Brot und Wein

Gegenwärtige Abendmahlspraxis und ihre theologische Deutung

Wolfgang Vögele

2.        Gottes Schweigen oder die Rückkehr des Göttlichen

Das Abendmahl als liturgischer Vollzug hängt von bestimmten theologischen Voraussetzungen ab. Die wichtigste dieser Voraussetzungen besteht darin, daß die Gottesfrage und die Frage nach dem Sinn von Kreuz und Auferstehung Jesu Christi theologisch angemessen beantwortet sind. Insofern wird mit der Praxis des Abendmahls auch die Frage nach der Existenz Gottes und nach der Wahrheit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus gestellt. Die Fragen nach diesen Voraussetzungen rücken das Abendmahl in ein besonderes theologisches Licht. Man kann nicht mehr so tun, als seien diese theologischen Voraussetzungen selbstverständlich gegeben sind, als ob das Abendmahl unbereinigt aus der Stiftung Jesu von Nazareth und aus einer wie auch immer zu bewertenden kirchlichen Tradition in der Gegenwart praktiziert werden könne, ohne über Aufklärung, Metaphysikkritik und das moderne naturwissenschaftliche Weltbild zu reden.

Um die Bedeutung dieser theologischen Voraussetzungen zu zeigen, habe ich theologische und kulturwissenschaftliche Reflexionen des Freiburger Fundamentaltheologen Magnus Striet (2.1.) und des Turiner Kulturwissenschaftlers Roberto Calasso (2.2.) ausgewählt. Beide sprechen nicht unmittelbar über das Abendmahl, aber beide sprechen über die Gegenwart Gottes bzw. der Götter, und am Rand dieser Überlegungen kommen auch Abendmahl und gemeinsames Essen in den Blick. Striet spricht aus der Perspektive eines katholischen Fundamentaltheologen, Calasso aus der Perspektive des religiös-neutralen Kulturwissenschaftlers. Es ist zu zeigen, wie die Überlegungen beider Wissenschaftler mit der Praxis und Theologie des Abendmahls zusammenhängen. Insofern hoffe ich, mit Hilfe dieser Reflexionen auch den Ort der liturgischen Abendmahlspraxis in der modernen Gesellschaft genauer einkreisen zu können.

2.1.    Gott als Möglichkeit

Mit der Theologie des Freiburger Fundamentaltheologen Magnus Striet habe ich mich an anderer Stelle bereits beschäftigt.[1] Theologisch versucht er[2] sich an einer Kritik der augustinischen Erbsünden- und der Anselmschen Satisfaktionslehre, um an ihrer Stelle das eigene Konzept einer „Karsamstagschristologie“ zu entwickeln. Ausgangspunkt ist die Theodizeefrage, welche die theologische Tradition mit der Lehre von der Erbsünde des Menschen und mit der christologischen Satisfaktionslehre beantwortet hat. Daran aber meldet Striet Zweifel und Kritik an. Nicht der Mensch verursacht das Leiden dieser Welt, sondern Gott selbst muß sich dafür verantworten, daß er die Welt so geschaffen hat, daß die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von Auschwitz über Hiroshima bis zu My Lai möglich wurden. Im Angesicht des unschuldigen Leidens ist es mit dem bloßen Verweis auf die Transzendenz und Allmacht Gottes nicht mehr getan. In Auseinandersetzung mit der Artikulation modernen Glaubenszweifels entwickelt Striet eine neue, normative Vorstellung von Gott: „Nur ein Gott, der rettet, Gerechtigkeit zu schaffen und die Tränen abzuwischen vermag, ist ein Gott, den zu ersehnen sich lohnt.“[3] Gottes- und Theodizeefrage sind so miteinander verwoben. Die ungerechte Welt von Auschwitz und Hiroshima kann nicht akzeptiert werden, ebenso wenig ein Gott, der das so gewollt haben könnte, der Leiden billigt oder rechtfertigt. Striet nennt dieses Verfahren eine „Karsamstags­christologie“[4]: Er denkt von einem theologischen Standpunkt aus, an dem Christus am Kreuz schon gestorben, aber noch nicht auferstanden ist. Letzteres kann nach Striet auch kein Glaubender mit absoluter Sicherheit und als Wissen behaupten. Auferstehung läßt sich nur im Medium des Glaubens ausdrücken, sie ist keine historische Tatsache.

