Die Rückkehr der Deutschen Christen II

Das kirchenpolitische Manifest

Andreas Mertin

Das kirchenpolitische Manifest

Ein katholischer Berufsschullehrer ist für dieses Manifest verantwortlich, das aber explizit als kirchenpolitisches Manifest der AfD in Rheinland-Pfalz auf deren Seiten vertrieben wird. Hier treffen wir auf vieles, was schon die Grundsatzerklärung der Christen in der AfD bestimmte. Auch das Manifest setzt ein mit der Berufung auf das Böckenförder-Diktum, freilich ohne dieses beim Namen zu nennen.

„Die europäische Kultur wurde vom Christentum tiefgreifend geprägt und durch Humanismus und Aufklärung weiter entwickelt. Die AfD bekennt sich zu den daraus resultierenden Grundwerten und zu einem Weltbild, das auf der Trennung von Kirche und Staat beruht. Diese Werte und unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung wollen wir bewahren und für den Erhalt und die Weiterentwicklung unserer Kultur und unserer Lebensart in Frieden, Freiheit und Sicherheit kämpfen.“

Ob es überhaupt eine „europäische Kultur“ gibt, ist unter Fachleuten fraglich. Das europäische Parlament bekennt sich dazu, in Zukunft eine europäische Kultur zu entwickeln. Das würde implizieren, dass es eine solche noch nicht gibt, das Christentum sie also auch nicht geprägt haben kann. Nur im Futur II wäre eine solche Aussage möglich: Wenn es einmal eine europäische Kultur geben wird, wird auch das Christentum sie geprägt haben. Was der Verfasser aber wohl meint, ist, dass die Kulturen in Europa durch das Christentum, durch den Humanismus und durch die Aufklärung geprägt wurden. Das ist auf jeden Fall richtig. Ob sich daraus freilich Grundwerte ergeben und wenn welche, scheint mir nicht klar. Es müssten ja solche sein, die sich unmittelbar – und zu allen Zeiten – aus der christlichen Lehre ableiten lassen und nicht nur neuzeitliche und moderne Akklamationen zu gesellschaftlich erkämpften Grundrechten sein.

Interessant ist nun ein Zungenschlag, der bei der Erstlektüre beinahe untergeht. Es heißt ja

  • unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung
  • unsere Kultur
  • unsere Lebensart

Also nicht die Kultur, die Lebensart, sondern unsere Kultur, unsere Lebensart. Wenn man dabei an „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ denkt, ist das keineswegs falsch. Aber es stellt sich doch die Frage nach dem Kollektiv, das hinter dem „unser“ steht. Das kann ja viel bedeuten:

  • die Deutschen
  • die Bewohner Deutschlands
  • Die Menschen in Europa
  • Alle Menschen

Das Wort unser – so viel wird sofort deutlich – ist hier ein klassischer Kontrast- und Kampf-Begriff, denn es wird hinterhergeschoben,

bei aller Betonung der eigenen Identität [sei das] nicht mit einer Abwertung oder gar Geringschätzung anderer Kulturen und Religionen verbunden ...

Das läuft letztlich auf das Verständnis eines Europas der Vaterländer hinaus, zu dem sich die AfD ja auch bekennt.[20] Auffällig nun die Verknüpfung von eigener Kultur und eigener Religion mit der eigenen Identität.

Judentum und Islam gehören dann nicht zur deutschen Kultur und zur deutschen Identität – sonst macht das Argument keinen Sinn. Denn das Gegenteil von „unsere Kultur und unsere Lebensart“ ist „andere Kultur und andere Religion“. Das ist 75 Jahre nach der beinahe vollständig vollzogenen Vernichtung des Judentums durch unsere Kultur schon bemerkenswert.

