Die Rückkehr der Deutschen Christen I

Die Grundsätzerklärung der Christen in der Afd

Andreas Mertin

Wofür steht Christen in der AfD?

Die Christen in der AfD, eine Gruppierung, hinter der kaum mehr als 150 Personen stehen sollen, haben auf ihrer Seite eine Grundsatzerklärung veröffentlicht. Sie erklärt weniger die Positionen der AfD als vielmehr die Position derer, die meinen, dezidiert als Christen in der AfD sein zu müssen oder zu können. Diese Haltung setzt ja schon bestimmte Grundentscheidungen voraus. Etwa die, dass die bisher im Bundestag vertretenen Parteien für einen Christen nicht mehr verantwortbare Positionen vertreten oder dass bestimmte Positionen, die einige Christen vertreten, nicht mehr bei den im Bundestag vertretenen Parteien vorkommen. Tatsächlich wird so im konservativen katholischen wie evangelikalen Milieu argumentiert. Hier ist es vor allem die Frage der Abtreibung, die als Differenz begriffen wird. Zwar wird auch die Ehe für alle genannt, da diese aber in der CDU/CSU mehrheitlich abgelehnt wird, kann das nicht die Differenz begründen. Mit der aktuellen Regelung des § 218 hat sich die CDU/CSU aber abgefunden und es wird aktuell keine Änderung angestrebt. Alle weiteren genannten Differenzen sind gerade keine spezifisch christlich zu begründenden. Zum zweiten muss ein bestimmtes Verständnis vom Verhältnis der Religion zum Staat mit „vorausgesetzt“ werden, damit man nicht mehr bei den konservativen Parteien mitarbeitet, sondern nach Alternativen sucht. Wenn man, um ein Beispiel zu nennen, der Ansicht ist, Gott habe autoritativ die Ehe als solche von Mann und Frau festgelegt, dann muss in einem Weltbild, in dem Gott über dem Staat steht, diese Position auch durchgesetzt werden. Ein solches Weltbild würden wir aber heute als fundamentalistisches bezeichnen. Nun ist es gerade der Vorwurf der Christen in der AfD, dass von der CDU/ CSU dieser Wille Gottes staatlich nicht durchgesetzt werde. Man kann und will nicht akzeptieren, dass es auch andere Positionen in einer sich christlich nennenden Partei gibt.

Die Grundsatzerklärung der Christen in der AfD beginnt nun damit, dass man die Neutralität des Staates gegenüber den religiösen Ansichten seiner Bürger hervorhebt. Nun ist der Staat keinesfalls neutral gegenüber den religiösen Ansichten, er ist nur nicht parteiisch. Er akzeptiert die Gestaltwerdung von Religion nur insoweit, wie diese sich im Rahmen der geltenden Rechtsordnung bewegt. Er verlangt von religiösen Menschen durchaus die Geltung der Gesetze der Bundesrepublik Deutschland auch dort anzuerkennen, wo diese eventuellen religiösen Überzeugungen widersprechen. Der Neutralität des Staates stellen die Christen in der AfD nun das so genannte Böckenförde-Diktum gegenüber. Das ist ein oft missverstandener, inzwischen zu einer Art Mantra der religiösen Rechten gewordener Satz von Ernst Wolfgang Bockenförde von 1964, wonach der freiheitlich säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Zunächst einmal ist das nur eine Rechtsmeinung, keinesfalls Rechtsgrundlage. Böckenförde wollte seinerzeit, noch vor dem II. Vatikanum, den Katholiken die Idee des säkularen Staates schmackhaft machen, indem er darauf hinwies, dass dieser sich notwendig aus Quellen speise, zu denen unbestritten auch das Christentum gehöre. Keinesfalls hat Böckenförde behauptet, das Christentum sei das Fundament des heutigen Verfassungsstaates. Dieser wurde ja auch dem Christentum mehr abgerungen als von diesem befördert. Für die Christen in der AfD ist aber die Berufung auf das Böckenförde-Diktum die Legitimation, die Demokratie bloß als eine Art Regelwerk zu begreifen, das formal dazu dient, den in Wahlen zum Ausdruck gekommenen Mehrheitswillen umsetzbar zu machen. Das ist aber nicht ganz zutreffend. Tatsächlich enthält die demokratische Grundordnung mehr als das. Sie benennt einige Punkte, die auch vom Mehrheitswillen nicht abgeändert werden könnten. Selbst wenn eine christliche oder säkulare Mehrheit es wollte, können bestimmte Grundrechte in Deutschland nicht abgeschafft werden (sog. Ewigkeitsklausel). Und diese Grundrechte betreffen alle Menschen, nicht nur die Bürger des Staates. Aus dem Böckenförde-Diktum folgert das Papier nun:

Insofern ist in der Demokratie weniger das technische Regelwerk entscheidend, nach dem Entscheidungen getroffen werden, sondern vielmehr das sittliche Fundament, auf dessen Grundlage die Bürger ihre Entscheidungen treffen. Ohne dieses sittliche Fundament kann auch eine Demokratie unmittelbar in die Barbarei führen.

Es ist hier schon absehbar, worauf diese Argumentation hinausläuft. Unter der Hand wird aus dem Christentum als einer Quelle von Voraussetzungen, auf denen der Staat basiert (Böckenförde nennt noch Humanismus und Aufklärung als weitere Quellen), ein quasi naturrechtliches Fundament. Das ist aber etwas ganz anderes. Und ich glaube nicht, dass die Mehrheit derer, die sich für die AfD entscheiden, diese Position einer naturrechtlichen Verpflichtung auf bestimmte göttliche Vorgaben teilen würde. Deshalb nennen die Christen in der AFD dies lieber „das sittliche Fundament“. Konkret wird es dann im Folgenden:

Wir glauben, dass Gott die Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen und auch mit der Freiheit des Willens und mit Verstand begabt hat. Der Mensch ist also frei, sich für oder gegen Gott, für oder gegen das Gute zu entscheiden.

Was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Christen in der AfD hier ein ganz bestimmtes theologisches Konzept zum grundsätzlichen erklären. Wenn Worte eine Bedeutung haben, dann ist die Festlegung auf dieses theologische Konzept in den ersten Sätzen der Grundsatzerklärung mehr, als nur eine kontingente theologische Formel. Sie ist programmatisch. Hier tun sich zum ersten Mal klare Differenzen zur Kirche auf. Keinesfalls ist das so Beschriebene konsenstheologisch, es ist vielmehr extrem kontroverstheologisch. Keinesfalls glauben „die Christen“ der Wille des Menschen gegenüber Gott sei frei. In der historischen Situation der Entstehung des Protestantismus in Deutschland war es gerade der besondere Akzent Martin Luthers mit dem Apostel Paulus und dem Kirchenvater Augustinus die Alleinwirksamkeit der Gnade Gottes hervorzuheben. Für Protestanten ist die Frage der sola gratia keine Kleinigkeit. Mit den Worten der populärkulturellen Wikipedia:

„Gottes ewige Gerechtigkeit sei ein reines Gnadengeschenk, das dem Menschen nur durch den Glauben an Jesus Christus gegeben werde. Keinerlei Eigenleistung könne dieses Geschenk erzwingen. Auch der Glaube, das Annehmen der zugeeigneten Gnade, sei kein menschenmögliches Werk. Damit war für Luther die gesamte mittelalterliche Theologie mit ihrer kunstvollen Balance zwischen menschlichen Fähigkeiten und göttlicher Offenbarung (Synergismus) zerbrochen.“

Wenn nun das Grundsatzpapier der Christen in der AfD entschieden gegen Luther und seine Theologie argumentiert, fragt sich, was das für Protestanten bedeutet. Mir ist kein Grundsatzpapier einer bundesdeutschen Partei bekannt, in der so entschieden gegen den Glauben von 23 Millionen Protestanten Position bezogen wird. Es gibt hier und da naturrechtliche Elemente, aber Festlegungen in kontroverstheologischen Punkten gibt es nicht. Wer sich an Luther und Calvin hält und zugleich das Grundsatzpapier der Christen in der AfD Ernst nimmt, muss hier größten Abstand wahren. Er wird die AfD dann nur wider seine theologischen Überzeugungen wählen können. Denn wenn ich nicht glaube, dass sich der Mensch frei für oder gegen Gott entscheiden kann, könnte ich auch einem Programm, das sich aus der gegenteiligen Überzeugung ableitet, nicht mehr folgen. Noch deutlicher wird die normative Setzung im Folgenden:

Die “Gleichwertigkeit” des Menschen vor Gott bedeutet aber auch eine grundsätzliche Gleichheit der Rechte und Pflichten gegenüber der Staatsmacht, die ja Gottes Autorität vertritt, und auch im zwischenmenschlichen Verhältnis gelten unumstößliche Regeln, die der Willkür Grenzen setzen.

