Ist der Protestantismus am Ende?

Eine nach-trägliche Notiz zum Reformationsjubiläum

Andreas Mertin

Wolfgang Vögeles inspirierende Schilderung seiner Erfahrungen mit dem Reformationsjubiläum geben mir Anlass, auch noch einmal notizenhaft auf das Reformationsjubiläum einzugehen. Nach dem Ende der Reformationsfeierlichkeiten saß ich in einem religionspädagogischen Institut mit Berufsschullehrerinnen und –lehrern zusammen, um über das Thema „Evangelisch-Katholisch“ im Blick auf den Schulunterricht nachzudenken. Eingeladen waren dazu zwei evangelische TheologInnen und zwei katholische TheologInnen, um mit den Unterrichtenden ganz unterschiedliche Aspekte des Themas zu erörtern. Kommt so etwas wie evangelisch und/oder katholisch eigentlich auch in der Literatur vor? Spiegelt sich das Kirchenverständnis in der Bildenden Kunst? Was ist systematisch-theologisch zu bedenken und was kirchenhistorisch? Und wie soll man das Menschen vermitteln, die mit Religion an sich schon wenig am Hut haben? Das sind ebenso ernüchternde wie herausfordernde Diskussionen. Ich wurde daran erinnert, weil Wolfgang Vögele in seinem Text schreibt, dass es viele Zuhörer gibt, die nicht einmal den Unterschied von lutherisch und reformiert kennen. In unserem Kreis – wir waren in einer lutherischen Landeskirche mit katholischen Gästen – ging es auch den Unterrichtenden ähnlich. Irgendwie herrschte eine Grundstimmung, die man mit „Hauptsache Religion“ gut beschreiben kann. Eine Referentin benannte es auch explizit so: Warum wollen Sie im Berufsschulunterricht über Evangelisch-Katholisch reden? Sprechen Sie doch lieber über Gott. Das erinnerte mich ein wenig an Bertolt Brechts berühmtes Bonmot aus den Geschichten des Herrn Keuner:

Eine gute Antwort. Ein Arbeiter wurde vor Gericht gefragt, ob er die weltliche oder die kirchliche Form des Eides benutzen wolle. Er antwortete: "Ich bin arbeitslos." - "Dies war nicht nur Zerstreutheit", sagte Herr K. "Durch diese Antwort gab er zu erkennen, dass er sich in einer Lage befand, wo solche Fragen, ja vielleicht das ganze Gerichtsverfahren als solches, keinen Sinn mehr haben."[1]

Wo schon das Verstehen von Religion schwer fällt, ist die Differenzierung von evangelisch und katholisch, geschweige denn reformiert und lutherisch wenig hilfreich. Es bringt Berufsschullehrern ja wenig, wenn sie ein gutes Modell der Darstellung der Konfessionsunterschiede haben, die Empirie ihres Unterrichts aber eine ganz andere ist. Wäre es also besser, über Sinn und Unsinn von Kirchensteuern nachzudenken? Oder den Sinn und Unsinn von Religion(sunter­richt) überhaupt? Oder wäre das Thema „Christenverfolgung“ von ungleich größerer Brisanz?

Wenn man davon ausgeht, dass der überwiegende Teil unserer Bevölkerung nicht mehr in der Familie religiös sozialisiert wird, dass der Kontakt mit der Amtskirche sich auf wenige Momente beschränkt, und dass ein Großteil der religiösen Vermittlung in der Schule stattfindet, dann sind das alles keine leichten Fragen. Also lieber über Religion als über Konfession sprechen?

