Obertöne des Schweigens

Eine Rezension

Wolfgang Vögele

Magnus Striet, Gottes Schweigen, Auferweckungssehnsucht und – Skepsis, Ostfildern: Patmos-Verlag 2015

Das Vorurteil sagt, Theologen wüssten alle Fragen zu beantworten. Aber an den Grenzen des Wissens und im Kern des Glaubens ist manchmal dennoch Schweigen angebracht, weil jede Antwort zu viel wäre und doch zu wenig sagen würde. Im Kern des christlichen Glaubens stehen Passion, Kreuz und Auferstehung des Jesus von Nazareth. Ihrer theologischen Deutung widmet sich der Theologe Magnus Striet, und er bedenkt diese Fragen aus einem Schweigen heraus, das sich vorschnellen Antworten verweigert. Freilich nehmen Leser in diesem beredten Schweigen eine ganze Reihe von theologischen Obertöne wahr.

Auf der einen Seite atmet dieses Büchlein den Geist einer katholischen Biographie. Der Verfasser, Fundamentaltheologe in Freiburg, ist im Münsterland aufgewachsen. Aus dem katholischen Milieu der fünfziger Jahre wechselte er später in die akademische Community der Fundamentaltheologie. Das hindert ihn nicht, dem eigenen Milieu und vor allem den Eltern mit Respekt und Liebe zu begegnen: „Der Katholizismus war immer flexibel genug, um sich das Leben nicht gänzlich verübeln zu lassen.“ (9)[1] Der evangelische Leser bemerkt die kleine Spitze gegen protestantisches Moralisieren und Prinzipientreue. Er fragt sich umgekehrt, wie man den garstig breiten Graben zwischen reflektierter Theologie und kirchlichem Glaubensleben, wie Striet beides in seinem Essay entwickelt, im Alltag widerspruchsfrei leben kann.

Striets Buch ist biographisch grundiert, aber sein Hauptanliegen zielt auf eine ganz eigene Verknüpfung von Biographie, Literatur und theologischer Reflexion. Und genau darin wird er interessant für eine neue Theologie, die das Dogmatische, Abstrakte und Systematische hinter sich lässt und stattdessen Reflexion und Erzählung, Alltagsdeutung und Lebenserfahrung miteinander verbindet. Die Schilderung eigener Biographie ergänzt Striet durch literarische Beispiele. Er kommt von Heinrich Heines Matratzengruft über Hans Blumenbergs Deutung der Matthäuspassion am Ende zum skeptischen Dubslav von Stechlin, dem liberalen Protestanten aus Theodor Fontanes gleichnamigem Roman.

Theologisch versucht sich Striet an einer Kritik der augustinischen Erbsünden- und der Anselmschen Satisfaktionslehre, um an ihrer Stelle den eigenen Entwurf einer „Karsamstagschristologie“ zu entwickeln. Diese theologische Dimension des Essays ist die weitaus interessanteste. Was ist mit Karsamstagschristologie gemeint?

Ausgangspunkt ist die Theodizeefrage, welche die theologische Tradition mit der Lehre von der Erbsünde des Menschen und mit der christologischen Satisfaktionslehre beantwortet hat. Daran aber meldet Striet Zweifel und Kritik an. Nicht der Mensch verursacht das Leiden dieser Welt, sondern Gott selbst muss sich dafür verantworten, dass er die Welt so geschaffen hat, daß die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, von Auschwitz über Hiroshima bis zu My Lai möglich wurden. Im Angesicht des unschuldigen Leidens ist es mit dem bloßen Verweis auf die Transzendenz und Allmacht Gottes nicht mehr getan. In Auseinandersetzung mit der Artikulation modernen Glaubenszweifels entwickelt Striet eine normative Vorstellung von Gott: „Nur ein Gott, der rettet, Gerechtigkeit zu schaffen und die Tränen abzuwischen vermag, ist ein Gott, den zu ersehnen sich lohnt.“ (13) Gottes- und Theodizeefrage sind so miteinander verwoben. Die ungerechte Welt von Auschwitz und Hiroshima kann nicht akzeptiert werden, ebenso wenig ein Gott, der das so gewollt haben könnte, der Leiden billigt oder rechtfertigt. Striet nennt dieses Verfahren eine „Karsamstagschristologie“ (16 u.ö.): Er denkt von einem theologischen Standpunkt aus, an dem Christus am Kreuz schon gestorben, aber noch nicht auferstanden ist. Letzteres kann nach Striet auch kein Glaubender mit absoluter Sicherheit behaupten. Auferstehung läßt sich nur im Medium des Glaubens ausdrücken, sie ist keine historische Tatsache.