Dazu kommt: Striet besteht auf Wahrheit (und Zweifel) des Glaubens angesichts pluralistischer religiöser Gleichgültigkeit. Er kritisiert, daß Glaube nicht mehr auf gemeinsam geteilten Erfahrungen aufbaut, sondern in Individualität und Privatheit abgeglitten ist. „Der alte Gott wurde ersetzt durch den familiengottesdiensttauglichen harmlosen Gott, der die Welt sonntäglich hübsch zu machen hat.“[5] Glaube wird funktional zum harmlosen Schmiermittel der Gesellschaft und kittet ihre Konflikte oberflächlich zu. Striet argumentiert, daß Religiosität heute selbstverständlich individuell und privat ist. Das ist in einer freiheitlichen Gesellschaft zu akzeptieren, aber nicht mehr die Schlußfolgerung, daß über Glaubensfragen dann nicht mehr diskutiert werden muß, weil alles in gleicher Weise akzeptabel ist. Und was sich privat und individuell an Glaubensvorstellungen in den Köpfen festgesetzt hat, das bedarf der Kritik und der Aufarbeitung.

Damit sind drei theologische Operationen benannt, die sich erheblich auf die Theo-Logie im eigentlichen Sinn auswirken:

  1. Die Christologie wird auf den Karsamstag, also zwischen Kreuz und Auferstehung, in ein eschatologisches Erwartungs- und Zwischenstadium gerückt.
  2. Die Gottesfrage wird eschatologisiert, aus der Gegenwart in die Zukunft verschoben.
  3. Christlicher Glaube antwortet nicht einfach auf religiöse Bedürfnisse, sondern kritisiert sie.

Diese theologischen Fragen wären nach meiner Überzeugung auf Abendmahl und Gottesdienst anzuwenden, was in Striets essayistischem Buch in Ansätzen geschieht. Denn die Frage stellt sich: Welche Abendmahlsliturgie könnte einer solchen zweifelnden, freiheitlichen und eschatologischen Theologie entsprechen? Denn es macht ja einen erheblichen Unterschied, ob man im Abendmahl eine Erinnerung oder womöglich Wiederholung der letzten Mahlzeit des Jesus von Nazareth, der am folgenden Tag gekreuzigt werden soll, sieht oder ob man das Abendmahl des Gottesdienstes als eschatologische Prolepse des kommenden Reiches Gottes versteht. Nachdem evangelische Theologen jahrhundertelang in reformierten und lutherischen Fraktionen über die Gegenwart Gottes (Realpräsenz) gestritten haben, legt sich aus Striets Theologie so etwas wie eine Eschatologisierung des Abendmahls nahe. Thema wäre dann nicht mehr die Gegenwart Gottes in Brot und Wein, sondern die Hoffnung auf Gottes Gegenwart im kommenden Reich Gottes.

Striet konzentriert sich in seinen Überlegungen auf das Kreuz und auf das berühmte Bild des toten Christus von Hans Holbein, das gegenwärtig im Kunstmuseum Basel hängt. Zu diesem Punkt der ‚Bildzeit‘, an dem der Leichnam des toten Christus vom Kreuz genommen wird, ist über die Auferstehung noch nicht entschieden. Striet nutzt dieses Bild, um die theologische Gegenwart der Glaubenden zu beschreiben.

Trotzdem lassen sich Einwände gegen diese radikale Eschatologisierung des Gottesglaubens formulieren. Denn die Geschichte des Jesus von Nazareth besteht eben nicht nur aus einer Dauergeschichte der Passion. Vielmehr sind in die Evangelien an einer Reihe von Stellen Erfahrungen des Trostes, des Glaubens, der Heilungen und der Wunder eingestreut, so die Salbung in Bethanien und das folgende letzte Abendmahl Jesu, das Heilsversprechen für den Schächer, der neben Jesus am Kreuz hängt, der Glaube des römischen Hauptmanns, die Auferstehungserfahrungen der Frauen am Grab. Vom Kreuz wäre gar nicht erzählt worden, wenn zu Leiden, Erschrecken und Verzweiflung nicht die Auferstehungserfahrung hinzugetreten wäre, wie immer man sich diese vorstellen mag. Nur wegen Ostern wissen die Leser des Neuen Testaments von Kreuz und Passionsgeschichte.