Nun, einiges davon ist mehr dahergeredet als zutreffend. Über 2000 Jahre hat die in den biblischen Texten sich angeblich darstellende Gleichwertigkeit des Menschen vor Gott keinesfalls dazu geführt, dass die Christen für die Gleichwertigkeit der Menschen eingetreten wären. Weder was die Rechte von Frauen betrifft, noch was die Rechte von Kindern betrifft, noch was die Rechte von Sklaven betrifft, noch was die Rechte von Fremden betrifft, noch was die Rechte von Juden betrifft, noch was die Rechte von Muslimen betrifft, noch was die Rechte von Hugenotten betrifft, und man könnte diese Liste ewig fortsetzen. Unumstößlich war keine dieser Regeln – solange es den Christen nur passte. Das sollte davor warnen, heutige politische Forderungen mit dem Mäntelchen unumstößlicher, weil christlich-naturrechtlich begründeter Regeln zu begründen. Das gilt für die Abtreibung, für die Homosexualität, die Ehe für alle, die Geschlechtergerechtigkeit und vieles mehr. Es hat mehr mit der Ideologie zu tun, die Religion zur Legitimation seiner eigenen Interessen heranzieht, als mit den unverzichtbaren Grundlagen einer Religion.

Selbstverständlich gilt für das Gewissen des einzelnen Christen, dass es Situationen gibt, in denen man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen. Die evangelischen Christen bekennen oder bezeugen das in der V. These der Barmer Theologischen Erklärung unter Bezug auf 1. Petrus 2, 17. Gerade dort wird aber deutlich, dass wir nicht der Meinung sind, dass der Staat das Vollzugsorgan religiöser Konzepte ist. Seine Aufgabe ist es, für Recht und Frieden zu sorgen.

„Die Schrift sagt uns, dass der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.

Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.“[7]

Wir können den Staat erinnern an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und die Regierung (und die Regierten!) an ihre Verantwortung. Aber er ist nicht Umsetzungsmaschine religiöser Konzepte. Nur Klerikalfaschismus sieht das anders.[8]

Das Papier wechselt nun zu einem Herzensthema der AfD, dem Kulturchristentum. Das Christentum als solches in seiner orientalischen Genese interessiert ja eigentlich weniger, aber die angeblich exklusiven kulturellen Einflüsse des Christentums umso mehr.

Für die Heranbildung der europäischen Nationen war der Einfluss des Christentums entscheidend, das nach und nach alle Bereiche der Kultur durchdrang. Ohne Kenntnis der christlichen Grundlagen ist weder die Architektur der Gotik, noch die Musik Johann Sebastian Bachs oder die Philosophie von Johann Gottfried Herder zur Gänze zu verstehen.

Das sind so Alles-oder-Nichts Thesen, bei denen man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Der Begriff der europäischen Nationen spiele meines Wissens zur Zeit der Gotik überhaupt keine Rolle. Wenn man dagegen meint, Europa habe sich im Herrschaftsgebiet von christlichen Fürsten gebildet und ausdifferenziert, so ist das sicher wahr. So aber klingt es, als ob das Christentum explizit den Gedanken an diverse europäische Nationen gefördert hätte – das ist ganz sicher unwahr. Man könnte eher sagen, die deutschen Kaiser hatten erstmals die Idee eines geeinten Europas als einer Nation – also genau das, wogegen die AfD einmal angetreten ist. Ob das Christentum die Nationalstaaterei begünstigt hat – darüber müssen Historiker entscheiden. Einleuchten will mir das – zumindest im Blick auf die Zeit bis 1517 – nicht. Die Konfessionen haben dann gewiss für diverse nationalstaatliche Abgrenzungen gesorgt. Ein Europa der Vaterländer lässt sich daraus aber nicht ableiten.

