der Verborgenheit wahr. Erst Christus selbst deckt diese Verborgenheit auf. Die „Herrlichkeit des Herrn“ (kabod adonaj) ist den Menschen zwar gegenwärtig, aber im Wesentlichen unsichtbar. Schon in Ex 33 äußert Mose den Wunsch, die Herrlichkeit des Herrn zu sehen. Aber dieser Wunsch wird abgewiesen: „Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“ (Ex 33,20) Entsprechend heißt es in 1Joh 4,12: „Niemand hat Gott jemals gesehen.“ In Ex 33 gestattet Gott jedoch dem Mose, sich in eine Felsspalte zu stellen. Vor dieser Felsspalte zieht Gott vorüber, und Mose kann zwar nicht das Gesicht, wohl aber den – sozusagen – ‚Rücken‘ Gottes (Ex 33, 23) sehen. In diesen Kontext der Frage nach der Sichtbarkeit und Erfahrbarkeit Gottes bringt Paulus das Bild des Spiegels ein.

Paulus spricht von der Decke, die das Gesicht des Mose bedeckt, als er vom Sinai mit den Tafeln der zehn Gebote zurückkehrte (Ex 34,33ff.). Die besondere Gotteserfahrung auf dem Sinai hat gemäß der biblischen Geschichte das Angesicht des Mose verändert, so sehr, dass das Volk Israel, das ihn am Fuß des Bergs erwartet, seinen Anblick nicht erträgt. Deswegen nimmt Paulus zuerst das Bild von der Decke auf und stellt diesem alttestamentlichen Bild das Bild des Spiegels gegenüber. Wer die Freiheit des Glaubens lebt, der spiegelt – wie Mose – die Herrlichkeit des Herrn wider. Die Glaubenden gehören – mit aufgedecktem Angesicht (anakekalymmeno prosopo, V.18) zu den katoptrizomenoi, zu denjenigen Menschen, die Gottes Herrlichkeit, seine kabod widerspiegeln. Paulus‘ Reflexionen über den inneren und äußeren Menschen (2Kor 4,16-18)[1] legen nach meiner Vermutung nahe, dass man sich die Spiegelung des Glaubens nicht ganz so oberflächenhaft vorstellen muss, wie es die Erzählung in Ex 33 nahelegte.

Glaube, Freiheit und Freimut sind nicht nur menschliche Einstellungen, Haltungen, Erfahrungen, sie sind für Paulus nichts weniger als Zeichen für Gottes Gegenwart, Zeichen seiner Einwirkung auf den Menschen, wenn man so will, ein Gottesbeweis. Der Titel der Zeitschrift rückt allerdings, wie bemerkt, nicht die glaubenden Personen in den Vordergrund. Stattdessen wird die personalisierte Formulierung des Paulus aus ihrem Kontext gelöst und verallgemeinert. Es geht nicht mehr um Personen, die etwas spiegeln, sondern um Verhältnisse und Prozesse der Spiegelung. Das macht einen großen Unterschied. Die theologische Zuspitzung des Paulus: In den Glaubenden spiegelt sich die Herrlichkeit Gottes, wird im Zeitschriftentitel wieder erweitert.

  • Irgendetwas spiegelt sich. Aber was?
  • Gottes Herrlichkeit in den Menschen?
  • Glaube in der Seele?
  • Theologie in der Kultur?
  • Der Mensch in sich selbst?
3.    Spiegelqualitäten

In 2Kor 3 präsentiert Paulus eine sehr optimistische, theologische zugespitzte Spiegeltheorie. Das Bild vom Spiegel hatte er schon vorher verwandt, nämlich in dem berühmten Hohelied von Glaube, Hoffnung und Liebe in 1Kor 13. Dort heißt es in v. 12: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ Die Verwendung des Begriffs Gesicht (prosopon)[2] lässt auch hier einen Bezug zu Ex 33, also zum selben biblisch-theologischen Kontext vermuten. Auch 1Kor 13 thematisiert das Sehen und die Erkenntnis Gottes. An dieser Stelle spricht Paulus von den glaubenden Christen oder von den Menschen allgemein: Sie können wie Moses Gott nicht sehen. Paulus begründet das damit, dass der Spiegel kein genaues Bild Gottes wiedergeben kann. Das passt zu der biblischen Behauptung, dass niemand je Gott gesehen habe. Und es passt zum kulturhistorischen Befund, denn die Menschen der Antike kannten noch keine präzisen Spiegel im heutigen Sinn. Als Spiegel nutzten sie Wasseroberflächen oder Metallstücke, welche aber kein exaktes Abbild in der Qualität heutiger Spiegel lieferten. Nach 1Kor 13 steht alles Sehen unter einem eschatologischen Vorbehalt, der im Übrigen so in 2Kor 3 nicht auftaucht. In der Gegenwart bleibt das Sehen (Gottes) vorläufig, erst in der Zukunft wird das Sehen von Angesicht zu Angesicht möglich sein.

1Kor 13 und 2Kor 3 stehen also zueinander in einer Spannung.  Im einen Fall geht es um indirektes Sehen Gottes, das vorläufig und fragmentarisch bleibt. Im anderen Fall geht es um die Glaubenden, die zum Spiegel werden, damit andere die Herrlichkeit Gottes sehen können. Man kann von einer theologisch-optimistischen und einer theologisch-pessimistischen Spiegeltheorie sprechen. In beiden Fällen geht es allerdings um die Frage nach dem Sehen Gottes, nach der, wie es in der scholastischen Theologie hieß, visio Dei beatifica.[3]

Ich entnehme diesen exegetischen Bemerkungen vier, auch für die Zeitschrift relevante Themen: die (verborgene) Herrlichkeit Gottes (kabod adonaj), das Thema des Sehens Gottes und seine Vorläufigkeit, die Frage nach dem Spiegel als Hilfsmittel des Sehens und zuletzt im Zeitschriftentitel eine Verallgemeinerung dieser Konstellation. Herrlichkeit, Vorläufigkeit und Indirektheit sind nicht nur auf das Sehen Gottes, sondern auch auf das Sehen von Kunst, ja grundsätzlich auf den Prozess des Sehens anzuwenden.

4.    Zeitschriftensortiment

Nun hat nicht nur diese Zeitschrift, es haben auch andere Zeitschriften das Bild des Spiegels aufgenommen. Eine englische Boulevardzeitung heißt „The Daily Mirror“, und jeder kennt das deutsche Nachrichtenmagazin, das seit Jahrzehnten unter dem Titel „Der Spiegel“ veröffentlicht wird. Das Nachrichtenmagazin hat eine höhere Auflage, aber es verfolgt offensichtlich keine so anspruchsvolle Spiegel-Theorie. Denn gespiegelt wird im Nachrichtenmagazin das wöchentlich aktuelle Tages- und Zeitgeschehen, in seiner innen- und außenpolitischen, kulturellen und sozialen Dimension. Kurz: Das Nachrichtenmagazin spiegelt die Gegenwart, abgestimmt auf die Bedürfnisse der Leser. Der Gründungsherausgeber würde sich im Grab herumdrehen, wenn er bemerken würde, dass sein Magazin sich in irgendeiner Weise um das Sehen der Herrlichkeit Gottes „wie in einem Spiegel“ bemühen würde. Die Spiegel-Theorie des Nachrichtenmagazins befindet sich auf dem einfachen Niveau bloßer Abbildung. Probleme können nur daraus entstehen, dass sich im Vorgang der journalistischen Abbildung Unschärfen, Fokussierungen oder blinde Flecken einschleichen, welche Abbildung und politische Urteilsbildung erschweren.