Striet argumentiert nun: Um der Gerechtigkeit und Freiheit willen warten wir auf den Gott, der einmal die Toten auferwecken wird, wie er Christus von den Toten auferweckt haben soll. Dieser Glaube beruht einzig auf Hoffnung. Diese läßt sich auch auf das Abendmahl ausdehnen, ohne daß Striet diesen Schritt ausdrücklich vollziehen würde. Die Glaubenden können sich der Auferstehung nicht sicher sein. Der moderne Mensch, so Striet, muß mit Ungewißheiten leben, die ein Gottesglaube ernsthaft nicht mehr beseitigen kann. Er versteht seine Meditationen als den Versuch, die Passions- und Ostergeschichte neu zu interpretieren, wie sie in den Gottesdiensten der Passions- und Osterzeit „in extrem verdichteter Weise symbolisch-liturgisch vergegenwärtigt wird.“[6] Was aber könnte damit vergegenwärtigt werden? Abgesehen davon, daß noch zu fragen sein wird, ob die Abendmahlsfeier nicht mehr ist als ein Reenactment des letzten Mahls[7], der Kreuzigung und der Auferstehung, so kann man doch sagen, daß im Sinne Striets dann konsequent das Abendmahl nicht allein auf die Gewißheit von Gottes Gegenwart liturgisch und theologisch fixiert werden kann, sondern daß im Abendmahl genau dieser Zwiespalt von Gewißheit und Zweifel zum Ausdruck kommt, der sich im Gegenüber von Kreuz und Auferstehung ausdrückt. Striet scheint dahin zu tendieren, daß die Gotteserfahrung konsequent eschatologisiert wird. Das Gegenüber von Schon-jetzt und Noch-nicht des Glaubens wird damit aufgelöst zugunsten des Noch-nicht. Ich bin mir trotz aller Hinweise von Striet auf Erfahrungen des Glaubenszweifels, auf die Freiheit des einzelnen und die Unmöglichkeit, Gott für die humanen Katastrophen des 20.Jahrhunderts verantwortlich zu machen, nicht sicher, ob nicht trotzdem, gerade im liturgischen Vollzug des Abendmahls von Erfahrungen vorläufiger Gottesgewißheit gesprochen werden muß.[8] Wer evangelisch-theologisch von Realpräsenz spricht, der wird Striet in jedem Fall widersprechen. Widerspruch sollten Striets Überlegungen auch innerhalb der katholischen Fakultäten herausfordern. Wer theologisch das Abendmahl als (menschliche) Inszenierung versteht und damit von der Seite glaubend-liturgischer Aktivität her, der wird Striets Überlegungen mehr theologische Plausibilität abgewinnen können. Sicher scheint mir, daß die gegenwärtige systematische und praktische Theologie es nicht mehr zuläßt, wie die reformatorischen Theologen des 16.Jahrhunderts von Realpräsenz zu sprechen. Dieser Gedanke soll noch weiter verfolgt werden.

2.2.    Gott als Gedicht

Manche Leser werden es merkwürdig finden, daß in einem Text über die Theologie des Abendmahls nun die Thesen eines italienischen Kulturwissenschaftlers reflektiert werden, die in keiner Weise mit dem christlichen Glauben zu tun haben. Das reformatorische Prinzip sola scriptura legt nahe, die Liturgie und Theologie des Abendmahls allein aus dem bibliscen Befund zu begründen, wie das vor allem in den Arnoldshainer Abendmahlsthesen[9] geschehen ist. Die Vertreter einer biblischen Theologie[10] haben diese Schriftbindung aufgenommen, achten aber stärker auf Interdependenzen, Abhängigkeiten, gegenseitige Verstärkung oder Befruchtung innerhalb des Corpus biblischer Schriften. So richtig das ist, bei der Deutung und Durchführung des Abendmahls auf den Schriftbefund zu achten, so wenig kann geleugnet werden, daß diese Theologie und Liturgie jeweils auf konfessionellen Traditionen aufruht und bei den Kommunikanten auf ein (theologisches) Vorverständnis treffen, das möglicherweise gar nicht durch die biblischen Aussagen geprägt ist. Und es könnte sein, daß schon die Schriften des Neuen Testaments keine einheitliche Abendmahlsgestalt und -theologie enthalten und diese Einheitlichkeit folglich auch nicht Evangelien und Briefen entnommen werden kann.

