Das Landesmuseum

So viel Übersicht

Andreas Mertin

Zur „Logik der Nutzung“ dieses Ortes schreibt die documenta:

Nach umfassenden Umbau- und Renovierungsarbeiten wurde das neu gestaltete Landesmuseum im November 2016 wiedereröffnet, wobei es der Verfolgung der diffusen Frage nach regionaler Identität weitgehend treu blieb. Die strenge Architektur des Antikensaals und die grelle Heraldik des Wappensaals haben eine Konstellation von Arbeiten der Künstler_innen der documenta 14 angeregt, die zum Teil durch ihr Bekenntnis zu Farbe und Form geeint sind, wobei Abstraktion und Repräsentation einer leichten Identifikation gegenüberstehen.

Gezeigt werden dann Positionen von acht Künstlerinnen und Künstlern. Vorab noch so viel: es lohnt sich, zunächst auf den Turm des Landesmuseums zu steigen und von dort einen Überblick auf die nach 1945 wieder aufgebaute Stadt Kassel zu gewinnen (und natürlich auf die modifizierten Torwachen) und dann erst Stockwerk für Stockwerk die Kunstwerke zu erschließen. Ich greife aus den ausgestellten Arbeiten drei Positionen heraus:

Nevin Alada

Die Keramik, die Nevin Aladağ im Landesmuseum aufgestellt hat, hat bei meinen jeweiligen Begleitern und Gesprächspartnern ganz unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Die einen fanden sie spannend und interessant, die anderen banal. Diese gegenteiligen Reaktionen lassen sich leicht erklären, denn die Arbeit basiert darauf, dass sie von vielen Voraussetzungen bzw. intertextuellen Anspielungen Gebrauch macht. Die Arbeit trägt den Titel „Jal", was in Sanskrit Netz oder Gitter bedeutet. Nach eigenen Aussagen wählte Aladag solche Muster aus, „die sich auf die Geometrie, Bauhaus, Jugendstil, Natur und orientale Flora-Formen beziehen“.[1] Vor Ort entwickeln sie einen überaus ambivalenten Charakter. Erkennbar sind sie nicht Bestandteil der normalen Museumsinszenierung, sondern sind dort in einen Zwischen-Raum hineingestellte, an dem jeder vorbei gehen muss, der durch das Treppenhaus geht. Zum anderen tragen sie aber auch keine Aussage in dem Sinne, den man in einer thematisch orientierten Ausstellung erwartet. Karlheinz Schmid hat in der Kunstzeitung moniert, dass das Kunstwerk so „riskant“ platziert sei, dass es durch die Besucher gefährdet sei. Das könnte aber auch der Reiz der Inszenierung sein. Stabilität und Fragilität in einem. Vor Ort allerdings wird das Kunstwerk gerne für Selfies genutzt.

Mata Aho Collective

Der Vorhang des Kollektivs verstört – kommt man von unten die Treppe heraufgestiegen, knallt er einfach mitten in den Raum, kommt man von oben die Treppe herunter, ergießt er sich (schön poetisch) ins Treppenhaus. Das Spiel mit Farbe und Form (und Kontext), das der Documenta für diesen Ausstellungsort vorschwebte, funktioniert hier sehr gut. Und auch die Verweigerung der Kommunikation einer unmittelbaren Bedeutung ist einsichtig. Insofern bildet er ein treffendes Bindeglied zwischen der Keramikskulptur im oberen Geschoß des Landesmuseums und der narrativen Inszenierung im Erdgeschoß. Die in Neuseeland lebenden Künstlerinnen Erena Baker, Sarah Hudson, Bridget Reweti und Terri Te Tau, die das Kollektiv 2012 gründeten, verstehen Nähen als methodischen und Flechten als ästhetischen Prozess. Das so entstehende Objekt soll beseelt sein.

Nairy Baghramian

Ich weiß nicht, ob man die Installation von Nairy Baghramian wirklich adäquat verstehen kann, wenn man die ihr zugrunde liegende Kurzerzählung von Jane Bowles nicht kennt. Nicht umsonst werden die meisten Fotos des Ensembles vom ersten Stock des Museums gemacht, wo man einen besseren Überblick gewinnt. Unten aber blickt man zunächst auf eine rote, etwas zackig ansteigende Fläche, aus der ein Mast mit acht Wimpel aufragt. Dahinter kommt eine geneigte schwarze Fläche, auf der zwei Kegel platziert sind, die von Stöcken umgeben sind. Das ist überaus rätselhaft für den Betrachter. Man kann an ein Schiff denken und an eine rechteckige Insel, die eine eigene Welt bilden. Aber es könnte auch etwas ganz anderes sein. Lesbar wird es erst mit eine bestimmten Deutungskategorie.

Der Werktitel „Iron table“ führt uns nun zur erwähnten Kurzerzählung von Jane Bowles.[2] Darin wird ein Gespräch wiedergegeben, dass zwischen einem Mann und einer Frau irgendwo in Marokko geführt wird, bio­grafisch bedingt wahrscheinlich in Tanger (wo Jane Bowles mit Paul Bowles, einem Autor und Komponisten lebte). Das Gespräch beginnt damit, dass der Mann feststellt, dass die ganze Zivilisation zerbricht und die Frau ihm wehmütig zustimmt. Aber sie stimmt ihm nicht zu, weil sie ihm Recht gibt, sondern weil er der Zustimmung bedürftig ist. "Es gibt Orte, an denen die Kultur unberührt geblieben ist", antwortet er. "Wenn wir in die Wüste gingen, musst du das alles nicht spüren. Würdest du das nicht lieben?" Aber, wie er längst weiß, will sie nicht in die Wüste, weil sie das für keine Lösung hält. Ihm dorthin folgen würde sie vielleicht, weil sie seine Frau ist: „Frauen haben Freude daran, ihre Ehemann glücklich zu machen.“ Aber sie selbst möchte nicht dorthin. Und auch über die wahrnehmbaren Veränderungen (die Industrialisierung) redet sie nur, um sich zu streiten und so in einem gewissen Sinn sich lebendig zu fühlen. Irgendwann wird dieser Streit aufhören, weil sie seiner müde geworden sind. „Aber solange sie konnte, würde sie diesen Moment vermeiden.“ Soweit Janes Bowles.

Es geht also um drei verschiedene Orte: das Dort der westlichen Zivilisation, das Hier der von dieser Zivilisation und den regionalen Lebenswelten gleichzeitig bedrohten Lebenswelt und das Jenseits des unberührten, reinen Ortes. Wenn man in der Skulptur von Baghramian – etwas anders als das documenta Daybook – die schwarze Fläche mit dem eisernen Tisch vor dem Hotel am Straßenrand von Tanger und die beiden Kegel mit den beiden redenden Protagonisten verbindet, dann könnte man durchaus die schiffsähnliche Struktur mit der Sehnsucht nach dem Aufbruch, nach einer lebbaren Utopie verknüpfen. Aber wie gesagt, man kann es auch ganz anders lesen.

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Anmerkungen


[1]    Kunstforum International 248, S. 404.

[2]    Bowles, Jane 2005 [1978]. The iron Table. In: Bowles, J., Williams, J. & Capote, T.: My sister's hand in mine: The collected works of Jane Bowles. New York, NY. (FSG classics).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/108/am599.htm
© Andreas Mertin, 2017