Mit dieser einfachen Spiegel-Theorie lässt sich die Zeitschrift „tà katoptrizómena“ nicht erklären. Ihre Aufgabe erschöpft sich nicht darin, zum Beispiel die religiösen Elemente der kulturellen Welt wiederzugeben, also widerzuspiegeln.  Es kommt mindestens noch ein Element der Selbst-Refle­xion, der Hermeneutik hinzu: Der Blick in und durch einen Spiegel selbst wird problematisiert. Und es kommt ein theologisches Element hinzu. Oder, noch besser formuliert: Das geschilderte theologische Element steht am Anfang, die Zeitschrift verknüpft es mit Selbstreflexion über das Sehen und mit der Wahrnehmung religiös-kultureller Phänomene. Darüber haben der Herausgeber und Freunde der ersten Stunde schon ausführlich nachgedacht.[4]

5.    Was spiegelt ein Spiegel?

Wer über das Spiegeln des Spiegels nachdenkt, der verstrickt sich schnell in unzählige Unterscheidungen und Motive, die ihrerseits zusammenzuhängen scheinen, aber nicht richtig systematisiert werden können. Das Nachdenken über Spiegel führt ein verwirrendes Spiegelkabinett. Was also spiegelt ein Spiegel? Er verdoppelt einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Wer am Morgen mit verknittertem Gesicht aufsteht, schaut sich im Badezimmer erst einmal im Spiegel an, um dann die nötigen kosmetischen Korrekturen vorzunehmen, um sich zu einer in der Öffentlichkeit präsentablen Person zu machen. Spiegel bieten dem Betrachter eine neue Perspektive. Sie verdoppeln eine Wirklichkeit mit einem Ab-Bild. Erst der Spiegel ermöglicht es einem Menschen, sich selbst zu sehen. Erst mit Hilfe eines Spiegels sieht das Auge sich selbst, sein eigenes Angesicht, face to face. Spiegel verdoppeln die Wirklichkeit und erzeugen so ein reflexives Wechselspiel. Das ist der phänomenologische Anfang der Spiegeltheorie im banalen Alltag.

Das genannte Wechselspiel mit dem Spiegel im Alltag kann auf andere Bereiche angewandt werden. Gebraucht man die Rede vom Spiegel metaphorisch, dann reden Wissenschaftlicher zum Beispiel über den Islam im Spiegel westlicher Beobachter, über das Motiv der Glocken im Spiegel der Lyrik Baudelaires, über die westdeutsche Moderne im Spiegel der Nachkriegsliteratur. Wissenschaftler, Schriftsteller, Politiker betrachten ein Thema aus einer bestimmten Perspektive, streichen dabei das eine heraus, übersehen das andere, fügen das dritte hinzu. Manches sehen sie vielleicht auch spiegelverkehrt oder wie in einem Brennglas.

In dieser Unterscheidung zwischen faktischem und metaphorischem Gebrauch des Spiegel-Bildes finden sich Elemente der theologischen Spiegeltheorie des Paulus wieder. Wer sich selbst im Spiegel anschaut, wird auf jedes Detail unreiner Haut, auf Falten und die Spuren durchzechter Nächte gestoßen. Spiegel können nicht lügen. Wer aber einen Gegenstand oder ein Thema metaphorisch wiederspiegelt, der thematisiert die bestimmte, von Interessen oder Ideen oder persönlichen Vorlieben geprägte Perspektive, die Sichtweise, mit der er sich einem Gegenstand zuwendet. Spiegel geben Ausschnitte von Wirklichkeit wieder, aber sie können diese Ausschnitte auch verzerren.

Es scheint mir nun ein prägendes Element der Zeitschrift „tà katoptrizómena“, dass sie sich gerade nicht auf die Spiegelungen zwischen Gott und Wirklichkeit und auf die gespiegelte Gegenwart Gottes in der Welt konzentriert. Das waren die Themen des Paulus (1Kor 13 und 2Kor 3). Diese beiden Perspektiven bleiben präsent, werden aber durch eine Vielzahl anderer Spiegelungen ergänzt, die sich in Kunst und Kultur finden. Interessant für die Zeitschrift ist nicht die Theologie für sich genommen, sondern viel interessanter und komplexer sind die Wechselverhältnisse zwischen den genannten theologischen und den mannigfachen kulturellen Spiegelungen. Der Zeitschrift liegt also eine besondere Wahrnehmungslehre, eine theologische Ästhetik zugrunde. 

Spiegel lassen sich auf eine einfache Formel bringen: Sie verdoppeln. Damit wird eine Relation zwischen zwei Welten, Wirklichkeiten erzeugt, zwischen Original und Abbild. Spiegel setzen eine bestimmte Form von Dualität voraus. Diese findet sich im Verhältnis von Modell und Kunstwerk, Welt und Zauberwelt, Gegenwart und zukünftige Welt (1Kor 13), in den Figuren des Zwillings und des Doppelgängers, aber auch in der Fotografie, für die – ein hochphilosophischer Begriff – eine Spiegelreflexkamera benutzt wird, wobei der Spiegel der Kamera gerade im entscheidenden Moment des gedrückten Auslösers - hochklappt.

Dieses Verhältnis zwischen Original und Abbild ist im tieferen Sinne des Wortes ein re-flektiertes Verhältnis. In diesem Verhältnis herrschen nicht Statik und Ordnung, sondern Bewegung, Dialektik, vielleicht ein Prozess des Ausbalancierens. Wegen dieser dauernden Bewegung sind Spiegelungsverhältnisse, auch die theologischen, schwer zu greifen. Eine Reihe von Beispielen aus der Kulturgeschichte soll unterschiedliche Spiegelungsverhältnisse beleuchten.

6.    Spiegelmythen

In der antiken Mythologie war es Narziss, der an einer Spiegelung scheitert. Im Mythos war er, der schöne Jüngling, Sohn eines Flussgottes und einer Wassernymphe, von vielen anderen geliebt und umworben. Narziss aber lehnte alle verliebten Verehrerinnen und Verehrer ab. Gekränkte Bewerber riefen vor ihrem Selbstmord aus enttäuschter Liebe die Götter an. Narziss sollte für seine Sturheit bestraft werden. Daraufhin schlug die Rachegöttin Nemesis Narziss mit „unstillbarer Selbstliebe“[5]. Dann erst ging der junge Mann an den Teich, wo er sich in sein eigenes Spiegelbild auf dem Wasser verliebte. Der Schluss des Mythos ist in mehreren Fassungen überliefert. Für die Spiegeltheorie am wichtigsten ist die Version, nach der Narziss sich ins Wasser stürzt, um seinem geliebten Gegenüber näher zu sein, und dabei ertrinkt. Weder hatte er bemerkt, dass er selbst es war, in den er sich verliebt hatte, noch konnte er offensichtlich zwischen Original und Spiegelbild unterscheiden. Und an dieser fehlenden Unterscheidung ging er zugrunde.

Der Mythos ist komplexer als das, was eine triviale Alltagspsychologie daraus gemacht hat. Die antike Fallhöhe zeigt die Bemerkung des Sehers Tiresias, der Narziss ein langes Leben prophezeite, falls er sich nicht selbst erkennt. Und genau das wurde ihm zum Verhängnis: Er erkannte sich selbst nicht in seinem Spiegelbild. Er war nicht in der Lage, zwischen Wirklichkeit und gespiegelter Wirklichkeit zu unterscheiden. Und er erkannte die Funktion des Spiegels nicht. Hätte er über Wasserspiegelungen Bescheid gewusst, er hätte weiter an der Krankheit übersteigerter Selbstliebe gelitten, aber gestorben wäre er daran nicht, höchstens wäre er seinen Mitmenschen auf die Nerven gefallen.