Dazu kommt: Striet besteht auf Wahrheit (und Zweifel) des Glaubens angesichts pluralistischer religiöser Gleichgültigkeit. Er kritisiert, dass Glaube nicht mehr auf gemeinsam geteilten Erfahrungen aufbaut, sondern in Individualität und Privatheit abgeglitten ist. „Der alte Gott wurde er­setzt durch den familiengottesdiensttauglichen harmlosen Gott, der die Welt sonntäglich hübsch zu machen hat.“ (19) Glaube wird funktional zum harmlosen Schmiermittel der Gesellschaft und kittet ihre Konflikte oberflächlich zu. Striet argumentiert, dass Religiosität heute selbstverständlich individuell und privat ist. Das ist in einer freiheitlichen Gesellschaft zu akzeptieren, aber nicht mehr die Schlussfolgerung, dass über Glaubensfragen dann nicht mehr diskutiert werden muss, weil alles in gleicher Weise akzeptabel ist. Und was sich privat und individuell an Glaubensvorstellungen in den Köpfen festgesetzt hat, das bedarf der Kritik und der Aufarbeitung.

Für Striet entscheidet sich, wer Gott ist, nicht in den „Spiritualitätstempeln westlicher Wohlstandszivilisationen“ (23). Wer Gott ist, kann nur noch im Kontext von Leidenserfahrungen artikuliert werden. Und das zielt nicht mehr auf die Gewissheit seiner transzendenten Existenz, sondern nur (?) noch auf die Hoffnung, dass es ihn gibt und dass er einst für alle, die in der Vergangenheit gelitten haben, Gerechtigkeit schaffen wird. Striet verdammt eine Religion, die Leben auf bürgerliche Moral reduziert. Er entwickelt die Vision eines Glaubens, der von „Größe, freimütige[m] Glaubensmut, Lebensrealismus“ (24) bestimmt ist.

Der Theologie des erhofften Gottes entspricht eine Anthropologie des freien Menschen. Der Mensch ist wie Gott bestimmt durch seine Freiheit. Er kann sein Leben gestalten, und im Bewusstsein dieser Freiheit kappt der Mensch der Moderne irgendwann auch die religiösen Bindungen, die ihn in seiner Freiheit hindern. Die Moderne holt – mit Heinrich Heine – den Himmel auf die Erde. Und Striet wünscht sich, diese Erkenntnis würden auch „Religionsfunktionäre und Geweihte“ (31) nachvollziehen, wobei der protestantische Leser über den Ausdruck der „Geweihte[n]“ stolpert.

Die christliche Gottesvorstellung kann sich nach Striet – trotz dieser Kritik – nur an der Passions- und Ostergeschichte festmachen. In diesem Zusammenhang kommt Striet auf Holbeins bekanntes Bild vom toten Christus zu sprechen. Striet sieht darin den Verdacht ausgedrückt, dass die Geschichte des gekreuzigten Jesus mit seinem Tod zu Ende gewesen sein könnte. An ihm läßt sich kein noch so winziges Indiz für die Auferstehung erkennen. Wobei dieses Bild seine eigene Deutungsgeschichte besitzt. Man denke nur an seine Verwendung in der Bachkantaten-Inszenierung „Actus tragicus“ des Basler Regisseurs Herbert Wernicke.[2]

Für Striet es so, dass jegliche Form menschlichen Leidens die Existenz Gottes desavouiert. Ein Gott, der Folter, Mord, Leid eines einzigen Menschen billigen würde, wäre für den Glauben nicht mehr akzeptabel. Und das läuft in den schwärzesten Passagen des Buches auf eine fundamentale Kritik an Gott als dem Schöpfer der Welt hinaus. Denn für Striet stellt sich im Angesicht dieser Kritik die Frage: „Ist dann nicht die Geburt das eigentliche Unglück? Denn nur wer geboren wird, vermag mit dem Tod zu hadern.“ (58) Durch die Theodizee-Frage wird ein Widerspruch deutlich zwischen Gott dem Schöpfer, der Leiden zulässt, und Gott dem Erlöser, der sich am Kreuz mit dem Leiden der Menschen solidarisch zeigt.

