Die Neue Galerie

Andreas Mertin

Erstmals in der Geschichte der documenta wurde die Neue Galerie leergeräumt und bietet nun Platz für eine äußerst dichte Präsentation von über 80 Künstlern und historischen Dokumenten. Sie soll „als Erinnerungsort der documenta 14, als Hauptsitz ihres Geschichtsbewusstseins“ (d14) dienen. Und hier findet sich konzentriert alles, was die documenta-Macher umtreibt: Es geht um den europäischen Kolonialismus und Imperialismus, um Fragen von Kunst und Kriegstrauma, um die Verstrickungen von Kunst und Wirtschaft, um die Beziehung des Museums zur Geschichte kolonialer Eroberung, um Raubkunst und Restitution oder um die Geschichte des deutschen Idealismus und Philhellenismus. Ehrlich gesagt, bin ich beim ersten Besuch der Neuen Galerie nach knapp einer halben Stunde wieder gegangen, so angenervt war ich von den ausgestellten Exponaten. Moralingetränkt erschien mir das Ganze, als ob es ein letztes Mal darum ginge, den bösen Deutschen vorzuführen und im Gegenzug allerlei Trivialitäten unters Volk zu bringen. Öko-Sex mit Bäumen? Ja, sicher eine der großen Herausforderungen zur Lösung durch die zeitgenössische Kunst. Das ist Event-Kultur in Reinformat. Da hat sich die documenta 14 ohne Not den Sendeformaten von RTL und ZDF-Info angenähert.

Und dass man dann auch noch, weil man an die Exponate der Gurlitt-Sammlung nicht herankam,[1] Arbeiten von dessen Ur-Großvater und der Tante vorführt, nähert sich nationalsozialistischer, zumindest aber totalitärer Politik. Wenn ich den Verantwortlichen nicht bekomme, halte ich mich an den Verwandten schadlos. Sippenhaft nennt man das und ist in aufgeklärten Zeiten einfach ungeheuerlich. Die Erklärung des Kurators macht die Sache nicht besser: „Wir haben die Arbeiten von Cornelia Gurlitt in die Ausstellung genommen, weil wir die Geschichte dieser ebenso archetypischen wie atypischen deutschen Familie erzählen wollten. Das ist eine Geschichte von Deutschland im 20. Jahrhundert, und natürlich die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert.“ Ebenso archetypisch wie atypisch? Nebelwerfen scheint jedenfalls keine Kunst zu sein. 

Und ich kann auch in der Aufforderung zur Selbstdenunziation a la Maria Eichhorn nichts Gutes erkennen. Stöbern Sie doch mal auf Ihrem Dachboden, ob da nicht noch von Ihren Eltern oder Großeltern erworbenes Raubgut liegt – wer fragt so etwas mit welchem Recht? Geht es überhaupt um Recht bei dieser Frage? Um Ethik geht es so gut wie gar nicht, da müsste man andere Fragen stellen. Ich meine keinesfalls, dass Raubgut nicht zurückgegeben werden sollte, nur die Form der Aufforderung zur Befragung und Ausforschung der Eltern bzw. Großeltern halte ich für anrüchig. „Im Interesse der Sache“ war schon immer eine falsche Parole.

Sergio Zevallos

Zevallos Arbeit wird im Daybook der documenta so erklärt:

Einerseits kritisiert der ikonoklastische Charakter seiner Arbeiten die Wissensansammlungen, Praktiken und Repräsentationsformen, die das von der kolonialen Moderne geprägte Subjekt hervorbringt. Hier wird der Künstler zum gegenwissenschaftlichen Zerstörer von Taxonomien, von ethnografischen oder psychopathologischen Nachschlagewerken, die festlegen, was als normal oder krank, zivilisiert oder primitiv gilt. Andererseits greift Zevallos Bewusstseinstechniken wie Animismus und Schamanismus auf, die dem westlichen Denken fremd sind. Ziel ist die Rekonstruktion einer neuen Souveränität für den vom kolonialen und nekropolitischen Kapitalismus verwundeten Körper – eine Souveränität, die weder maskulin noch heroisch ist.[2]

Ich will hier wirklich nicht schreiben, was ich von solchen Sätzen halte. Da wird der ganz normale Museumsbesucher zum Idioten erklärt. Zunächst einmal schlage ich schnell bei Artfacts nach um zu schauen, ob und wie der Künstler selbst sich den Bewertungssystemen der kolonialen Moderne fernhält. Darin hat er freilich seit 2007 eine erstaunliche Karriere gemacht. Er wird prominent in Europa gezeigt und gesammelt, wird vertreten von einer deutschen Galerie, gehört zu den oberen 3000 des Betriebssystems Kunst. Und dann erfahre ich im Kommentar, dass Animismus und Schamanismus dem westlichen Denken fremd sind. Glaubt das jemand wirklich, wenn er es schreibt? [Einmal abgesehen von der Frage, ob es Animismus überhaupt gibt und es nicht doch eine Erfindung westlicher Religionswissenschaftler ist.[3]] Sind sie (als Beschreibungen und Bewertungen von Handlungsabläufen vor Ort) nicht geradezu Kategorien westlichen Denkens? Und das Ergebnis des daraus generierten künstlerischen Prozesses? Schrumpfköpfe von Politikern – ich bitte Sie! Verarschen kann ich mich selber. Das ist Muckefuck – Kaffeesurrogatextrakt.

Otobong Nkanga

Im Eingangsbereich der Neuen Galerie darf Otobong Nkanga seine schwarze Seife als Souvenir verkaufen. Als ich mit einer Verkäuferin sprach, fühlte ich mich urplötzlich an den Kindergottesdienstbesuch Mitte der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts erinnert. Man musste sich erst eine lange Tirade anhören, bekam dann einen, aber auch wirklich nur einen Gegenstand (damals war es ein Bildchen) sowohl zur Belohnung wie zum Nachweis der Anwesenheit. So etwas gibt es heute nicht einmal auf den Evangelischen Kirchentagen mehr.