Von daher scheint es gerechtfertigt, an diesem Punkt die Thesen des italienischen Kulturwissenschaftlers Roberto Calasso[11] vorzustellen, der wie der Fundamentaltheologe Striet nach der Gegenwart Gottes fragt. Er fragt allerdings nicht nach der Gegenwart des biblischen Gottes, sondern genau genommen fragt er nach der Gegenwart von Gott, Göttern, dem Göttlichen in der Literatur, was selbstverständlich einen erheblichen Unterschied macht. Calasso beschäftigt sich in seinen Thesen auch nicht mit protestantischer oder katholischer Theologie, sondern er macht vor allem poetische Texte zum Gegenstand seiner Reflexion. Daneben hat er sich in einem faszinierenden Buch[12] mit der Opferpraxis der vedischen Schriften auseinandergesetzt, was zusätzlich in einen spannenden Dialog zwischen christlicher Opfertheologie und indischer Religionswissenschaft eingebracht werden könnte, hier in diesem Essay aber nicht geleistet werden kann.

Wie spricht nun Calasso über die Präsenz des Göttlichen? Er konstatiert zunächst einen Wechsel von der naiven Annahme einer Präsenz des Übernatürlichen, mit vielen anderen geht er vom Tod der alten substantialistischen Metaphysik aus. An deren Stelle muß etwas Neues treten, und Calasso beschreibt das in einem locker verbundenen, essayhaften Stil, der von Autor zu Autor, von Hölderlin über Baudelaire zu Lautréamont springt und sich nicht groß um Begründungen schert, viel eher Zusammenhänge aufzeigen will, die manchmal frappierend, manchmal aber auch weit hergeholt erscheinen. „Die Götter sind flüchtige Gäste in der Literatur. Sie durchziehen sie mit der Spur ihrer Namen. Aber sie verlassen sie auch bald. Jedes Mal wenn der Schriftsteller zu einem Wort ansetzt, muß er sie zurückgewinnen. Die quecksilbrige Art, die die Götter ankündigt, ist auch das Zeichen ihrer Ungreifbarkeit.“[13] Wobei nicht übersehen werden darf, daß die Unverfügbarkeit der Götter den Menschen schon zu Zeiten dieser naiven, alten Metaphysik bewußt war. Calasso zitiert gleich am Anfang Homer: „Schwer zu sehen sind für die Menschen die Götter.“[14]

Calasso spricht hier über die griechischen Götter der Antike, aber Verborgenheit und Ungreifbarkeit sind, vermittelt mit Offenbarung, auch Kennzeichen des in der Bibel angesprochenen Gottes. Es ist ein klassischer Topos der biblischen Theologie, daß Gott unsichtbar bleibt, er bleibt im Verborgenen, niemand darf ihn je sehen[15]. Bei den Griechen lassen sich die Götter durch keine Theologie oder Liturgie domestizieren, und Gleiches gilt auch für den biblischen Gott. Keine eindeutige Offenbarung und keine dieser Offenbarung entsprechende liturgische Praxis heben die Zweideutigkeit des verborgenen Gottes völlig auf. Die Konzentration auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus brachte für die Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts eine Wende zur Christologie oder gar zur reinen Jesulogie. Die Reflexion über das Wesen Gottes, seine Allmacht, seine Allwissenheit etc. verwandelte sich in eine Reflexion über Lehre, Handeln und Geschichte des Jesus von Nazareth.