Aber vielleicht sind diese Fragen nur zu stellen, aber in der Gegenwart noch nicht zu beantworten. Striet radikalisiert die Unterscheidung zwischen der noch nicht erlösten Welt und dem Einbruch des Reiches Gottes. Alles, was man einmal präsentische Eschatologie nannte, verschiebt Striet rigoros in die Zukunft. Pneumatologie, das von Paulus so genannte „Angeld des Geistes“ (2Kor 1,22), auch die Gegenwart der Gemeinden, um bewusst nicht von Kirche zu sprechen, bleiben unberücksichtigt. Ihm ist auch der Gedanke einer theologia viatorum fremd, einer Theologie der Vorläufigkeit, die sich der Brüchigkeit der eigenen Gotteserkenntnis bewusst ist.

Gegenwart und Wirklichkeit sind für Striet zufällig, zweifelhaft und ungewiss: „Es gibt kein Telos der Geschichte. Alles ist nur das, zu dem es geworden oder zu dem es gemacht worden ist. Der Mensch ist eine Überforderung.“ (74) Trotzdem ist der überforderte Mensch frei. Der Mensch gestaltet seine Prägungen, die er von Geburt an in sich trägt. Aber diese Prägungen hat er sich nicht ausgesucht. Er ist das Wesen, das zur Freiheit verurteilt ist (94). Es folgt konsequent ein langer Exkurs über die Legitimation des Suizides.

Wenn Gott schon bei der Schöpfung um die Möglichkeiten des Bösen gewusst hat, wie ist dann das Kreuz Jesu zu verstehen? „Der geglaubte Gott hat um die Härten des Lebens gewußt, als er eine Schöpfung dennoch riskierte. (…) Gott muß die Möglichkeit eines Bösen vor Augen gestanden haben, das in seinem Schrecken noch über das hinausgeht, was bereits die Natur an Schrecken vorhält, und er hat die Welt dennoch riskiert.“ (120) Die Auferweckung des Gekreuzigten ist dann nichts anderes als die Vorwegnahme des Reiches Gottes, in dem alle Ungerechtigkeit beseitigt ist. Diese Hoffnung aber ist schier größenwahnsinnig angesichts all des Elends, das Menschen bisher in der Geschichte erleben mussten. Gott ist für Striet keine Gewissheit mehr, sondern eine Hoffnung, die aus dem brennenden Wunsch nach Beseitigung erlittenen Unrechts und aus dem Tod Gottes am Kreuz hervorgeht. Das ist die Karsamstagschristologie, die zwischen der Gegenwart des Leidens (Karfreitag) und der Zukunft von Ostern steht. Nicht anders kann man sich im übrigen Holbeins Bild vorstellen. Für sich genommen verweist es in keiner Weise auf die Auferstehung. Aber am Altar einer spätmittelalterlichen Kirche ist es ohne Bilder von Kreuzigung und Auferstehung eigentlich nicht vorstellbar. Striet vollzieht diesen Schritt zur Betrachtung von Karsamstag als Durchgang nur sehr zögerlich.

Genau diese, seine Mischung aus Zweifel und Hoffnung entdeckt der katholische Münsterländer Striet aber dann beim liberalen Protestanten Dubslav von Stechlin aus Fontanes Roman. Dessen Skepsis und seine von allem Rigorismus freie Ethik stellen eine angemessene Antwort auf die quälenden Ungewissheiten der Moderne dar. Theologisch geht Striet aber dann doch über die vornehme Zurückhaltung Dubslav von Stechlins hinaus. Und genau darin zielt Striet auf die Ostererfahrung: „Das Geheimnis von Ostern besteht darin, zu glauben, daß Gott selbst sich in die Geschichte erniedrigt hat, um als Mensch die Unbedingtheit seiner Liebe erfahrbar werden zu lassen (…). Unbedingtheit aber kennt keine Grenze, auch nicht die des Todes. Von daher schließt die Rede von der Auferweckung Jesu die Hoffnung ein, daß dieser Gott auch keinen anderen Menschen verloren geben wird.“ (150f.)