Ernst Barlach – Gerhard Richter – Karl Leyhausen – Arnold Bode – Johann Joachim Winckelmann – Alexander Kalderach – Louis Gurlitt – Dimitris Pikionis – Max Liebermann – Le code noir – Ludwig Emil Grimm – Karl Hofer – Fritz Winter ...

Alles Namen von Teilnehmern bzw. Objekten der documenta 14 in der Neuen Galerie. Früher stellten documenta-Leiter neue Kunstwerke neben alte in der Neuen Galerie um Interdependenzen und Widersprüche zu thematisieren. Heute räumen sie die Neue Galerie leer, um dann wieder alte Kunst dort aufzuhängen. Verkehrte Welt. Langeweile pur. Wnn ich das sehen will, gehe ich in irgendein Kunstmuseum der Welt, dort wird dieser Neu-trifft-Alt-Salat seit 20 Jahren serviert. Wenn es denn wenigsten Entdeckungen wären, die die documenta 14 mit diesen Positionen präsentieren würde. Ich kenne einen Berliner Galeristen, der Jahr für Jahr bisher unentdeckte Talente aus der Zeit des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit ausgräbt und dem Publikum vorstellt. Das ist verdienstvoll. Aber das hier? Die Objekte degradieren die gezeigten Künstler zu bloßen kulturgeschichtlichen Argumenten. Sie vertreten keine Positionen mehr, sondern werden bloß eingesetzt.

Geta Brătescu

Eine Arbeit will ich aus der Neuen Galerie aber doch noch positiv hervorheben, auch wenn es eine Kombination von älteren Arbeiten und einer neuen Arbeit ist. Das Werk der rumänischen Künstlerin Geta Brătescu wird in Deutschland erst allmählich bekannt. Die Hamburger Kunsthalle zeigte immerhin im Mai 2016 eine Retrospektive. Aktuell vertritt sie das Land Rumänien auf der Biennale in Venedig. Das Kunstforum schreibt im Venedig-Band zu ihr: „Seit den 60er-Jahren eine der zentralen Figuren der rumänischen Kunstszene, hat Geta Brătescu ein umfassendes Werk in den verschiedensten Medien erarbeitet. Ihr Repertoire umfasst Zeichnungen und Collagen, textile Wandarbeiten, Objekte, Fotografie, Video, experimentelle Filme und Performance.“[4] Und nennen ihren Beitrag „einen der feinsten der ganzen Biennale“. Das trifft die Sache ziemlich gut. In Kassel sehen wir u.a. die Arbeit „Automatismus produziert Gewalt“ (Grafit auf Transparentpapier) aus dem Jahr 1974. Und ein neues Digitalvideo, das diese Arbeit ergänzt, aus dem Jahr 2017 mit dem Titel „Automatism“. Hier wird präzise über Macht und Ohnmacht der Bilder im Medium der Kunst reflektiert. Das unterscheidet die Arbeiten von denen, die man um sie herum in der neuen Galerie platziert hat.

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Anmerkungen

[1]    An dieser Stelle muss auch einmal gesagt werden, dass es einen kaum zu beschreibenden Kontrast zwischen dem gibt, was die Kunstpresse über die Gurlitt-Sammlung schreibt und dem, was die Gerichte und die so genannte Taskforce bis heute herausgefunden hat. Von den 1500 aufgefundenen Werken aus dem Besitz von Gurlitt gelten bis heute nicht einmal 10 als Raubkunst. Da gibt es viele Museen weltweit, die einen höheren Quotienten an Beutekunst haben (insbesondere die ethnologischen Museen). In den Artnews ist nun zum Beispiel Folgendes zu lesen: “Adam Szymczyk was appointed artistic director of Documenta 14 in late 2013, right around the time that it was revealed that, in 2012, a prosecutor had seized 1,500 art objects from the Munich apartment of Cornelius Gurlitt, including perfect-quality paintings by Monet, Renoir, Matisse, Chagall, and others. And he seized them because they had been looted by the Nazis from their rightful owners.” Nein, das ist schlicht unwahr. Schon das Eindringen des Staates in die Wohnung von Gurlitt war unverhältnismäßig, wenn nicht gar unrechtmäßig. Die Beschlagnahme der Bilder war es, wie sich inzwischen längst herausgestellt hat, ebenfalls. Sie waren bis auf einige Ausnahmen Privateigentum des Sammlers Gurlitt. Jeder kann diese Privatsammlung demnächst in öffentlichen Präsentationen sehen und das überprüfen. Szymczyk und die Kunstszene aber wollten einen Schauprozess – jenseits der Frage der historischen Verantwortlichkeiten. Und weil sie den nicht bekamen, zerrten sie Verwandte von Gurlitt ins Licht der Öffentlichkeit: „In this case, a three-way Athens-Gurlitt-Germany tie-in might be more in line with Documenta 14's mission statement than the full Gurlitt trove.“ Das mag wahr sein, aber es ist unendlich traurig. Dass Szymczyk dann auch noch in altlinker Weise von der „the German intellectual class“ spricht, reiht ihn ein in eine unselige Geschichte, die das Wort Intellektuelle herabsetzend verwendet. Vgl. dazu Bering, Dietz 1982. Die Intellektuellen: Geschichte eines Schimpfwortes. Frankfurt/M: Ullstein.

[4]    Kunstforum International Band 247, Länderbeiträge Giardini, Rumänien. S. 332.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/108/am598.htm
© Andreas Mertin, 2017