Damit ist eine grundlegende Schwierigkeit des Protestantismus benannt. Er positioniert sich zum einen über seine biblischen Wurzeln und versucht sie theologisch zu vergegenwärtigen. Danach ist Gott in Gebet und Gottesdienst, aber auch im Abendmahl dauerhaft den Menschen gegenwärtig. Er wird als Schöpfer, Erhalter und Erlöser bekannt. Und gleichzeitig wird genau diese Gegenwart Gottes angezweifelt, weil das Bündnis, das der Protestantismus mit Aufklärung und wissenschaftlicher Exegese eingegangen ist, zum radikalen Zweifel an dieser Präsenz Gottes führt. Die Konfessionen haben darauf mit unterschiedlichen theologischen Strategien reagiert. Man entwickelt eine architektonisch-topologische Theorie der heiligen Orte (Wallfahrtsorte, Weihrauch, Heiligenbilder, Weihwasser), geht ein breit aufgestelltes Bündnis mit konventionellen Formen der Volksfrömmigkeit ein, die an manchen Stellen die Grenzen zum Aberglauben überschreiten. Oder man entwickelt eine ekklesiologische Theorie der Präsenz Gottes in der Kirche, die mit absoluter Autorität ausgestattet ist, um über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu entscheiden, im Himmel und auf Erden. Der Protestantismus zeigt sich demgegenüber als eine saubere, ordentliche, disziplinierte, ja fast militärische Religion, die sich weder auf Kompromisse, vermischte Farben noch auf Widersprüche oder Alltagsfrömmigkeit einläßt. Die dogmatische Theologie stellte stets Regeln auf, die dann keiner befolgte, sie blieb hinter Wirklichkeit und Praxis zurück, aber diesen Widerspruch thematisierte niemand. Niemand bearbeitete ihn, und jeder Theologe empfand ihn als Kränkung. Und diese Kränkung hält bis in die Gegenwart an, sie hat sich sogar noch gesteigert, denn der evangelischen Kirche ist es in den letzten Jahrzehnten nicht gelungen, die Welle der Austritte zu stoppen, egal welche Projekte, Kampagnen und Aktionen klerikale Funktionäre zusammen mit ihren Marketing-Assistenten entwickelt haben. Allerdings läßt sich Gottes Gegenwart ohne Glaubensbegeisterung immer schwerer behaupten. Die politische korrekte „Positionierung“ samt den Untiefen klerikal verblümter Sprache und unzähligen Nebelbänken weichgespülter Harmlosigkeit wird ja niemand mit der Gegenwart Gottes in Verbindung bringen[16].

Mit dem Abendmahl, früher das am meisten respektierte Ritual des Gottesdienstes haben sich gravierende Veränderungen vollzogen: Aus der behaupteten Realpräsenz, also der Gemeinschaft der Glaubenden mit Gott in den Zeichen von Brot und Wein, ist eine Gemeinschaft der Glaubenden untereinander geworden, wobei letztere auch dadurch charakterisiert ist, daß die Kommunikanten um die Kränkung des fehlenden Beweises für die Realpräsenz wissen. In dieser Perspektive reduziert sich jedoch der vertikale Glaube auf horizontale Solidarität. Damit aber läßt sich leider keine Religion gestalten, das Christentum ist nicht nur eine Gewerkschaft des Gleichheitsgrundsatzes und der Nächstenliebe.

Um zurück zu Calasso zu kommen: Er konstatiert einen Wechsel der Präsenz von Göttern, sozusagen von der Erscheinung in die Schriftform: „Das ist, könnte man sagen, die natürliche Daseinsform der Götter geworden: in Büchern zu erscheinen. Und oft in Büchern, die nur von wenigen aufgeschlagen werden. (…) Denn mittlerweile sind alle Kräfte des Kultes in einen einzigen bewegungslosen und einsamen Akt übergegangen: den des Lesens. (…) Das großartige Phänomen, das wir vor uns haben und das ungenannt bleibt, ist aber ein anderes: die enorme, unerhört konzentrierte Kraft, die sich im reinen Akt des Lesens verdichtet hat und weiterhin verdichtet.“[17]

Die Parallelen zwischen antiker und biblischer Theologie setzen sich fort: Auch im Christentum ist diese Bewegung von Wunder, Heilung und Epiphanie zu Lektüre, Hermeneutik und Schriftprinzip getreten. Das Heilige hat sich in den Text zurückgezogen. Krankenheilungen und Zungenreden findet man nur noch in randständigen Freikirchen. Die Erfahrung des Religiösen entflieht aus der Wirklichkeit. Und in diese Auseinandersetzung zwischen Wunderglauben und modernem Rationalismus gerät auch das Abendmahl.