„Unsere Identität“[21] hat also nichts mit „anderen Kulturen und Religionen“ zu tun? Und sofort wünscht man sich eine Kurzfilm analog jenem, mit dem das deutsche Handwerk uns deutlich zu machen sucht, auf was wir eigentlich verzichten müssten, wenn es kein Handwerk gäbe.[22] Mit anderen Worten: Was bliebe von unserer Kultur – ohne Jesus Christus (kein Europäer), ohne Paulus (kein Europäer), ohne Petrus und die anderen Jünger (keine Europäer), ohne Mathematik (Mesopotamien, Indien, China), ohne weite Teile der Philosophie (arabisch überliefert), ohne die jüdische Religion (in der Genese nicht europäisch)? Wir wären das, für das uns die Araber um das Jahr 1000 gehalten haben: ein barbarischer Haufen ungebildeter Menschen.

Man muss schon ein extrem verzerrtes Weltbild haben, um die eigene Identität in Abgrenzung zu anderen zu betonen. Da halte ich es mit der Integrationsbeauftragten Aydan Özuguz: "Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar." Und finde sie und mich dabei in Übereinstimmung mit den Gründern der Walhalla, der Ruhmesstätte der Deutschen: „Kein Stand nicht, auch das weibliche Geschlecht nicht, ist ausgeschlossen. Gleichheit besteht in der Walhalla; hebt doch der Tod jeden irdischen Unterschied auf.“ Nur „teutscher Zunge zu seyn, wird erfordert, um Walhallas Genosse werden zu können“, denn die Sprache „ist das große Band, das verbindet, wäre jedes andere gleich zernichtet; in der Sprache währt geistiger Zusammenhang“. So ist es.

Aber noch einmal zurück zum Zungenschlag des Textes: neben dem hervorgehobenen „unser“ fällt ja noch etwas anderes auf: nämlich die Lebensart, die es zu wahren gilt. Lebensart? Ist die von unserer Verfassung geschützt? Und überhaupt: was ist unsere Lebensart? Ich unterstelle einmal (obwohl ich es wirklich nicht weiß), dass nicht zwingend die nationalsozialistische Rede vom unbedingten Gebot der Erhaltung des deutschen Volkes bzw. der Reinhaltung von deutscher Art gemeint sein muss. Was aber dann?

Lebensstil scheint ja nicht gemeint zu sein – den müsste (und dürfte) man auch nicht schützen. Klar, wir kennen eine französische Lebensart und eine italienische, manche sogar ein bayerische (im Sinne von Kunst des Lebens) – aber eine deutsche? Und was ist an ihr so bedeutsam, dass man für ihren Erhalt notfalls kämpfen muss? Die Brisanz der Frage wird deutlich, wenn man sich fragt, wie man dann wohl das „aus der Lebens-Art schlagen“ bezeichnet? Ist das dann eine Entartung? Man weiß es nicht, aber die Benutzung des Wortes Lebensart geschieht ganz sicher nicht zufällig. Gemeint ist das ressentimentgeladene: die leben anders, haben andere Bräuche und Sitten, eine andere Religion, m.a.W. „die sind nicht von unserer Art“. Das erinnert doch sehr an biologistische Argumentationen.

Wenn aber nun doch der zu schützende Lebensstil gemeint wäre? Lebensstil = Deutsche Art®? Lebensstil erscheint „als eine Bezeichnung für spezifisch wiedererkennbare Kombinationen von Freizeitpräferenzen (z. B. welche Musik man hört), aber auch beruflich oder familiär für einen Stil, der die soziale Distanz zwischen den jeweiligen diesen Stil Pflegenden verringert (bzw. das Vertrauen auf die Reaktionen der anderen erhöht) oder gegenüber anderen vergrößert (die sogenannten „unsichtbaren Schranken“ errichtet). Das bezieht sich auf Merkmale wie Wohnstil, Kleidung, Sprachgestus oder Aufenthaltsorte.“[23]

Was aber heißt es dann, man wolle „für den Erhalt und die Weiterentwicklung unserer Kultur und unserer Lebensart in Frieden, Freiheit und Sicherheit kämpfen“. Geht es nur darum, dass man auch in Zukunft als Frau Jeans tragen oder die Bluse weiter als anderswo öffnen kann?[24] Oder geht es um die Entwicklung eines engeren Begriffes Deutscher Kultur: sozusagen Helene Fischer statt Yusuf Islam? Henry Maske statt Felix Sturm? Manuel Neuer statt Mesut Özil? Wie man es dreht und wendet, es wird kein Segen daraus. Ganz abgesehen davon, wie sollte diese Leitkultur durchgesetzt werden? Durch Verordnungen, Vorgaben, Zwang?