Genau dieses Wissen um die Physik der Spiegelung nutzt der antike Perseus[6], um die Medusa zu besiegen. Medusa war eine der drei Gorgonen. Als die Göttin Athene sie beim Beischlaf mit dem Meeresgott Poseidon erwischte, war sie so erzürnt, dass sie die vormalige Schönheit in ein Monster mit Haaren aus Schlangen verwandelte. Wer sie anschaute, erstarrte zu Stein. Das nutzte Polykdetes, der ein Interesse am Tod des Perseus hatte. Er forderte den Helden, Sohn des Zeus und der Danae, auf, ihm das Haupt der Medusa zu bringen, in der Hoffnung, dass er wie alle anderen zu Stein erstarren würde. Perseus erhielt neben anderen Geheimwaffen einen verspiegelten Schild. Mit Hilfe dieses verspiegelten Schildes näherte sich Perseus der schlafenden Medusa, nämlich ohne ihr direkt in die Augen zu blicken. Der indirekte Blick über den Spiegelschild war nicht tödlich. So gelang es Perseus, der Medusa das Schlangenhaupt abzuschlagen. Auch das tote Haupt der Medusa wirkte im Übrigen noch tödlich, und Perseus nutzte es, um mit seiner Hilfe eine Reihe von Zweikämpfen zu gewinnen.

Narziss konnte nicht zwischen Original und Spiegelbild unterscheiden. Das kostete ihn das Leben. Perseus hat dagegen die Spiegeltechnik verstanden. Ihm gelingt es, die gestellte Aufgabe zu lösen, weil er um den Wert des indirekten Spiegelblicks weiß. Der indirekte Blick durch den Schild entkräftet sozusagen das Grauen. Die zweikampfstrategische Klugheit des Perseus bestand darin, nicht die direkte Konfrontation zu suchen und dem unmittelbaren Anblick der Schlangen auszuweichen. Perseus ist also ein entfernter antiker Verwandter des Moses, der gerne Gott sehen möchte, aber auch weiß, dass er den Anblick seiner Herrlichkeit mit dem Leben bezahlen müsste. Der Blick unmittelbar auf die Herrlichkeit Gottes, der Blick unmittelbar in die Sonne und der unmittelbare Blick auf das Grauen – sie alle kosten das Leben. Mose erhält für dieses Problem Hilfe von Gott, der sich nicht von vorne, von Angesicht zu Angesicht, sondern nur von hinten zeigt. Perseus löst das Problem mit einem gespiegelten Schild. Jeder, der einmal eine Sonnenfinsternis beobachtet hat, weiß, dass er mit Hilfe einer dunkel abgetönten Brille sehr wohl in die Sonne schauen kann.

Mit den antiken Mythen verband sich also die Frage nach den Spiegeln und ihrem klugen Gebrauch in der Welt. Wenn man schon daraus Schlussfolgerungen für das Programm einer Zeitschrift ziehen will, so ist, will man ästhetische, kulturelle und theologische Spiegelungen einfangen und reflektiert verarbeiten, die Beachtung einer Reihe von Unterscheidungen angezeigt, zwischen Theologie und Ästhetik, zwischen Kunst und Kirche, zwischen Moral, Ethik und Ästhetik etc.

7.    Verspiegelte Sünden und Tugenden

Eine der berühmtesten Spiegelabbildungen des Mittelalters findet sich im Pariser Quartier Latin, im Hôtel de Cluny, wo das französische Museum für Kunst des Mittelalters untergebracht ist. Dort sind die Wandteppiche der Dame mit dem Einhorn ausgestellt, über die Reiner Maria Rilke in den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“[7] schrieb. Diese Teppiche, die der Forschung weiterhin Rätsel aufgeben, sind den damals bekannten Sinnen gewidmet: Geschmack, Gehör, Gesicht, Geruch, Gefühl. Der sechste Teppich gilt dem rätselhaften Thema „mon seul désir“. Der dritte, der Gesichtsteppich zeigt die vornehme Dame mit einem Handspiegel. Diesen Handspiegel hat sie so ausgerichtet, dass das Einhorn sein eigenes Gesicht sehen kann. Dieses hat die beiden Vorderhufe im Schoß der Dame abgelegt. Vieles an der Darstellung bleibt rätselhaft: Das mythische Einhorn betrachtet sich selbst? Erkennt sich selbst? Erkennt seine Abhängigkeit von der Dame? Der Handspiegel dient jedenfalls in dieser Darstellung nicht kosmetischen Zwecken. Wenn das Thema des ganzen Teppichs Sehen und der Sehsinn sind, dann ist auf die Blicke der Figuren zu achten. Das Einhorn spiegelt sich im Handspiegel, und es scheint darauf zu schauen. Die Dame wiederum, die den Spiegel hält, blickt mit gesenkten Augen auf das mythische Tier vor ihr. Wenn das Thema der Teppichserie die Sinne sind und nicht die Biographie oder Geschichte einer bestimmten historischen Gestalt, dann geht es um unterschiedliche Wahrnehmungen der Welt, durch das Auge, durch das Ohr, durch das Schmecken etc. Der Spiegel könnte dabei den Blick intensivieren, oder das Einhorn erkennt sich selbst. Der Spiegel intensiviert das Sehen zur Selbst-Reflexion.

Scholastische Theologie des Mittelalters entwickelte eine anthropologische Ethik von Tugenden und Lastern. Sieben Todsünden waren drei theologische und vier philosophische Tugenden gegenübergestellt. Diese anthropologische Ethik fand ihren Ausdruck auch in bildlicher, symbolischer Darstellung. Diese Lehre muss hier nicht entfaltet werden, auch nicht die Attribute, die den symbolischen Darstellungen beigegeben wurde. Mit einer Ausnahme: Der Spiegel kommt erstaunlicherweise bei Tugenden und bei Lastern vor. Als Vanitas (Eitelkeit) werden vorzugsweise Frauen dargestellt, die in einen Spiegel schauen – im Unterschied zur Dame mit dem Einhorn, die nicht sich selbst, sondern dem Einhorn den Spiegel vorhielt. Aber auch die Prudentia (Klugheit) blickt sehr häufig in einen Spiegel. Man kann die mittelalterliche Vanitas-Figur als eine entfernte Verwandte des mythischen Narziss deuten. Im Unterschied zu Narziss weiß sie um den Unterschied zwischen Original und Spiegelbild. Sie nutzt den Spiegel ausgiebig, um das Original, sich selbst kosmetisch zu verbessern. Vanitas wird als Sünde markiert, der Blick in den Spiegel erreicht nur die Oberfläche, den sterblichen Körper, das Äußere. Deswegen begleitet viele Vanitas-Darstellungen auch ein Schädel, um auf die Sterblichkeit des Menschen und auf die Vergeblichkeit des Bemühens um Schönheit hinzuweisen. Die Spiegelbetrachtung der Prudentia hingegen zielt auf nicht auf Schönheit und Kosmetik, sondern auf Selbsterkenntnis. Wer in der Welt klug handeln will, muss sich selbst und die Verhältnisse, in denen er lebt, gut kennen und einschätzen können. Klugerweise zielt der Gebrauch des Spiegels auf Selbsterkenntnis, aber diese ist mit Fallstricken gepflastert. Sie kann sich auf das Äußere beschränken, dann schlägt sie in Vanitas um. Sie kann zu Selbstüber- oder Selbstunterschätzung führen. Der Blick ist also nicht ganz frei von Gefahren und mit bestimmten Risiken und Missverständnissen verbunden. Die Spiegeltheorie ist eingebunden in eine ethisch-anthropologische Theorie von Sünden und Tugenden, und darüber findet sie ihre theologischen Konnotationen. Der von Paulus hervorgehobene Zusammenhang des Sehens Gottes ist in dieser Spiegeltradition offensichtlich verloren gegangen.

8.    Spiegel malen

Das gilt noch mehr, wenn man den Blick von der theologischen Ethik weg und hin auf die Malerei richtet. Zwei Meisterwerke, das eine von Jan van Eyck[8], das andere von Diego Velazquez, bringen in die Spiegeltheorie neue Facetten ein.