Ob man die Gotik ohne die christlichen Grundlagen verstehen kann? Kommt darauf an. Architektonisch gewiss. Ideengeschichtlich vermutlich nicht. Wie steht es dann aber mit der antiken Basilika?[9] Können wir die verstehen ohne die römischen Grundlagen? Und wie wäre es mit der Alhambra, einem der schönsten Bauwerke in ganz Europa?[10] Ist sie verstehbar ohne die Grundlagen des Islams? Und was ist mit dem Turm der Kathedrale von Teruel im Mudéjar-Stil? Kann man sie verstehen ohne die dort vollzogene Symbiose von Elementen aus Islam und Christentum nachzuvollziehen?[11] Was ist mit der großen portugiesischen Synagoge in Amsterdam?[12] Ist sie verstehbar ohne die Grundlagen des sephardischen Judentums? Und die benachbarte Synagoge – ist sie verstehbar ohne die Grundlagen des aschkenasischen Judentums?[13] Sobald man die Beispiele wechselt, wird die Argumentation der Christen in der AfD kontingent. Keine Architektur, keine Kunst ist restlos verstehbar ohne den kulturellen Kontext – und das heißt nicht ohne die sie motivierende Religion(en). Das ist trivial, begründet aber keine Dominanz dieser Religion, sondern schildert nur ein notwendiges Element kulturgeschichtlicher Hermeneutik. Da sollte man ein bisschen mehr Hegel lesen.

Noch unsinniger wird es bei der Musik, der Literatur oder der Philosophie. Was machen wir mit Spinoza, Maimonides, Avicenna oder der Schule von Muʿtazila? Klingt letztere nicht fast schon wie eine Zusammenfassung der Lehren der Christen in der AfD: Gott ist eine absolute Einheit. Der Mensch ist frei. Alles für die Erlösung des Menschen notwendige Wissen geht aus seiner Vernunft hervor. Aber das kann nicht sein, denn der Islam gehört nicht zu Deutschland.

Gotik, Bach und Herder sind schon eine lustige Zusammenstellung für Deutsche Christen. Wären wir hier nicht bei einem ganz anderen Thema würde ich die Verfasser ja gerne der Freimaurerei verdächtigen. Letztlich ist die Wahl der Beispiele aber merkwürdig beliebig. Schon wenn man statt Herder Lessing genommen hätte, wäre man bei anderen Schlussfolgerungen gelandet, von Goethe ganz zu schweigen. Und hatte Kaiser Wilhelm nicht die Neo-Romanik nur deshalb favorisiert, weil er sich von der welschen Neu-Gotik absetzen wollte? Wie man es dreht und wendet, der Verweis auf die religiösen Bezüge von Kultur ergibt kein stimmiges Bild.

Die sich an Benedikt XVI. anschließende Behauptung der Christen in der AfD, mit der „Verdunstung“ des (christlichen) Glaubenswissens würden die Grundlagen unseres Staatswesens und unserer Zivilisation gefährdet, ist daher schlicht Unsinn – es sein denn man bezieht explizit und expressis verbis den Islam (Philosophie, Mathematik, Perspektive, Kalligraphie, Architektur), das Judentum (Philosophie, Mystik, Architektur) und auch den Buddhismus (Philosophie[14]) mit ein. Gut hegelisch wäre ja auch Benedict zu entgegnen, dass das Glaubenswissen keinesfalls nur verdunstet, sondern in der säkularen Kultur aufgehoben wird. Es ist gerade die säkulare Kultur, die das religiöse Erbe in Museen kultiviert. Wie man aus dem Wasserkreislauf lernt, folgt nach der Verdunstung der Niederschlag, die Grundwasserneubildung und der Wiedereintritt in den Wasserkreislauf. Man sollte Metaphern sorgfältig wählen.[15]

Das nächste Thema ist offenbar ein Herzensanliegen der Christen in der AfD und zeigt auch, woher ein Gutteil ihrer Vertreter kommt: aus dem Kontext der sich selbst so bezeichnenden Lebensschützer. Lebensschützer ist aber ein Selbstetikett, in der Sache oft ein Euphemismus.[16] Jedenfalls sind nahezu alle Topoi dieser aus Amerika kommenden Bewegung auch auf der Agenda der Christen in der AfD: Schwangerschaftsabbruch, Sterbehilfe, Klonen, Pränataldiagnostik und Biotechnologie. Es ist eine Übersetzung der Ideologien der amerikanischen fundamentalistischen Rechten über den Atlantik nach Europa, Ausdruck einer Hoffnung auf eine europäische Tea-Party. Die entsprechende amerikanische Gegenbewegung Pro-Choice gibt es in Europa nicht. Die Christen in der AfD arbeiten jedenfalls die genannten Punkte ab und befinden sich dabei in erkennbarer Nähe zu Teilen des konservativen Katholizismus, aber kaum im Kontext der ethischen Reflexionen des Protestantismus. Dieser hat in all diesen Fragen höchst ausdifferenzierte theologische Perspektiven, die sich nicht auf ein Für oder Gegen reduzieren lassen.