Jürgen Habermas hat in der Debatte zur Leitkultur festgehalten, dass eine liberale Verfassung verlangt, dass man zwischen der im Lande tradierten Mehrheitskultur und einer allen Bürgern gleichermaßen zugänglichen und zugemuteten politischen Kultur unterscheidet. Man müsse erwarten, dass eingewanderte Staatsbürger sich in die politische Kultur einleben. Alles andere aber widerspreche einem liberalen Grundrechtsverständnis.[25] Das zeigt zugleich, dass die AfD an einem liberalen Grundrechtsverständnis nicht interessiert ist. Sie will dieses keinesfalls erhalten und schützen, sondern modifizieren. Ihr geht es nicht um die Anerkenntnis der politischen Kultur, sondern um die der Mehrheitskultur. Das wird im Manifest mehr als deutlich:

Es ist das legitime Recht jedes Volkes, seine Traditionen und spezifischen Eigenarten zu verteidigen und zu bewahren und sich deren Auflösung in einer multikulturellen Gesellschaft zu verweigern.

Das ist die Abschaffung des liberalen Grundrechtsverständnisses zugunsten eines völkischen, wenn auch in einer modernisierten Form, die die Reizworte des 19. Jahrhunderts vermeidet. Es definiert die Deutschen nicht mehr durch die Vielzahl der Kulturen, aus denen sie stammen und in denen sie leben, sondern verschmilzt sie künstlich zu einer Kultur, die es von anderen abzugrenzen gilt.

Wir leben aber nicht einer derartigen Kultur, diese einheitliche deutsche Kultur gab es nie – sie ist eine Fiktion. Und genau aus diesem Grunde lässt sie sich auch nicht verteidigen, bewahren und gegen eine multikulturelle Gesellschaft durchsetzen. Es gehört zum Reichtum unserer Lebenswelt, und ich meine nicht nur der Lebenswelt der Gegenwart, dass wir Impulse anderer Kulturen quasi aufsaugen und uns aneignen. Das gilt etwa für die französische Kultur, die über Jahrhunderte Teil der deutschen Gelehrtenkultur war. Ich habe in Göttingen noch in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts Gelehrtenfamilien erlebt, bei denen beim Mittagessen das bilinguale Gespräch so selbstverständlich war, dass der Wechsel zwischen den Sprachen nicht einmal mehr bemerkt wurde. Ähnliches kann man heute noch in Saarlouis erleben. Das war kultureller Reichtum wie man ihn leider nur noch selten erlebt. Wir versuchen heute der nachfolgenden Generation bei der neuen Lingua Franca, dem Englischen, Ähnliches zu vermitteln. Das Judentum, um darauf zu kommen, war über Jahrtausende gezwungenermaßen eine kosmopolitische Religion, die Traditionen bewahrte, ohne dass sie staatlich geschützt waren. Aber es war eine kosmopolitische Religion. Warum also dieses verdammte Beharren auf angebliche Traditionen des deutschen Volkes und ihre Eigenarten. Ich bin Protestant und finde deshalb das Traditionsargument höchst befremdlich. Wäre ich AfDler würde ich vermutlich sagen, es entspricht nicht meiner Art. Aber wie kommt eine Partei dazu – und hier ausgerechnet die Christen in einer Partei –, mir meine Lebensart vorschreiben zu wollen? In meiner Wohnung hängen Kunstwerke von Künstlern aus ganz Europa: Franzosen, Spanier, Deutsche und manche, von denen ich die Nationalität nicht mal weiß. Das kümmert mich nicht. Ich möchte aber niemals in Zeiten zurück, in denen Künstler danach beurteilt werden, ob sie von welscher Art sind wie vor 100 Jahren Vincent van Gogh. Die spezifischen Eigenarten meines Volkes – ich könnte sie nicht benennen. Ich kann im Gespräch mit syrischen Flüchtlingen sagen, was berühmte deutsche Künstler sind – aber schon wenn ich deren Biografien beschreibe sind es europäische und nicht deutsche. Der von mir geschätzte Hans Holbein d.J. wird in Augsburg im Heiligen Römischen Reich geboren, geht dann nach Basel, dann nach Straßburg und schließlich nach London. Ist er ein deutscher Künstler – weil er dort geboren wurde? Ein Engländer – weil er dort lebte? Ein Europäer – weil er höchst multikulturell zwischen den Ländern und Konfessionen hin und her sprang? Ich weiß es nicht und in mir besteht ein unendlicher Widerwille, das festzulegen.