In Jan van Eycks Arnolfini-Hochzeit hat der Maler ein Ehepaar porträtiert, einen reichen Kaufmann und seine hochschwangere Frau. Beide halten sich an den Händen, und über diesen ist im Hintergrund ein runder gewölbter Spiegel zu sehen. Dieser hängt an der Rückwand des Raumes, darüber hat der Maler eine Art Signatur angebracht: „Johannes de Eyck fuit hic.“ Jan van Eyck war hier, und nicht etwa: Jan van Eyck hat (dieses Bild) gemalt. Dann müsste es „fecit“ statt „fuit“ heißen. Wenn man sich den Spiegel genauer anschaut, so sieht man darauf die Rückansicht des porträtierten Ehepaares und weiter hinten, perspektivisch sehr viel kleiner, einen in auffälliges, hellblaues Tuch gekleideten Mann. Forscher haben immer wieder gemutmaßt, dass es sich bei dieser Person in blauem Tuch um den Maler selbst handelt. Dafür würde die auffällige Nähe zwischen Signatur und Spiegel sprechen. Oder van Eyck könnte auch der (Trau-)Zeuge des Paares gewesen sein, denn die Familie Arnolfini trieb Handel in ganz Europa und unterhielt in Brügge, wo van Eyck lebte, eine Filiale ihres Handelsunternehmens. Für die Trauzeugentheorie würde auch das „fuit“ der Signatur sprechen.

Spiegel und Signatur zusammen geben dem Bild etwas außerordentlich Raffiniertes, das sich in drei Punkten zeigt:

1.    Mit Hilfe des Spiegels werden die Rücken der beiden Personen sichtbar. Damit zeigt van Eyck, dass das Bild nur einen Ausschnitt dessen wiedergibt, was er beim Malen vor sich sah. Man kann also beim Porträtmalen Menschen aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Und der Spiegel deutet an, was auch möglich wäre. 

2.    Das Bild erscheint nicht mehr nur als Abbildung von Wirklichkeit, und Jan van Eyck war ein Meister der Detailgenauigkeit, sondern der Maler bringt sich auch sozusagen selbst ins Gespräch, durch die auffällige Signatur in der Bildmitte und durch – wenn die Hypothese richtig ist -  ein Selbstporträt. Das wunderbare Bild, das Werk, ist nicht nur das Produkt eines kreativen und begabten Handwerkers, sondern eines Künstlers. Und das Selbstporträt des Künstlers erinnert den Betrachter daran.

3.    Dem Maler gelingt es durch die Einfügung des Spiegels in das Porträt, den Betrachter in das Bild hineinzuziehen und ihm auf subtile Weise deutlich zu machen, dass er vor dem Abbild der originalen Personen steht; dieses Abbild ist das Produkt eines kreativen Schöpfers.

Van Eyck erweitert und potenziert also die simple Spiegeltheorie (Original – Abbild) zu einem erheblich komplexeren Modell (Abbildung (Porträt) – Original (Ehepaar Arnolfini) – Spiegel (Original) – gespiegelte Perspektive (Rückansicht). Dazu kommt als zusätzliche Steigerung ein selbstreferentielles Modell der Beziehungen zwischen Maler und Trauzeuge (van Eyck), den Porträtierten (Ehepaar Arnolfini aus verschiedenen Perspektiven) und den Bildbetrachtern.  Auch dieser Spiegel im Porträt van Eycks verdoppelt, aber er wird zugleich zum Element eines komplexen ästhetischen Spiels zwischen Maler, Porträtierten und Betrachtern.

Etwas ähnlich Großartiges gelingt Diego Velazquez in seinem Hauptwerk „Las Meninas“ aus dem Jahr 1656, heute im Prado in Madrid zu sehen[9]. Es ist nicht möglich, hier die komplizierte Entstehungs- und die noch kompliziertere Deutungsgeschichte zu referieren. Es geht mir hier einfach um eine Beschreibung dessen, wie Velazquez mit dem Thema des Spiegels umgeht. Velazquez zeigt einen vergleichsweise dunklen Raum, sein Atelier, das er im Palast besaß und an dessen Wänden Ölbilder hängen. Im Vordergrund steht die fünfjährige Infantin Margarita, umrahmt von zwei Hofdamen. Vorne rechts liegt ein Hund, hinter dem zwei der Hofzwerge stehen. Hinter den Gruppen der Hofdamen und der Zwerge steht ein weiteres Paar, eine Hofdame und ein (unbekannter) Wächter. Von ganz hinten, außerhalb des Raumes, schaut der Hofmarschall von einer Treppe aus durch die geöffnete Tür in das Atelier. Links, gleich links hinter der Infantin, steht Velazquez selbst vor einer Leinwand. Er schaut wie die Infantin und einer der Zwerge den Betrachter unmittelbar an. Nun fehlt noch der Spiegel, der sich hinten, an der Rückwand neben der Tür befindet. Auf ihm sind der König und die Königin, also die Eltern der Infantin zu sehen.

Das Bild zeigt den Maler offensichtlich beim Produktionsprozess, in stilisierter Form. Zwischen einzelnen Figurengruppen und dem Maler selbst besteht (schon innerhalb des Bildes) ein kompliziertes Netz von Beziehungen. Und dazu kommt eine Reihe von unaufgeklärten Geheimnissen. Die erste Frage lautet: Ist das Bild, welches das Königspaar zeigt, ein in Öl gemaltes Bild oder ein in einem Spiegel reflektiertes Bild? Die Mehrheit der Forschung optiert für den zweiten Fall. In diesem Fall entsteht die Frage: Wo steht das gespiegelte Paar? An der Stelle, wo die Betrachter stehen? Oder spiegelt der Spiegel einen Ausschnitt dessen, was Velazquez gerade malt? In diesem Fall wäre das Königspaar nicht unsichtbar anwesend. Das bringt den Betrachter auf die zweite Frage: Was malt Velazquez da gerade, da die Betrachter nur einen Teil der Leinwandrückseite sehen, nicht ihre Vorderseite? Wenn der Spiegel die Leinwand zeigt, dann müsste Velazquez das Königspaar malen. Aber auch wenn der Spiegel das Königspaar außerhalb des Bildes zeigt, könnte er das Königspaar malen. Velazquez könnte aber auch das Bild malen, das der Betrachter gerade sieht, also „Las Meninas“.  Als weitere Möglichkeit zieht die Forschung in Betracht, dass er gerade dabei ist, die Infantin zu malen.

Da kein Betrachter die Leinwand sehen kann, wird die Antwort auf die Frage nach dem Sujet des Bildes wohl immer Spekulation bleiben. Hier sollen auch nicht die komplizierten Fragen der Velazquez-Forschung beantwortet werden. Entscheidend für diesen Zusammenhang mit den Spiegel-Theorien, die auf diese Zeitschrift bezogen sind, scheint mir die Tatsache, dass Velazquez in sein Bild in höchst komplexes System von Blickachsen, Verweisen und Spiegelungen einbaut. Dieses Geflecht von Spiegelungen ist wie in der Arnolfini-Hochzeit van Eycks auf den Maler, den Schöpfer des Bildes bezogen. Und es reicht über die Grenzen des Bildes hinaus. Denn zum einen schaut der Maler in Richtung des Betrachters, zum anderen könnte, wenn es sich bei der Darstellung des Königspaares wirklich um einen Spiegel handelt, was mir plausibel erscheint, das Königspaar auch genau dort, nämlich vor dem „Bildraum“ stehen, wo der Betrachter zu vermuten ist. Es ist das Großartige an diesem Bild, dass die Blicke und Spiegelungen hin und her gehen, und der Betrachter wird beim Nachdenken darüber in einen intellektuellen wie künstlerischen Strudel hineingerissen, in dem er sich Fragen nach der Tätigkeit und Fähigkeit des Malers, nach dem Verhältnis von Original, Abbildung und Spiegelung und weiterem mehr ausgesetzt sieht. Dabei steigert es die Qualität des Bildes noch, dass Velazquez offensichtlich nicht die Fragen, die durch das Bild gestellt werden, alle rational und schlüssig beantworten will. Vielmehr lässt er einiges offensichtlich bewusst im Unklaren: das Sujet des Bildes auf der Leinwand, die Frage, was die Figuren des Bildes, insbesondere der Maler im „Vorraum“ des Bildes, dort, wo eigentlich der Betrachter steht, sehen, sowie die Frage nach der An- oder Abwesenheit des Königspaares, die naturgemäß in einer absolutistischen Monarchie mit ihrem Zeremoniell, ihren Hierarchien und der Hofetikette eine sehr viel größere Bedeutung hat als in der Gegenwart. Gerade unter diesem Aspekt erscheint die mittelbare Anwesenheit des Königspaares in einem Spiegel als ein Element von besonderem Raffinement.