Als jemand, der bei sich eine fortschreitende Entfremdung von der institutionalisierten evangelischen Kirche wahrnimmt, frage ich mich, was denn noch der Beitrag des Protestantismus zu unserer Lebenswelt sein könnte? Zugespitzt: Wird nicht das, was Protestantismus inhaltlich und formal vermitteln wollte, seit dem II. Vatikanum im Katholizismus wenn nicht umgesetzt, dann doch diskutiert? Haben die katholischen Exegeten nicht in bewunderungswürdiger Weise die Impulse, die von der historisch-kritischen Forschung eingebracht wurden, in ihre Forschungen aufgenommen und fortgeführt?[2] Ist in der Darstellung kirchengeschichtlicher Fakten zwischen den Konfessionen noch ein Unterschied zu erkennen? Sind in der Frage der Eucharistie nicht fast alle Katholiken im Herzen Calvinisten? Berufen sich nicht selbst traditionsbewusste Katholiken auf ihr subjektives religiöses Gewissen, wenn der Papst mal etwas sagt, was ihnen nicht passt? Ist Individualität nicht inzwischen auch in religiösen Fragen Common Sense? Was also könnte der Protestantismus in die Religionskultur von heute noch produktiv einbringen? Wenn ich das Erscheinungsbild der Zürcher Wasserkirche nach dem Bildersturm 1524 mit dem Erscheinungsbild der Kirche im Hildesheimer Priesterseminar vergleiche, eingerichtet 2010 nach den Vorstellungen des II. Vatikanum, wo ist da noch ein Unterschied? Müsste man also nicht sagen: Mission completed? Und der verbleibende Rest wird in der Weltkirche abgearbeitet?

An dieser Stelle kam für mich dann auf unserem Treffen das ‚Reformationswunder‘, denn es war eine katholische Kollegin, die entschieden widersprach und auf die weiterhin nicht eingelösten Hoffnungen verwies, die mit dem protestantischen Aufbruch verbunden waren. Das Reformpotential des Protestantismus sei im Blick auf die katholische Weltkirche noch lange nicht abgearbeitet, fand sie. Und es bedürfe eines eigenständigen protestantischen Widerlagers, sonst käme auch der Katholizismus nicht voran. Das beträfe etwa die Rolle der Frauen in der katholischen Kirche, nicht zuletzt ihre Ordination, das Synodalitätsprinzip und vieles andere mehr. Und es beträfe auch die Anerkennung anderer Gruppierungen, weit über ihre Etikettierung als „Gemeinschaften“ hinaus; ein Prozess, der im II. Vatikanum schon fortgeschrittener erschien, als die Kurie es heute darstellt. Diesen damals begonnenen Prozess müsse man fortsetzen. Auch wenn phänotypisch eine katholische Kirche heute nicht mehr aussehe wie eine von 1571, sondern eher wie eine evangelische reformierte Kirche von 1643 (also Volksaltar, Abendmahl in beiderlei Gestalt etc.; vgl. unten die Darstellungen im Theatrum Biblicum von 1571 und 1643), so sei der angestoßene Prozess eben noch nicht am Ende.

Diese Reaktion fand ich überaus überzeugend. Auch wenn ich manchmal glaube, dass der Protestantismus seine Anliegen weitgehend in die Welt getragen hat – bis dahin, dass Religionssoziologen von der Protestantisierung der Welt[3] sprechen können -, so heißt das nicht, dass alle davon schon überzeugt sind oder gar – blicken wir auf die Rolle der Frauen in der katholischen Kirche – umfassend davon profitiert hätten. Und das ist keine „Mission Impossible“, wie manche meinen – nicht zuletzt weil weder evangelische noch katholische Kirche heute füreinander noch „Rogue Nations“ sind und deshalb vieles voneinander lernen können, was jeder bestätigen kann, der in der ökumenischen Begegnung lebt.