Deshalb – aus der multikulturellen Erfahrung eines Lebens, das sich vorrangig mit Kunst und Kultur beschäftigte – meine ich, dass es nicht das legitime Recht jedes Volkes ist, seine vorgeblichen Traditionen und seine vorgeblich spezifischen Eigenarten zu verteidigen und zu bewahren und sich deren Auflösung in einer multikulturellen Gesellschaft zu verweigern. Dieses Recht gab es noch nie und Kultur hat noch nie so funktioniert. Noch nie in 40.000 Jahren. Das lässt sich leicht zeigen. Die Höhlenmalereien in Nordspanien und Südfrankreich sind Kulturimporte aus Nordafrika. Die Neandertaler – das ortsansässige Volk mit seinen Traditionen und seinen spezifischen Eigenarten – kannte die Malerei nicht. Kultur ist importierter und angeeigneter Fortschritt. Kultur ist Kosmopolitismus, wie man bei Leonardo da Vinci sieht, der in der Nähe von Florenz in der Toskana geboren wurde, dann das Land wechselt und nach Mailand zog, nach Florenz zurückkehrte und schließlich über Mailand und Rom (damals jeweils andere Länder) nach Amboise in Frankreich wechselte, wo er starb. Das ist eine kulturelle europäische Existenz des 15. Jahrhunderts. Und es ist wenig plausibel, heute in Zeiten der Globalisierung zum nationalstaatlichen Denken zurückzukehren. So hat Kultur noch nie funktioniert. Man muss nicht zum Apologeten einer multikulturellen Gesellschaft im Sinne von Parallelgesellschaften werden, um das einzusehen und zu begrüßen. Kulturen im Plural sind Reichtum. Kultur im Singular bedeutet Armut und Verarmung. Deutschland verteidigt seine Traditionen, indem es sich den vielen Traditionen und Kulturen öffnet. Man kann an den Reisen der deutschen Künstler im 16. Jahrhundert nach Italien und nach Flandern gut beobachten, wie Multikulturalität ihr Schaffen bereichert. Ein Künstler wie Albrecht Dürer ist ein Paradebeispiel dafür.

Gerade angesichts der vielfältigen Herausforderungen der Gegenwart sehen wir in der Rückbesinnung auf unsere Wurzeln und die Bewahrung unserer Identität die notwendige Voraussetzung für die Gestaltung einer menschenwürdigen Zukunft. In diesem Sinne heißt es in der Präambel des Grundsatzprogramms der AfD: „Wir sind offen gegenüber der Welt, wollen aber Deutsche sein und bleiben. Wir wollen die Würde des Menschen, die Familie mit Kindern, unsere abendländische christliche Kultur, unsere Sprache und Tradition in einem friedlichen, demokratischen und souveränen Nationalstaat des deutschen Volkes dauerhaft erhalten.“

Auf die deutsche Kultur kann sich die AfD dabei nicht berufen. „Unsere Wurzeln“ liegen überall in Europa und „unsere Identität“ wurde von Juden und Muslimen, von Christen und von Atheisten geschaffen. Und auch das muss man sagen: „Nation“ ist keine religiöse Kategorie. Dieses Denken ist in Deutschland mit den „Deutschen Christen“ endgültig zu Grabe getragen worden.