Unabhängig von der Frage, ob dieses Bild stärker auf den sozialen Status des Malers Velazquez zielt, oder ob die vielschichtige Welt des spanischen Königshofes im Mittelpunkt steht, so erzeugt die Komplexität der Blickrichtungen, Spiegelungen und Brechungen doch ein Gefühl für die komplexe Wirklichkeit seiner höfischen wie malerischen Lebenswelt, die Velazquez künstlerisch in einer Weise umsetzte, welche diese Komplexität in keiner Weise vereinfachte. Es gelang Velazquez, das einfache duale Spiegelungsmodell (Original und Abbild) malerisch durch ein sehr viel komplexeres und damit wirklichkeitsadäquateres Modell zu ersetzen.

Was van Eyck und Velazquez malerisch gelang, sollte sich auch philosophisch und theologisch umsetzen lassen. Denn weder der Theologie noch der Kunst noch dem, was man „Wirklichkeit“ nennt, wird man durch bloße Abbildung gerecht. Über die Darstellung (= Spiegelung) hinaus benötigt es Re-Flexion, Deutung, Hermeneutik, Interpretation. Die Bemühungen moderner Theologie und Kulturwissenschaft stimmen darin überein, dass sie ein simples und duales Spiegelungsmodell der Wirklichkeit (adaequatio rei et intellectus) überwinden und sich an der Wirklichkeit als einem Modell von unüberschaubaren Perspektiven, Spiegelungen, Standpunkten und Interpretationen abzuarbeiten. Wo diese vielschichtigen Perspektiven auf ein duales Gegenüber reduziert werden, schlägt (Kultur-)Wissenschaft um in Ideologie.

Und dieses komplexe Modell wäre auch auf die theologischen Überlegungen des Paulus anzuwenden. Über 2Kor 3 hinaus ist es nicht so, dass Gott sich in einem Glaubenden „spiegelt“. Stattdessen ist auch die Gegenwart des Heiligen Geistes so zu denken, dass sie komplexe Spiegelungen erzeugt, die sich nicht nach einem einfachen, identifizierenden Schema interpretieren lassen. Und es kommt hinzu, dass die von Paulus gemeinten theologischen Spiegelungen von Freiheit und Freiheit mit den Reflexionen der Wirklichkeit, wie sie van Eyck und Velazquez gemalt haben, konkurrieren. Die theologische Aufgabe wird damit komplizierter und komplexer. Genau dieser Komplexität versucht die Zeitschrift gerecht zu werden.  

9.    Der Doppelgänger

In seinem Gedicht „Der Doppelgänger“, veröffentlicht im „Buch der Lieder“ (1827) und vertont von Franz Schubert in seinem Liederzyklus „Schwanengesang“[10], erzählt Heinrich Heine von einem enttäuschten Menschen, der in einer Mondnacht in einer unbekannten Stadt spazieren geht. Es ist die Stadt, in der auch die frühere Geliebte wohnte, die diesen Mann jedoch verlassen hat und – vermutlich mit einem anderen Mann – weggezogen ist. Das lyrische Ich wird von bedrängenden Erinnerungen an die vergangene enttäuschte Liebe gequält. Im Mondschein erkennt das Ich einen anderen Menschen, der mit den Händen ringt. Sein Gesicht scheint entstellt. Plötzlich wird dem erzählenden Ich deutlich, dass er sich selbst sieht, seinen Doppelgänger: „Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt.“ In der dritten Strophe des Liedes klagt das lyrische Ich diesen Doppelgänger an. Es wirft ihm vor, sein Leid nachzuäffen und so das Leid, das dieses lyrische Ich aus der Vergangenheit noch quält, ebenfalls zu verdoppeln.

In diesem Gedicht kommt kein realer Spiegel vor, wohl aber setzt sich Heine mit dem psychologischen Phänomen der Spiegelung auseinander. Den Anfang macht eine Szenerie, die aus dem Fundus der Schauerromantik stammt: Nacht, Stille, enge Gassen in einem dunklen Stadtviertel, Mondlicht. Das Thema des Erzählers ist die enttäuschte Liebe, die er eigentlich überwunden glaubt. Er will sich nicht richtig eingestehen, dass diese seelische Wunde immer noch blutet. Ganz im Sinne der Romantik begegnet das lyrische Ich nun einer anderen Person, die es zunächst nicht richtig erkennt. Es könnte eine andere Person sein oder schlicht und einfach der Schatten, den der Erzähler im Mondlicht wirft. Diese zweite, rationalisierende Erklärung scheint sehr viel wahrscheinlicher, denn der vermeintliche Doppelgänger gibt dem anhaltenden Liebesschmerz Ausdruck, den sich das lyrische Ich nicht richtig eingestehen will. Der gespiegelte Doppelgänger ist also zugleich Schatten und Projektion. Das lyrische Ich sieht sich selbst im Doppelgänger – und erkennt sich doch nicht. Oder es will sich nicht erkennen, weil es dann Schmerz und Enttäuschung, die im Blick auf das ehemalige Haus der Geliebten, erneut aufgebrochen sind, wieder zulassen und aushalten müsste.

Das Gedicht Heines überzeugt nicht wegen seiner romantischen Elemente, damit haben andere auch gespielt. Vielmehr gilt, dass Heine mit den Elementen dieser Romantik spielt und damit eine Art Kurzschluss erzeugt zwischen dem sprechenden, erzählenden Ich und seinem Doppelgänger. Es geht nicht um Spuk, sondern um Psychologie. Beide „Handelnden“, das erzählende Ich und sein Doppelgänger, sind symbolisch aufgeladen. Man könnte vom Alltags-Ich und vom realen, psychologischen Ich sprechen. Paradoxerweise zeigt die Spukgestalt des Doppelgängers erst den wahren Zustand das lyrischen Ich an. Die zerbrochene Affäre mit der Geliebten ist keineswegs verarbeitet, sondern seelisch wirkt sie sich weiterhin verhängnisvoll aus. Der Doppelgänger zeigt im tieferen Sinn des Wortes, dass das lyrische Ich mit sich selbst nicht eins ist. Die Spiegelung ist sozusagen gescheitert. Das Mondlicht erzeugt einen Doppelgänger, der so gar nicht mit dem übereinstimmen will, was das lyrische Ich über sich selbst denkt. Insofern spielt auch Heine wie van Eyck und Velazquez mit dem Thema der Abbildung. Der Mond erzeugt mit seinem fahlen Licht eine Spiegelsituation. Welche Konsequenzen das lyrische Ich daraus zieht, bleibt offen – wie die Doppelung des Spiegels im Mittelalter, der einerseits die Vanitas verstärkte, andererseits in der Gestalt der Tugend der Prudentia  die Selbsterkenntnis erweiterte – freilich bei Heine um den teuren Preis, dass das Ich Trauer und Schmerz über die verlorene Geliebte zulassen müsste, entgegen seiner Überzeugung, nach der es beides schon überwunden glaubte.