Die ökumenische Sorge bei den Reformationsfeierlichkeiten hätte also nicht lauten dürfen, wie schnell feiern wir das gemeinsame Abendmahl oder wann feiern wir endlich das Fest der Einheit, sondern, welche gegenseitigen Impulse gibt es und welche Infragestellungen sind noch nicht beantwortet bzw. abgearbeitet? Und da wäre viel zu nennen. Insbesondere in Sachen interreligiöse Gespräche mit dem Islam empfinde ich den Katholizismus als weit über protestantische Initiativen hinaus.[4] Auch in vielen Fragen der Sozialethik finde ich den Katholizismus oftmals fortschrittlicher. In Sachen der Verurteilung von Genderforschung ist er dagegen nahezu mittelalterlich, geradezu vorreflexiv – zumindest in den offiziellen kirchlichen Verlautbarungen.[5] In den Auseinandersetzungen mit der Kultur der Gegenwart ist der Protestantismus inzwischen unangemessen selbstüberheblich und der Katholizismus angemessen nachdenklich und kulturorientiert – hier sieht es so aus, als ob sich die Positionen innerhalb von 150 Jahren vollständig gedreht hätten.[6] Der Protestantismus ruht sich auf Meriten aus, die er vor Jahrhunderten erworben hat und auf die er sich heute nichts mehr einbilden sollte. Eine veritable Kulturpolitik der EKD gibt es seit Jahrzehnten nicht mehr. Und in der Wissenschaft steht es nicht besser. Die Grundierung der Praktischen Theologie durch Ästhetik[7], die Albrecht Grözinger vor nun 30 Jahren angestoßen hat, ist leider vollständig verpufft. Stattdessen stürzt man sich auf Bildtheorien, die mit Bildern gar nichts mehr zu tun haben.

Sehr viel lernen kann der Protestantismus von der pluralistischen katholischen Online-Kultur. Wenn ich dagegen die Internetauftritte der EKD, evangelisch.de etc. anschaue, kommen mir immer die Tränen, es wirkt so, als ob immer dasselbe Web-Büro für Geschmacksverirrung den Auftritt gestalte. Inhaltlich argumentativ ist da wenig zu finden – außer kirchenamtlichen Verlautbarungen und Textdokumentationen. Bereits bei katholisch.de findet man da sehr viel mehr Inhaltliches. Und die katholische Blogosphäre ist so ungleich differenzierter als die evangelische, auch wenn bei beiden Konfessionen online die Konservativen dominieren.

Also gibt es viel, was man voneinander lernen kann, bevor man die ökumenische Einheitssoße über alles gießt. Viel Katholisches findet man heute in der evangelischen Kirche, viel Evangelisches in der Katholischen Kirche. Dieser Prozess des gegenseitigen Lernens, so viel habe ich gelernt, ist noch nicht zu Ende.

Anmerkungen

[1]    Brecht, Bertolt (2013): Geschichten vom Herrn Keuner. 28. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch, 16). S. 17.

[2]    Besonders beeindruckend hat dies Gerd Häfner auf seinem Blog Lectio Brevior dargestellt. Seine Reihe zu „Antimodernismus und Exegese“ skizziert noch einmal den weiten Weg, den die katholischen Exegeten zurückgelegt haben. Vgl. http://www.lectiobrevior.de/2013/09/antimodernismus-und-exegese-1.html

[3]    Berger, Peter Ludwig; Köhler, Willi (1992): Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft. Durchges. und verb. Ausg. der 1980 bei Fischer ersch. dt. Ausg. Freiburg im Breisgau: Herder (Herder-Spektrum, 4098).

[4]    Rohe, Mathias; Khorchide, Mouhanad; Engin, Havva, et al. (Hg.) (2014): Handbuch Christentum und Islam in Deutschland. Grundlagen, Erfahrungen und Perspektiven des Zusammenlebens. Freiburg im Breisgau: Verlag Herder. Sowie: Heinzmann, Richard; Antes, Peter; Thurner, Martin, et al. (Hg.) (2013): Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam. 2 Bände: Verlag Herder.

[6]    Man vergleiche nur das Kulturpapier des ZDK und die Kulturdenkschrift der EKD: Zentralkomitee der deutschen Katholiken (November 1999): Kultur als Aufgabe für Staat und Kirche. Zur Förderung der dezentralen und pluralen Kultur in Deutschland. Bonn, November 1999. EKD (2002): Räume der Begegnung. Religion und Kultur in evangelischer Perspektive ; eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Vereinigung Evangelischer Freikirchen. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus.

[7]    Grözinger, Albrecht (1987): Praktische Theologie und Ästhetik. Ein Beitrag zur Grundlegung der praktischen Theologie. München: Kaiser.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/110/am609.htm
© Andreas Mertin, 2017