Gleichwohl fühlen wir uns allen Menschen und Nationen besonders verbunden, deren Geschichte und Kultur ebenfalls vom christlichen Glauben geprägt ist. Insofern schätzen wir den weltkirchlichen, allumfassenden Charakter des Christentums, der in gewisser Weise die Einheit aller Menschen verdeutlicht.

Persönlich glaube ich dem Autoren schlicht nicht, was er da schreibt. Auf einer abstrakten Ebene mag es zutreffen, aber real? Ob ein AfD-Mitglied wirklich den Serben mehr schätzt als den muslimischen Döner-Verkäufer an der Ecke? Der ist schließlich von hier. Und wie wir alle wissen: „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.“ (Karl Valentin) Letztlich ist das nur lächerlich – und chauvinistisch. Was unterscheidet das von der White Supremacy, die von der Überlegenheit der Europiden schwafelt und diese statt an die Religion an die Rasse bindet? Deutschland ist ein säkulares Land, ein liberaler Verfassungsstaat und kein christlicher Gottesstaat. Und der Trick mit der Mehrheitskultur funktioniert nur, weil man Protestanten und Katholiken in einen (katholischen) Topf wirft und für sich vereinnahmt. Die Betonung der Weltkirche zielt ja nun gerade auf Rom. Römisch-katholisch aber sind wir nicht mehr in der Mehrheitskultur, sondern – zumindest in Deutschland – in der Minderheitskultur: 71,5% der deutschen Bevölkerung sind nicht katholisch.

Einflüssen anderer Religionen stehen wir kritisch gegenüber, sofern und soweit sie die Errungenschaften unserer christlich-abendländischen Tradition in Frage stellen und einen über das Religiöse hinaus gehenden totalitären politischen Anspruch verfolgen.

Es bleibt beim bewährten Freund-Feind-Schema. Nicht einmal ansatzweise kann der Beitrag des Judentums und des Islams zur europäischen Kultur gewürdigt werden. Da es der Kerngedanke jeder Religion (mit Ausnahme der Bahais) ist, die jeweils anderen Religionen kritisch zu befragen, kommt die exklusive Bevorzugung einer Religion einer Verletzung der positiven Religionsfreiheit gleich.

Es gibt – von wenigen Ausnahmen wie beispielsweise der konsequenten Ablehnung der Abtreibung als der Tötung eines unschuldigen Menschen abgesehen – keine politischen Optionen, die aus christlicher Sicht die einzig denkbaren oder richtigen wären.

Da kommt die (totalitäre) Katze aus dem Sack. Pervers wird es, wenn gleichzeitig gesagt wird:

Wenn sich die Kirchen also in einer Art und Weise in das politische Tagesgeschäft einmischen, die eine Entscheidungsvariante unter vielen quasi zum Dogma erhebt und Kritiker daran als unchristliche Ketzer diffamieren, wenn sie politische Ziele religiös überhöhen und mit großem moralischen Pathos vertreten, dann ist das Ausdruck eines fundamentalistischen Denkens, das mit einem modernen Christentum nicht kompatibel ist.

Die eigenen Haltungen sind also von dieser Einschränkung ausgenommen. Das ist totalitäres Denken durch und durch. Natürlich nehme ich als religiöses Subjekt in meiner Befürwortung der Fristenlösung ebenfalls in Anspruch, christlich verantwortet zu plädieren. Genau das wird hier aber kategorisch ausgeschlossen, obwohl die Abtreibung in der Bibel selbst gar nicht explizit vorkommt, und damit der theologischen Urteilsbildung unterliegt. Wo aber die christlichen Kirchen auf explizite Worte Jesu Christi verweisen wie in der Flüchtlingsfrage, dort wird ein modernes Christentum eingefordert, dass sich an den Auftrag Jesu nicht zu halten braucht. Eine Berufung auf Christus in dieser Frage sei Fundamentalismus, denn es gebe keine politischen Optionen, die aus christlicher Sicht die einzig denkbaren und richtigen wären. Das ist eine Immunisierungsstrategie, die nur dazu dient, die eigenen Interessen durchzusetzen.