Bezieht man das auf die Zeitschrift, so können Spiegelungen dazu führen, Prozesse der Selbsterkenntnis bei Autoren und Lesern zu verstärken. Damit hat sich auch Charles Baudelaire in seiner Lyrik beschäftigt.

10. Der zerbrochene Spiegel

1857 erschien Charles Baudelaires Gedichtsammlung „Die Blumen des Bösen“; darin ist ein Gedicht mit dem Titel „Die Musik“ enthalten. In ihm erzählt das lyrische Ich von seinen Erfahrungen mit der Musik in Bildern der Seefahrt: „La musique souvent me prend comme un mer!“ Es werden Bildern von Wellen, Sternen, Nebel, Nacht und Stürmen evoziert. Das gilt diesem lyrischen Ich zum einen als Erfahrung von Weite und Sehnsucht, zum anderen aber auch als ein Abgrund. Die Musik verschafft Erfahrungen von Sturm und Wind. Aber gelegentlich spiegelt sie auch anderes, nämlich dann, wenn kein Wind herrscht: „D’autres fois, calme plat, grand miroir / de mon déséspoir!“ In der Übersetzung von Monika Fahrenbach-Wachendorff lautet dieser Schluss Vers: „Dann wieder spiegelt Stille weit / All meine Hoffnungslosigkeit!“[11] Im Grunde erinnert diese Szene an Narziss, der sich über den Teich beugt und in sein eigenes Spiegelbild stürzt. Aber das lyrische Ich Baudelaires sitzt nicht am Rand des Meeres, es begibt sich auf einem Schiff hinaus auf die offene See. Dort erst, und nur bei Windstille, kommt es zur Spiegelung. Das stille, unbewegte Meer wird zum Spiegel (miroir) der Verzweiflung des Ich. Im Gedicht lassen sich drei Ebenen unterscheiden: die psychologischen Zustände des erzählenden und beschreibenden Ich, das Meer mit Schiffen, Stürmen und Flauten, sowie die Musik, deren Wirkung auf das Ich eigentlich beschrieben werden soll.

Das Ich sucht in der Musik eher das Abenteuer als Stille und Beruhigung. Der größte Teil der Verse ist darum allen Bewegungen des Meeres, Wellen, Stürmen etc. gewidmet. Leben bedeutet in Baudelaires Perspektive kein sicheres Verharren am Ufer oder im Hafen[12]. Das Ich benötigt Bewegung, Antrieb, es muss sich vor Stürmen schützen und bei Flauten überlegen, wie es sich weiter fortbewegen kann. Trotzdem markiert der Verweis auf den stillen Meeresspiegel bei Flaute zu diesen ganzen Wasserbewegungen einen markierten Kontrapunkt. Die Spiegelung funktioniert nur bei Flaute: Genau dann erkennt sich das Ich in seiner Stille und Bewegungslosigkeit, in seiner Melancholie. Der Bildraum des Meeres und der Tonraum der Musik spiegeln dem Ich, dass es mit sich selbst nicht übereinstimmt. An die Stelle der Gotteserkenntnis durch Spiegel, wie sie Paulus in 2Kor 3 entwickelte, ist Selbsterkenntnis getreten.

11. Übergang in die Zauberwelt

Bei Baudelaire und Heine verdoppelt der Spiegel bzw. der Mond den Betrachter zum Doppelgänger. Bei Lewis Carroll verdoppelt der Spiegel die Welt zur Zauberwelt. In der Fortsetzung seines Kinderbuch-Erfolgs „Alice im Wunderland“ erzählt Carroll unter dem Titel „Alice hinter den Spiegeln“[13] erneut von Alice. Das kleine Mädchen fragt sich, wie das Leben hinter den Spiegeln vorzustellen ist: „Zuerst einmal kommt das Zimmer, das du hinter dem Glas siehst – das ist genau wie unser Wohnzimmer, nur ist alles verkehrt herum.“[14] In ihr kommt der Wunsch auf, in die Spiegelwelt hinüberzuwechseln. Und das geschieht dann auch. Alice steigt auf das Kaminsims. Sie sagt: „Tun wir doch so, als ob aus dem Glas ein weicher Schleier geworden wäre, dass man hindurchsteigen könnte. Aber es wird ja tatsächlich zu einer Art Nebel!“[15] Dann steigt sie hinüber.

Drüben, im Spiegelland entdeckt sie eine Zauberwelt. Das, was vom „wirklichen“ Zimmer aus zu sehen war, sieht im Spiegelland genauso aus. Die Differenz liegt in dem, was jenseits der gespiegelten Wirklichkeit liegt: „(…) das übrige aber war so verschieden wie nur möglich.“[16] Drüben im Spiegelland werden die Dinge lebendig. Auch im weiteren Verlauf der Geschichte bleibt der Spiegel wichtig. Sie entdeckt zum Beispiel ein Buch in Spiegelschrift[17], mit dem berühmten Jabberwocky-Gedicht. Daneben tritt eine Spiegel-Schnake auf[18], und es wird ein Spiegel-Kuchen verzehrt[19]. Wie findet Alice wieder aus der Spiegel-Welt heraus? Am Ende, im zwölften Kapitel wacht sie aus einem Traum auf[20], aber danach fragt sich Alice, wer das Ganze geträumt hat, sie oder der Schwarze König[21]

Carroll lässt die Frage offen und beendet die Erzählung mit einem Gedicht, in dem er die Grenzen von Traum und Wirklichkeit bewusst verschwimmen lässt: „In ein Wunderland versetzt,/ Durch die Tage träumend hin,/ Durch die Sommer träumend jetzt,// Eingewiegt am Ufersaum - / Leis auf der Fahrt im goldnen Strom - / Leben: bist du nicht nur Traum?“[22]

Es wären noch viele Details aus der Zauberwelt hinter den Spiegeln aufzuklären, von den Anspielungen auf das Schachspiel über die einzelnen Figuren, die Funktion der weißen und der schwarzen Katze etc. In diesem Essay interessiert vor allem die literarische Konstruktion der Spiegel. Der Spiegel verdoppelt nicht einfach die Wirklichkeit, sondern er eröffnet den Weg in einer Zauberwelt, in der vieles auf diese Wirklichkeit bezogen ist. Die Zauberwelt kommentiert die ‚wirkliche‘ Welt ironisch, humor- und phantasievoll. Zauberwelt und Wirklichkeit verhalten sich nicht mehr wie Bild und Spiegelbild, sondern wie Bild und Kommentar, Bild und Erweiterung.

Ganz am Ende, im abschließenden Gedicht fragt sich Carroll, ob nicht auch die Wirklichkeit wie ein Traum zu verstehen ist. Und ich lese das so, dass der Schriftsteller Wirklichkeit nicht als eine fixierte Ordnung von Sachzwängen und Tatsachen begreift, sondern als fragiles Gebilde von deutbaren, form- und vor allem veränderbaren Tatsachen. Und Alice ist die kleine Heldin, die das aus sich selbst, im Spiel erkennt. Nicht das Mädchen wird mit der Gewalt der elterlichen Erziehung der Erwachsenenwirklichkeit unterworfen, sondern das kleine Mädchen, die Heldin bewegt sich zwanglos zwischen Zauberwelt und Wirklichkeit. Auf diesem Weg gelingt es ihr, beides besser zu verstehen und ihre scheinbare Fixierung und Unveränderlichkeit zu überwinden.