Calasso zieht nun allerdings nicht die Konsequenz, die Rede von den Göttern aufzugeben, sondern im Anschluß an ein Schlüsselzitat von Ezra Pound geht er einen anderen Weg. Pound schreibt: „Da sich keine passendere Metapher für bestimmte Gefühlsfarben gefunden hat, behaupte ich, daß die Götter existieren.“[18] Ohne weiteres ist dieser Satz an eine bestimmte theologische Metapherntheorie und eine theologische Gefühlstheorie anzuschließen. Die Existenz (griechischer) Götter kann man interpretieren als Ausdruck der Erfahrungen von Abhängigkeit, Sterblichkeit, Schutzbedürftigkeit, der Sehnsucht nach Heimat und Geborgenheit – im Angesicht der Erbarmungslosigkeit des Zufalls und der Größe des Universums. So sehr sich die griechischen Götter vom biblischen Gott unterscheiden mögen, hier zeichnet sich offensichtlich eine ganz parallele theologische Entwicklung ab. Allerdings verbinden sich mit der Rede vom biblischen Gott andere „Gefühlsfarben“.

Schriftsteller können noch von Göttern reden, aber nach Calasso scheitern sie dabei auch regelmäßig. Die apostrophierten Götter wirken leblos und plump wie Gipsfiguren. Ohne Religion bleiben die Götter leblos. Und ohne Glaube und Theologie bleibt auch das Abendmahl leblos, ein trockenes Gemeinschaftsmahl ohne richtigen Transzendenzbezug. Calasso beruft sich nun auf eine Hymne Hölderlins, „Brot und Wein“, die schon im Titel einen unmittelbaren Bezug auf das Abendmahl enthält. „Das war Hölderlins geheimer Gedanke , der sich in einem anderen, noch geheimeren barg: Nicht nur die Art, Gott zu empfangen, hat sich geändert, sondern auch die Form, in der der Gott erscheint.“[19] Ohne daß er genannt wird, kommt Hölderlin auf Christus zu sprechen. Er ist der letzte, der kommende Gott, der in der Hymne evoziert wird. Die Gegenwart des Göttlichen ist allerdings nicht selbstverständlich und schon gar nicht alltäglich: „Eine so starke und ruhige Konzentration des Göttlichen ist nicht leicht zu ertragen. Sie den Menschen vorzuenthalten ist eine ironische Gnade der Himmlischen: ‚Denn nicht immer vermag ein schwaches Gefäß sie zu fassen,/ Nur zu Zeiten erträgt göttliche Fülle der Mensch.‘“[20] Wer nicht mehr vom Göttlichen spricht, so Calasso im Anschluß an Novalis, der öffnet den Gespenstern Tür und Tor. Dieses Argument erinnert an Luthers Maxime, wonach Götzen verehrt, wer sich nicht zum Gott Jesu Christi bekennt. Götzen und Gespenster lehren die Menschen das Fürchten und führen sie in die Irre.

Calasso umkreist in seinen Reflexionen die Leerstelle desjenigen, was kein Mensch mit den begrenzten Hilfsmitteln von Willen, Kraft und Vernunft in die Hand bekommen kann, von der Welt um ihn herum bis zu dem, was sein Leben von außen bestimmt. Naturwissenschaftler nennen das kalt und emotionslos Zufall. Abergläubische Menschen sprechen vom Schicksal und sehen Sternbilder und anderes am Werk. Religiös Glaubende bringen ihre verschiedenen Götter ins Spiel. Christen berufen sich auf den Willen Gottes, welcher die Befreiung aus bestehender Wirklichkeit zum Resultat eben dieses Willens erklärt. Calasso macht den christlichen Glauben nicht zum Gegenstand seiner Betrachtungen; sie gelten eher der Leerstelle dessen, was den Menschen vorgegeben ist und was er nicht gestalten kann. Diese Leerstelle bleibt religiös umkämpft. Calasso schreibt: „Es ist gibt ein sehr starkes und sehr altes Gefühl, das nur selten zur Sprache kommt und erkannt wird: das der Angst, wenn Götzenbilder fehlen. Wenn der Blick kein Bild hat, auf dem er ruhen kann, wenn ihm eine Vermittlung fehlt zwischen dem inneren Bild und dem bloßen Dasein, beschleicht ihn eine leise Bangigkeit.“[21] Niemand sollte sich daran stören, daß Calasso hier von Götzenbildern spricht. Dem kalten Zufall kann niemand ins Auge schauen, dazu ist er zu häßlich, wie ein Medusenhaupt.