Noch deutlicher wird die Differenz zwischen Protestantismus und den Christen in der AfD beim Thema Ehe und Familie. Weniger in der Position selbst – hier wird es auch viele Protestanten geben, die die Ehe weiterhin vorrangig als Verbindung von Mann und Frau ansehen, als vielmehr in der Art der Begründung. Denn die Ehe ist nach Martin Luther ein weltlich Ding:

„Es kann ja niemand leugnen, dass die Ehe ein äußerlich weltlich Ding ist wie Kleider und Speise, Haus und Hof, weltlicher Obrigkeit unterworfen.“ ... „Weil die Hochzeit und Ehestand ein weltlich Geschäft ist, gebühret uns Geistlichen und Kirchendienern nichts, darin zu ordnen oder regieren.“

Die Ehe stellt dementsprechend nur einen Rechtsakt dar, durch den zwei Partner in aller Öffentlichkeit freiwillig und verbindlich eine Ehe eingehen. Für Luther war die Ehe eine „weltliche Hantierung“. Selbstverständlich hat Luther nicht an die Ehe von Homosexuellen gedacht, aber er war sich bewusst, dass das Zusammenleben der Menschen vom Staat geregelt werden muss und es keine „christliche Ehe“ im sakramentalen Sinn gibt. Anders die AfD:

Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. Die Ehe ist die natürliche Gemeinschaft zwischen Mann und Frau auf der Basis von Gleichberechtigung, gegenseitigem Respekt und Liebe. ... Wir erkennen auch deutlich, dass es einflussreiche Interessensgruppen gibt, deren offensichtliches Ziel die Zerstörung der christliche Ehe ist. Dem treten wir mit allem nötigen Nachdruck entgegen.

Wenn die Autoren in der AfD daher in ihrer Grundsatzerklärung die Ehe einfach expressis verbis als „christliche Ehe“ definieren und damit den sakramentalen Charakter der Ehe im katholischen Verständnis betonen, dann wird das mit den protestantischen Positionen kaum kompatibel sein. Auch hier muss ein Protestant sich darüber klar sein, dass er die Pfade Martin Luthers verlässt, wenn er dieser Position folgt.

Die Position zum konfessionellen Religionsunterricht ist insofern interessant, weil sie mit den schulischen Realitäten nichts zu tun hat und noch hinter die aktuellen Positionen der katholischen und evangelischen Kirchenvertreter zurückgeht, die ja über die akzentuierte Betonung des konfessionellen Unterrichts inzwischen hinaus sind. Das Papier der Christen fordert nun – Nachtigall ick hör dir trapsen – ein alternatives Schulfach „Religionsgeschichte“. Es wird nicht ganz deutlich, ob hier ein Ergänzungsfach zum konfessionellen Religionsunterricht vorgeschlagen wird, oder ob nicht doch ein allgemeines Schulfach Religionsgeschichte eingerichtet werden soll, das Ethik und Religion ersetzen soll. Das würde alte Forderungen der Deutschen Christen nach einem solchen Fach im Sinne einer konfessionslosen Deutschen Volkskirche aufgreifen.

Die letzten Punkte des Papiers akzentuieren das Verhältnis zum Islam und dienen der daraus abgeleiteten Hervorhebung des Christentums. Die Argumentation geht so, dass – weil der Islam in den arabischen Ländern keine Rücksicht auf christliche Minderheiten nimmt – auch in Europa die Gefahr bestehe, dass, wenn der Islam politisch einflussreich wird, die Christen unterdrückt werden. Nun könnte man mit der gleichen Plausibilität vor dem Katholizismus warnen, wenn man an das Schicksal der Hugenotten denkt, vor den Reformierten, wenn man an das Schicksal der Katholiken in den Niederlanden denkt, vor dem Luthertum, wenn man an das Schicksal der Katholiken in den protestantischen Stammländern denkt. Und natürlich vor dem Christentum allgemein, wenn man an das Schicksal der Juden in der ganzen Welt denkt. Ob auch hier der Satz gilt: „Über diese bedeutsamen Sachverhalte muss endlich eine freie und vorurteilslose Diskussion möglich sein, bei der keinerlei Denk- und Sprechverbote angebracht sind.“