Und dieses Programm Carrolls passt auch sehr gut zu einer theologisch-ästhetischen Zeitschrift. Weder Kunst noch Theologie finden sich mit der bloßen Gegebenheit von Welt und Wirklichkeit ab, sondern beide entwickeln auf je ihre Weise argumentative und kulturelle Strategien, die Ohnmacht des bevormundeten Einzelnen zu überwinden. Und eine Zeitschrift wie „tà katoptrizómena“ verknüpft die ästhetische und die theologische Strategie miteinander.

12. Verbotener Spiegel

Der belgische Maler René Magritte schuf 1937 ein Werk mit dem Titel „La reproduction interdite“, also etwa die „verbotene Wiedergabe“. Das Werk hängt heute in Rotterdam, im Museum Boijmans van Beuningen[23]. Der Betrachter sieht den Rücken eines Mannes, der ein einfarbiges schwarzes Jackett trägt. Magritte hat hier seinen englischen Mäzen Edward James porträtiert. James steht vor einem großen Spiegel mit einem schlichten goldenen Rahmen. Auf der Ablage vor dem Spiegel liegt ein zerlesenes Buch, eine französische Ausgabe von Edgar Allen Poes Erzählung ‚The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket‘. 

Während nun das Buch korrekt gespiegelt wurde, sieht man verblüffender Weise das Porträt des Mäzens keineswegs mit Gesicht und Vorderseite, sondern mit dem Rücken. Magrittes Bild verblüfft durch eine Spiegelung, die einerseits realistisch gemalt ist, andererseits zu diesem Realismus gar nicht passen will. Der so erzeugte Verblüffungseffekt stellt den normalen Alltag des Betrachters in Frage. Die Dinge müssen sich nicht stets so verhalten, wie der gesunde Menschenverstand es erwarten würde. Man kann in diesem Gemälde auch ein Gegenbild zu „Alice hinter den Spiegeln“ sehen. Denn die kalte Schulter des Mannes im Spiegel verwehrt dem Betrachter gerade den Eintritt in eine wie immer geartete Zauberwelt – und wirft ihn auf seinen eigenen Alltag zurück.

Magritte weiß um die Paradoxie, und durch das Wort „verboten“ im Titel qualifiziert er sie als moralisch. Es geht um eine Grenzüberschreitung über das Normale, Selbstverständliche, Nicht-Hinterfragte. Magritte, als philosophisch gebildeter Maler, liebte solche Paradoxien, die gerade an den Punkten des Alltags Fragen aufwerfen, wo man alles für selbstverständlich, normal und stets gleich hält. Und genau diese Paradoxie hat sich auch die Zeitschrift „tà katoptrizómena“ verschrieben. Es geht nicht um Variationen des Eskapismus, sondern um Variationen der Selbsterkenntnis, die Magritte in den Vordergrund stellt, und um Variationen der Gotteserkenntnis, die sich aus anderen Quellen speiste und die der Maler nicht berücksichtigte.

13. Der Philosoph als Photograph

1963 fotografierte Stefan Moses den Philosophen Theodor W. Adorno in seinem Büro – oder er fotografierte ihn nicht, denn im Bild ist es offensichtlich Adorno selbst, der auf den Selbstauslöser drückt[24]. Andere Bilder aus der gleichen Sitzung zeigen Adorno, wie er sich selbst fotografiert.

Man sieht einen schlanken Standspiegel, in dem der sitzende Philosoph zu sehen ist. Er trägt Anzug und Krawatte, von rechts fällt Sonnenlicht in den Raum. In der rechten Hand hält Adorno den Selbstauslöser, der durch einen Draht mit der Kamera verbunden ist. Diese steht auf einem hohen Stativ hinter dem Philosophen und ist ebenfalls im Spiegel zu sehen. Um den Spiegel herum bemerkt der Betrachter das Büro, ein Sideboard, Regale, einen Schreibtischstuhl usw.

Der Spiegel gehörte im übrigen Moses selbst, und er fotografierte auch andere Intellektuelle dieser Zeit, zum Beispiel in einem Doppelporträt Hans Mayer und Ernst Bloch, doch diesem Bild fehlt es an der intellektuellen Verspieltheit, die das Porträt Adornos ausstrahlt. 

In der Komplexität des Aufbaus erinnert die Photographie an das Bild von Velazquez. Der Betrachter sieht den Philosophen im Spiegelbild, die Kamera im Spiegelbild. Aus beidem schließt er auf den „realen“ Adorno und die „reale“ Kamera, die sich beide dort befinden müssen, wo der Betrachter steht. Dazu kommt der „eigentliche“ Photograph Moses, der in diesem Fall gar nicht der Photograph ist, das erledigt ja der Porträtierte selbst. Höchstens hat er, vielleicht im Gespräch mit dem Philosophen, die dann zu dem Selbstporträt führte.

Eindrucksvoll belegt diese Photographie, dass Wirklichkeit in ihrer bloßen Abbildung nicht aufgeht. Wie bei Velazquez wird durch die Spiegelungen ein komplexes System von Verweisen erzeugt, die über die bloße abgebildete Person hinausreichen und sie zum Mittelpunkt eines Geflechts von Verweisen und Spekulationen machen, und zwar weit über das abgebildete Porträt hinaus.

14. Überspiegelungen im Film

Der französische Regisseur Francois Ozon spielt in seinem Film „Der andere Liebhaber“[25] (französischer Titel „L’amant double“) aus dem Jahr 2018 in vielen Facetten mit dem Motiv des Spiegels. Der Film erscheint ebenso klug wie überdreht; er erzählt die Geschichte von Chloe, einer jungen Frau, die unter Bauchschmerzen leidet. Sie besucht psychotherapeutische Sitzungen, zieht mit ihrem Analytiker zusammen, lernt dessen Zwillingsbruder kennen, der ebenfalls Psychoanalytiker ist, und geht auch mit ihm eine Beziehung ein. Am Ende stellt sich heraus, dass die Schmerzen im Bauch von einer Zyste herrühren. Chloe hatte ursprünglich eine Zwillingsschwester, welche Chloe als die stärkere jedoch „absorbierte“. Am Ende wirkt der Film überdreht, verworren, viel zu manieriert. Mehrfach wandelt der Film seinen Charakter, mutiert vom Psychodrama zum Horrorfilm.

Planmäßig zieht der Regisseur dem Zuschauer den sicheren Boden unter den Füßen weg, die Grenzen zwischen Tag- und Nachtträumen, Wirklichkeit und Phantasie verschwimmen. Die faktische Wirklichkeit scheint nur noch als Moment in einem Chaos von Bildern, das sich nicht mehr bewältigen lässt. Unterscheidungen verschwimmen, wenn sie sich nicht sogar auflösen. Man kann das Spiel mit Spiegelbildern, Doppelgängern und Zwillingen auch übertreiben. Dennoch: Auch hinter Ozons interessantem, aber nicht völlig gelungenen Film steht der Zweifel an der Notwendigkeit des Faktischen, die über Doppelungen und Spiegelungen aufgelöst wird. 

15. Spiegel- Selfies

Der letzte Blick auf den Spiegel soll dem Alltag und den sozialen Medien gelten. Jenseits philosophischer und künstlerischer Komplexität ist der Spiegel ein beliebtes Accessoire in Wohnungen[26], vor allem im Badezimmer, im Flur und im Schlafzimmer. Auf der einen Seite vergrößert der Spiegel einen Raum, auf der anderen Seite dient er als nützliches Instrument, das eigene Aussehen nach dem Aufstehen, nach dem Duschen und vor dem Ausgehen zu überprüfen und notfalls zu korrigieren. Außerdem scheint der Handspiegel in der Mode eine Art Renaissance zu erleben[27]. Und insofern folgt die Konjunktur von Spiegeln schlicht und einfach aus der großen Bedeutung, die dem Aussehen, dem äußeren Erscheinungsbild in der Gegenwart beigemessen wird.