Ob das ausreicht als theologischer Oberton des Schweigens und der Stille des Karsamstags? Meine Zweifel sind nicht ganz ausgeräumt. Aber mir gefällt die Art und Weise, wie Striet fragmentarisch, unsystematisch und gleichzeitig radikal Theologie betreibt; er stellt sich den drängenden theologischen Fragen und verknüpft Biographie, Literatur und Theologie. Seine Meditationen stellen Suchbewegungen im besten Sinne des Wortes dar. Er lässt sich nicht abspeisen von den Harmlosigkeiten gegenwärtiger Patchwork-Religiosität. Er wehrt sich gegen die Flachheit der Verlautbarungen klerikaler Bürokratie. Ob die Verlautbarer „geweiht“ sind oder nicht, macht ökumenisch keinen Unterschied. Am Ende sollen fünf Fragen stehen, die Richtungen andeuten, in denen weiterzudenken wäre.

In Bezug auf die Biographie ist aber zu fragen: Was macht der Leser, der nicht katholisch ist und nicht aus dem Münsterland kommt? Vielleicht ist doch das Verhältnis zwischen der individuellen Prägung dieser Überlegungen und der Allgemeinheit anthropologischer Aussagen anders zu justieren?

In Bezug auf das Fragmentarische von Striets Überlegungen ist zu fragen: Wo bleibt die Gegenwart Gottes, wie sie liturgisch, gemeindepraktisch und glaubenstheoretisch eingelöst werden könnte? Das Kirchenjahr besteht eben nicht nur aus dem Karsamstag, sondern auch aus Karfreitag, Ostern, Pfingsten, Trinitatis.

In Bezug auf die Radikalität ist zu fragen: Wo bleibt die nicht zu leugnende Schönheit des Lebens? Gerade an den von Striet zitierten literarischen Beispielen ist zu sehen, dass das Leben in der Moderne nicht nur darin besteht, Ungewissheiten auszuhalten, sondern auch in Kompromissen alltäglich Widersprüche zu ertragen. Das gilt allerdings nur für diejenigen, die die Tatsache der Geburt akzeptiert haben. In den schwärzesten Passagen von Striets Buch hört man einen Ton der Vergeblichkeit, der keine theologischen Resonanzen mehr zu erzeugen vermag.

In Bezug auf die Theologie ist zu fragen, ob Gottes Verborgenheit trotz aller Offenbarung nicht noch stärker Rechnung zu tragen ist. Es fällt mir schwer, trotz der Theodizeefrage und allen damit verbundenen Erfahrungen, theologisch ganz auf Gottes Abwesenheit in der Gegenwart zu setzen und seine Anwesenheit allein in die Zukunft zu projizieren.

Philosophisch besteht die entscheidende Frage darin, wie den drängenden Widersprüchen des Lebens umzugehen ist, jenseits von Duldung, Abwarten und Skepsis. Gefordert wäre eine Alltagsethik, die aus der Paradoxie des Lebens entwickelt würde. Arbeitet man sie aus in harmlose Lebensberatung, so verfällt sie dem Verdikt der Kommerzialisierung. Philosophisch anspruchsvoll kann sie aber artikuliert werden, wenn sie beispielsweise die paradoxen Überlegungen zur Individualität aufnimmt, wie sie der portugiesische Schriftsteller Fernando Pessoa[3] schon im frühen 20.Jahrhundert entwickelt hat.

Ich notiere das als meine Fragen, nicht als Kritik. Denn die von Striet hier vorgelegten ersten Suchbewegungen bedürfen der weiteren Ergänzung und des Dialogs über die konfessionellen Grenzen hinweg.

Anmerkungen

[1]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch.

[2]    Dazu Wolfgang Vögele, Arien am Bügelbrett, Karlsruhe 2007, https://wolfgangvoegele.files.wordpress.com/2010/11/alltag-im-guckkasten.pdf.

[3]    Zur Alltagsethik Wolfgang Vögele, Weltgestaltung und Gewißheit. Alltagsethik und theologische Anthropologie, Protestantische Impulse für Gesellschaft und Kirche 4, Münster 2007; zu Fernando Pessoa: ders., Wolkenflüstern. Eine Auseinandersetzung mit der radikalen Anthropologie Fernando Pessoas, Tà Katoptrizómena, H.97, 2015, http://theomag.de/97/wv21.htm.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/107/wv034.htm
© Wolfgang Vögele, 2017