Zu dem sich anschließenden Satz „Die theologischen Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christentum werden zumeist überschätzt, da die Kernbotschaften des Christentums, insbesondere die Gottessohnschaft Jesu und Seine Wiederauferstehung, vom Islam geleugnet werden“ habe ich mich weiter oben schon geäußert. Er ist skandalös, weil er Implikationen hat, die eben auch das Judentum und seinen Glauben betreffen, die aber nicht benannt werden, weil das in Deutschland ganz andere Reaktionen hervorrufen würde. Da ich aber durchaus analoge Diskussionen aus dem Lager der Pius-Brüder kenne, glaube ich, dass die Übertragung auf das Judentum mitgedacht ist. Jedenfalls ist die Ausgrenzung derer, die nicht das Dogma von der Gottessohnschaft Jesu und seiner Auferstehung teilen bemerkenswert.

Den Schluss bildet die Forderung nach Verschärfung der Gesetze spezifisch zum Schutz des christlichen Glaubens.

Zuletzt ist uns der Schutz des christlichen Glaubensbekenntnisses ein besonderes Anliegen. Derzeit sind unter dem Deckmantel der “Freiheit der Kunst” in einem Maße Beleidigungen und Schmähungen möglich, wie sie für andere Glaubensbekennnisse zu Recht undenkbar wären. Wir sehen hier die dringende Notwendigkeit einer klaren gesetzlichen Regelung zum Schutz des religiösen Befindens der christlichen Mehrheitsbevölkerung.

Hier wird noch einmal die beabsichtigte Transformation der deutschen Gesellschaft durch die AfD überaus deutlich. Denn der Schutz des christlichen Glaubensbekenntnisses ist in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland ja gegeben – er ergibt sich aus der positiven Religionsfreiheit: „Die positive Religionsfreiheit umfasst das Recht, sich eine Religion zu bilden und zu haben (die persönliche innere Überzeugung „forum internum“), seine Religion zu bekennen und nach seiner religiösen Überzeugung zu leben“.[17] Das ist auch überhaupt nicht strittig. Ganz im Gegenteil, tendenziell wird die christliche Religion z.B. im Blick auf die Feiertage privilegiert. Das Papier konstruiert nun eine besondere Schutzbedürftigkeit des christlichen Glaubensbekenntnisses vor Beleidigungen und Schmähungen. Auch diese ist expressis verbis im Gesetz § 166 StGB gegeben:

  1. Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
  2. Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

Freilich schützt der nur den öffentlichen Frieden, nicht das Bekenntnis als solches oder die Gefühle der Gläubigen. Verlangt wird nun ein Bruch mit dieser Tradition. Angesonnen wird, dass der deutsche Staat spezifisch das „christliche Glaubensbekenntnis“ als Glaubensbekenntnis der Mehrheitsbevölkerung schützt. Wenn aber schon die Bestreitung der Gottessohnschaft Jesu und der Auferstehung Christi zu den Schmähungen des christlichen Glaubensbekenntnisses führen würde (man erinnere sich an die Debatte um Navid Kermanis Aufsatz in der NZZ), dann wäre man nahe an einem Gottesstaat.

Auffällig ist aber noch ein anderer Aspekt, der ebenfalls eine lange historische Tradition hat: die Invektive gegen die Kunst. Angeblich werde „unter dem Deckmantel der ‚Freiheit der Kunst‘” die Religion geschmäht. Freiheit der Kunst wird dabei in Anführungsstriche gesetzt. Gerade in Deutschland sollte man an diesem Punkt hellhörig werden. Die Kunstfreiheit zählt aus historischen Gründen zu den am stärksten geschützten Grundrechten in Deutschland. Sie ist ein zentrales Element bürgerlicher Freiheit und wird vom Bundesverfassungsgericht als wesentlich für die demokratische Grundordnung eingeschätzt. An diesem Punkt erweist es sich z.B., wie es mit der Grundwertebindung der AfD bestellt ist und auch mit ihrem Bekenntnis zu den Grundwerten der Aufklärung.[18] Die Erkenntnis muss lauten: schlecht ist es darum bestellt. Denn hier optiert das Papier glasklar für eine Einschränkung der Kunstfreiheit zugunsten der religiösen Gefühle und der Glaubensbekenntnisse der Mehrheitsbevölkerung (mit den Muslimen hat es die AfD ja nicht so, die werden auf deren Seiten regelmäßig als Muslime beleidigt). Dass es der AfD um den Schutz der Gefühle einer angeblichen Mehrheitsbevölkerung geht, zeigt, dass sie von unserem Rechtssystem überhaupt nichts verstanden hat. Bundesrichter Fischer hat es seinerzeit präzise gesagt:

Wer „noch einen privilegierten Sonderschutz für solche ‚Teile‘ fordert, die sich, sei es inhaltlich oder nur organisatorisch, auf religiösen ‚Glauben‘ beziehen, unterläuft im Grunde genommen den demokratischen Konsens. Er setzt nämlich neben das Rechtsprinzip der Gleichberechtigung noch ein System der ‚bevorzugten‘ Berechtigung, der ‚besonderen‘ Schutzbedürftigkeit. Das sind Reste einer Lebenswirklichkeit, die schon lange nicht mehr unsere ist. Wir können darauf ohne jede Einbuße an Sicherheit und Frieden verzichten. Die Religiösen in unserer Gesellschaft könnten sich daran gewöhnen, dass ihr Glaube Privatsache und kein öffentliches Schutzgut und dass die Beleidigung von religiösen Gefühlen und Überzeugungen zwar eine Unverschämtheit ist, in einer freien Gesellschaft aber bis an die Grenze zur Volksverhetzung oder der individuellen Beleidigung hingenommen werden kann und muss – wie jede andere Gefühlsverletzung auch.“[19]

Hier entscheidet sich die Haltung zur Rechtsstaatlichkeit und zur Aufgeklärtheit der Bundesrepublik Deutschland. Und hier zeigt sich, dass die AfD diesen in der Aufklärung errungenen und vom Humanismus vertretenen freien Gesellschaftsbegriff zugunsten eines das Christentum privilegierenden Staates überwinden will. Jeder Angehörige religiöser Minderheiten, jeder Atheist und Agnostiker, jeder aufgeklärte Christ muss dagegen Widerstand leisten.

Es fällt auf, dass im Papier der Christen in der AfD die zentralen Fragen, in denen die AfD mit den Kirchen überkreuz liegen, überhaupt nicht zur Sprache kommen. Alles das, was die weltweite Ökumene betrifft, was die interreligiösen Anstrengungen der letzten Jahrzehnte angeht – Fehlanzeige. Weder die sich aus den Werken der Barmherzigkeit und Jesu Rede in Matthäus 25, 34-46 zwingend ableitende Forderung nach Aufnahme der Flüchtlinge noch die das Christentum charakterisierende Weltbürgerlichkeit (Galater 3, 28) werden thematisch. In Kassel hat die AfD angekündigt, künftig unter dem Matthäus 25 thematisierenden Kunstwerk auf dem Königsplatz gegen die politische Instrumentalisierung des Evangeliums und gegen die Ausländer zu demonstrieren. Das steht in elementarem Kontrast zur politischen Instrumentalisierung des Christentums durch die Christen in der AfD in ihrem Grundsatzpapier. Insofern ist diese Grundsatzerklärung durch und durch eine Vernebelungsaktion. Aber selbst in dem wenigen, was in religiöser Perspektive als Grundsatz festgehalten wird, wird ein evangelischer Christ nicht folgen können – oder er gibt Wesentliches auf, was zum evangelischen Glauben gehört. Wenn das eine parteipolitische Ökumene sein soll, ist es eine merkwürdige Ökumene. So gesehen, erweist sich hier die AfD eher als Partei der Pius-Brüder.


2. Das kirchenpolitische Manifest der AfD

Anmerkungen


[7]    Vgl. Bülow, Vicco von von; Heimbucher, Martin; Lasogga, Mareile (Hg.) (2009): 75 Jahre Barmer Theologische Erklärung. Eine Arbeitshilfe zum 31. Mai 2009. Hannover: Kirchenamt der EKD; Amt der UEK; Amt der VELKD.

[16]   Nach einer Untersuchung in den USA befürworten ¾ der dortigen Lebensschützer die Todesstrafe.

[18]   Bundesrichter Thomas Fischer hat diese Leistung der Aufklärung bündig und schön einmal so zusammengefasst: „Wer heute mit einem Theologen darüber streitet, ob der Mensch eine Erfindung Gottes oder Gott eine Erfindung des Menschen sei, wird in Europa nicht gekreuzigt, sondern freudig zur Podiumsdiskussion eingeladen.“ http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-03/blasphemie-gotteslaesterung-straftatbestand-religion/seite-2

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/110/am607a.htm
©Andreas Mertin 2017