In ironischer Brechung zeigt sich diese Bedeutung des Aussehens dann, wenn Menschen versuchen, für E-Bay Spiegel, die verkauft werden sollen, zu fotografieren. Sie unternehmen dann große Mühen, selbst nicht in der Photographie aufzutauchen[28] - und verweisen gerade in dieser Unbeholfenheit auf sich selbst.

Wer verstehen will, wieso der Spiegel in der Photographie zu einem banalen Hilfsmittel herabgesunken ist, der schaue sich auf Instagram unter dem Hashtag #mirrorselfie die 4.442.482 Ergebnisse (Stand 3.5.2018) an. Man kann darin harmlose und massenhaft auftauchende Variationen desjenigen Narzissmus erblicken, dessen Scheitern schon in der Erzählung des antiken Mythos angelegt war. Auf der anderen Seite zeigen Spiegelselfies und Handspiegel auch die nachhaltige Arbeit am eigenen Ich, wenn auch in einer oberflächlichen Form. Bild und Wirklichkeit lassen sich nie zur Übereinstimmung bringen. Menschen können die Finger einfach nicht von den Spiegeln lassen – weder modisch noch ästhetisch noch philosophisch.

16. Ad multos annos!

Lieber Andreas, Du merkst, was Du mit diesem Zeitschriften-Titel und mit den Hunderten von Essays, Notizen und Aufsätzen, die Du dafür verfasst hast, ausgelöst hast. Mit mir sind Dir hoffentlich auch Deine Leser dankbar dafür, dass Du diese Zeitschriften ins Internet einstellst und damit viele Möglichkeiten geschaffen hast, Spiegelungen zwischen Kunst und Theologie, Ästhetik und Systematik, Praxis und Theorie und vielem anderen mehr nachzugehen. Danke, dass Du das durchgehalten hast, dass Du immer wieder Freunde und Kollegen gewinnen konntest, für die Zeitschrift zu publizieren. Die entscheidende Spiegelung scheint mir die folgende: Du bist als Redakteur und Herausgeber für Deine Autorinnen und Autoren wie für Deine Leserinnen und Leser zum Gesprächspartner geworden, der nicht aufgegeben hat, die Verhältnisse zwischen Kultur und Theologie auszuloten, Thesen zur Diskussion zu stellen und Thesen anderer im Gespräch zu kommentieren. Dafür herzlichen Dank und herzlichen Glückwunsch zu Deinem runden Geburtstag. Ad multos annos!

17. Kulturspiegel

Es kommt nicht auf den Spiegel an, sondern auf den Gebrauch, den der Nutzer davon macht. Aus der ursprünglichen theologischen Perspektive sind, schon bei Paulus selbst angelegt, viele Perspektiven geworden. Die ursprünglich theologische Interpretation ist pluralisiert und kulturalisiert worden. Der Spiegel ist geradezu das klassische Instrument, die Anzahl der Perspektiven zu erweitern. Spiegel können verdoppeln, erweitern, verblüffen, zum Nach- und Weiterdenken anregen.

Der Dramatiker und Lyriker Friedrich Hebbel schrieb am 17.August 1857 in sein Tagebuch: „Daß der Mensch, der die Wahrheit so flieht, den Spiegel erfunden hat, ist die größte historische Merkwürdigkeit.“[29]

Anmerkungen

[1]    Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Bildbearbeitung des Glaubens. Predigt über 2Kor 4,16-18 zum Sonntag Jubilate 22.4.2018, in: Th. Schlag (Hg.), Göttinger Predigten im Internet, April 2018, http://www.theologie.uzh.ch/predigten/predigt.php?id=7741&kennung=20180422de.

[2]    Zum Thema Gesicht, Porträt und Bild vgl. Wolfgang Vögele, Im Angesicht, tà katoptrizómena, H.100, 2016, http://theomag.de/100/wv24.htm.

[3]    Von hier führt ein direkter Weg zu Dantes Divina Commedia. Im dritten Teil des Werkes, im Paradiso wird Dante der unmittelbare Blick auf Gottes Herrlichkeit zuteil. Allerdings versieht der Dichter genau diesen entscheidenden Punkt seiner Vision mit Einschränkungen: Gott ist wie die Sonne, man kann sie nicht unmittelbar anschauen. Und genau an diesem Punkt wacht Dante auch aus seinem Schlaf auf, und er fragt sich, ob das, was er auf seiner Wanderung gesehen hat, wirklich passiert ist oder ob er es nur geträumt hat. Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Die Welt, aus dem Jenseits betrachtet. Einige Bemerkungen über Dantes Commedia, Theologie und Kunst, tà katoptrizómena, H.95, 2015, http://www.theomag.de/95/wv18.htm.

[4]    Vgl. dazu Andreas Mertin, Editorial, tà katoptrizómema, H. 1, 1999, https://www.theomag.de/01/edit1.htm; ders., Vor unseren Augen, tà katoptrizómema, H. 98, 2015, https://www.theomag.de/98/am524.htm; ders., Spiegelungen: Bibeltexte – Zitate – Bilder,  tà katoptrizómema, H. 100, 2016, https://www.theomag.de/100/am539.htm; ders.,  Wie in einem Spiegel?, tà katoptrizómema, H. 100, 2016, https://www.theomag.de/100/am536.htm; ders., Duodecim Specula Deum Aliquando Videre Desideranti,  tà katoptrizómema, H. 100, 2016, https://www.theomag.de/100/am538.htm. Von anderen Autoren als vom Herausgeber: Horst Schwebel, Warum die Zeitschrift einen so seltsamen Namen hat. Exegetische Überlegungen, tà katoptrizómema, H. 100, 2016, https://theomag.de/100/hs19.htm; sowie Dietrich Neuhaus, Der Theologe als Dandy. Zur Ästhetik des Protestantismus, tà katoptrizómema, H. 1, 1999,  https://www.theomag.de/01/dn1.htm#Titel.

[5]    N.N., Art. Narziss, Wikipedia o.O. o.J., https://de.wikipedia.org/wiki/Narziss.

[6]    N.N., Art. Medusa, Wikipedia o.O. o.J., https://de.wikipedia.org/wiki/Medusa.

[7]    Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/M. 2000 (1910).

[8]    Diesem Maler war schon ein Themenheft der tà katoptrizómena gewidmet: vgl. tà katoptrizómena, H. 97, 2015, Closer to van Eyck.

[9]    N.N., Las Meninas, o.O. o.J., https://de.wikipedia.org/wiki/Las_Meninas. Vgl. auch Martin Warnke, Velazquez, Form & Reform, Köln 2005.

[10] Noten und Text finden sich zum Beispiel unter dieser Adresse: PDF mit Noten und Text.

[11]   Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen, übers. von Monika Fahrenbach-Wachendorff, Stuttgart 1998 (1861), 141.

[12]   Vgl. dazu Hans Blumenberg, Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt/M. 1979.

[13]   Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln, übers. von Christian Enzensberger, Frankfurt/M. 1974 (engl. 1872).

[14]   A.a.O., 19.

[15]   A.a.O., 21.

[16]   A.a.O., 22.

[17]   A.a.O., 27.

[18]   A.a.O., Kap.3, 41ff.

[19]   A.a.O., 106.

[20]   A.a.O., 142f.

[21]   A.a.O., 145.

[22]   A.a.O., 146.

[23]   Eine Reproduktion dieses Bildes mit weiteren Informationen findet sich auf der Museumsseite: http://collectie.boijmans.nl/en/object/4232/la-reproduction-interdite/rene-magritte.

[29]   Friedrich Hebbel, Tagebücher, Bd.4, hg. von M. Werner, Berlin o.J., 115.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/113/wv044.htm
© Wolfgang Vögele, 2018