Am Ende bringt Calasso seine entscheidende These hervor. Die Götter der Antike, die bildhaften Repräsentanten einer abstrakten Göttlichkeit haben Ritus und Mythos verlassen und gehen nun einen Schritt weiter, hinein in die absolute Literatur, die sich dadurch auszeichnet, daß sie die Bindung an die Wirklichkeit durchtrennt hat. Die Literatur ist absolut, weil sie in einem präzisen Sinn gesellschaftlich irrelevant – und eben darum unabhängig ist.[22] Für Calasso ist absolute Literatur vor allen Dingen Form. Die Wirklichkeit wird nicht einfach in Sprache umgesetzt, sondern mit Hilfe der Sprache entsteht etwas Neues, das zwar auf die Wirklichkeit bezogen ist, aber etwas Eigenständiges schafft. Calasso spricht davon, daß die Literatur „eine Art natürliche, ununterdrückbare Metaphysik“ enthalten könne. Sie, die Metaphysik beruhe auf „disparaten Entitäten: Fetzen von Bildern, Assonanzen, Rhythmen, Gesten, Formen aller Art“.[23] Die Metaphysik wird demnach nicht mehr ontologisch, sondern rhetorisch bestimmt, und damit ist sofort eine große Nähe zur evangelischen Theologie gegeben, die seit der Reformation vertreten hat, daß die Präsenz Christi zu seinen Lebzeiten sich verwandelt hat in die Gegenwart des Wortes, nämlich des Evangeliums.

Insofern kann man Calassos kulturwissenschaftliche Überlegungen über die Präsenz des Göttlichen in Gegenwart und Literatur umstandslos auf die theologische Diskussion über das Abendmahl übertragen. Auch die Theologie ist mit der Frage nach der spezifischen (Real-)Präsenz des Göttlichen konfrontiert, wenn sie auch in der Perspektive der religionssoziologischen Überlegungen Pollacks und in der Perspektive der Bekenntnisschriften theologisch anders beantwortet wird. Es ist kein Zufall, daß Hölderlins Hymne „Brot und Wein“ und die Unionurkunde der badischen Landeskirche in ihren Entstehungszeitpunkten kaum mehr als zwanzig Jahre auseinanderliegen.

-> 3. Union im Abendmahl

Anmerkungen


[1]    Wolfgang Vögele, Obertöne des Schweigens. Über Magnus Striet, Gottes Schweigen, tà katoptrizómena, Heft 107, Juni 2017, https://www.theomag.de/107/wv034.htm. In einzelnen Formulierungen nehme ich hier wenige Auszüge aus diesem Essay auf.

[2]    Magnus Striet, Gottes Schweigen. Auferweckungssehnsucht und –skepsis, Ostfildern 2015.

[3]    A.a.O., 13.

[4]    A.a.O., 16 u.ö.

[5]    A.a.O., 19.

[6]    A.a.O., 20.

[7]    Dazu den Aufsatz von Alexander Schwan, Anm. 249.

[8]    Ich weise nochmals darauf hin, daß Striet in seinen essayistisch-theologischen Überlegungen nicht auf die katholische Messe oder das Abendmahl zu sprechen kommt. Der Versuch, das Abendmahl im Lichte seiner Theologie zu verstehen, geht auf den hier vorgelegten Versuch der Fortführung seiner Gedanken zurück.

[9]    Dazu s.u. Abschnitt 3.2.

[10]   Dazu exemplarisch den Abschnitt zur Abendmahlstheologie Michael Welkers, s.u. Abschnitt 4.4.1.

[11]   Roberto Calasso, Die Literatur und die Götter, München 2003 (italien. 2001).

[12]   Roberto Calasso, Die Glut, München 2015.

[13]   Calasso, a.a.O., Anm. 40, 11.

[14]   A.a.O., 12.

[15]   Vgl. Ex 33,17-23.

[16]   Zur Kritik gegenwärtiger Kirchlichkeit Wolfgang Vögele, Das Abendmahl der Aktenordner. Bemerkungen zum Verhältnis von Theologie und Kirchenleitung, Tà Katoptrizómena. Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik, H.90, 2014, http://www.theomag.de/90/wv12.htm.

[17]   Calasso, a.a.O., Anm. 40, 26.

[18]   Ezra Pound, zit.n. Calasso, a.a.O., 36.

[19]   A.a.O., 44.

[20]   A.a.O., 59.

[21]   A.a.O., 104.

[22]   A.a.O., 146.

[23]   A.a.O., 152.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/109/wv036_02.htm
© Wolfgang Vögele, 2017