Insgesamt fällt die konsequente Verweigerung jeglicher theologischen Argumentation auf. Der konziliare Prozess wird konsequent ausgeblendet, Schöpfungstheologie spielt keine Rolle, das Gesetz im Evangelium kommt nicht vor. Wo aber religiöses Denken und theologisches Urteil gar nicht erkennbar wird, erodiert der Anspruch, als religiöses Subjekt oder theologische Position ernst genommen zu werden. Ich begründe das aber religiös ist eben keine religiöse Begründung, vielmehr muss nun das religiöse Argument auch folgen. Das aber entfällt hier. Wenn man auf Matthäus 25 verweist, antwortet die AfD mit dem Hinweis auf die Verantwortungsethik (als ob Matth. 25 nicht Verantwortungsethik wäre). Aber sie antwortet gerade nicht mit biblischen oder theologischen Argumenten, sondern nur politisch. Ihre gesamte „Theologie“ besteht im Abweis theologischer Argumente. Man vertrete nur eine christliche Gesinnung, die dürfe aber nicht als Anleitung für politisches Handeln missverstanden werden. Das ist letztlich jenes Kulturchristentum, auf das sich auch Anders Breivik im Kampf gegen die Muslime beruft.

Myself and many more like me do not necessarily have a personal relationship with Jesus Christ and God. We do however believe in Christianity as a cultural, social, identity and moral platform. This makes us Christian.[26]

Die AfD steht ... für eine Politik aus dem Geist des Christentums. Sie möchte die Errungenschaften einer christlich geprägten Kultur bewahren, die in der Begegnung mit antiker Philosophie und Aufklärung zur Grundlage unserer Demokratie und zur Garantie von Freiheit, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit geworden ist.

Aus dem christlichen Ethos zu argumentieren lässt einem genügend Spielraum alles und nichts zu begründen. Theologische Urteile laufen aber anders, sie sind begründungs- und nachweispflichtig. Das Manifest weiß aber schon vorab, was christlich ist und was nicht:

In klarem Gegensatz zur kirchlichen Kritik an der AfD steht die offensichtliche Zurückhaltung bei aus christlicher Sicht fragwürdigen Positionen anderer Parteien. Obwohl Grüne und Linke zu den Themen Abtreibung, Gender, Ehe und Familie alles andere als christliche Werte vertreten, ist von einer diesbezüglichen Distanzierung der Kirchen wenig zu hören.

Das könnte natürlich daran liegen, dass andere Menschen ihre Positionen zu Abtreibung, Gender, Ehe und Familie ebenfalls durchaus als christlich empfinden. Mir graut vor einem Staat, in dem auch noch die Ergebnisse der Bibelauslegung verordnet, statt diskursiv im theologischen Gespräch und unter Bezug auf die Heiligen Schriften erschlossen werden. Als „aus christlicher Sicht fragwürdig“ kann nur bezeichnet werden, was konsensual im Christentum fragwürdig ist. Dazu gehören die genannten Punkte gerade nicht, sie werden im Christentum kontroverstheologisch beurteilt. Anders erscheint das nur in der Perspektive bestimmter Teile des Christentums, die sich im Dunstkreis des Lebensschutzes, des Pro Life, versammelt haben. Religion wird hier gebastelt nach den angestrebten Zielen (religiöse Verurteilung von Abtreibung, der Geschlechterforschung und –Gerechtigkeit usw.). Die große Mehrheit der Christen in Deutschland wie in der Welt will damit nichts zu tun haben, wie nicht zuletzt die Abstimmungen gerade in katholischen Ländern in jüngster Zeit gezeigt haben.

Anmerkungen


[21]   Dazu: Precht, Richard David (2012): Wer bin ich - und wenn ja wie viele? Eine philosophische Reise. 7. Aufl. München.

[24]   Gegen Kelle, Birgit (2014): Dann mach doch die Bluse zu. Ein Aufschrei gegen den Gleichheitswahn. 4. Aufl. Asslar.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/110/am607b.htm
©Andreas Mertin 2017