Magazin für Theologie und Ästhetik


Ist Gott eine ästhetische Formel?

Von Meistern der Leere, Sinnsuchern und theologischen Zwergen

ANDREAS MERTIN

Es scheint offensichtlich, daß man der Herausforderung nicht aus dem Wege gehen kann. Der Leser (der Mißdeuter), der uns über die Schulter blickt, kann genauso ein Roland Barthes wie ein Karl Barth sein. Für die gegenwärtigen Meister der Leere steht tatsächlich nur das Spiel auf dem Spiel. Und da unterscheiden wir uns voneinander. (George Steiner)

Ein Essay mit Folgen

Der in Genf und Cambridge lehrende Literaturwissenschaftler, Philosoph und Schriftsteller George Steiner hat mit seinem Essay "Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?"(1) Überlegungen vorgelegt, die auf reges Interesse gestoßen sind und kontroverse Diskussionen ausgelöst haben und die nicht zuletzt tief in den Kernbereich der Erörterungen um Kunst und Kirche bzw. Theologie und Ästhetik hineinführen. Ausgangspunkt des Essays ist die Frage, ob die aktuellen Trends dekonstruktivistischer Ästhetik sich nicht im sinnentleerendem Spiel verlieren, ob das "Sekundäre" gegenüber dem Ursprünglichen, Originellen, Primären nicht zum Selbstläufer zu werden droht. Dem Leben aus zweiter Hand stellt Steiner seine Utopie einer Künstler-Republik gegenüber, in der die Kunst zu sich kommt, in der der Vertrag zwischen Zeichen und Bezeichnetem nicht gebrochen ist, in der von realen Gegenwarten des Sinns ausgegangen werden kann. "Die These lautet, daß jede logisch stimmige Auffassung dessen, was Sprache ist und wie Sprache funktioniert, daß jede logisch stimmige Erklärung des Vermögens der menschlichen Sprache, Sinn und Gefühl zu vermitteln, letztlich auf der Annahme einer Gegenwart Gottes beruhen muß" [13]. Kunstwerke von bedeutender Größe bedürfen eines religiösen, metaphysischen Impulses: "es gibt Dimensionen der Kunst, des Dramas, der Lyrik, die wir ohne eine metaphysisch-religiöse Einstellung nie wieder erreichen werden".(2)

Steiners Ausführungen haben zu einer angeregten, ja erregten Debatte unter Literaturwissenschaftlern, Philosophen und Kunsthistorikern geführt.(3) Von unzulässiger "Theologisierung der Kunst", der "Ästhetisierung Gottes" und von einer "Theorie-Travestie" ist geschrieben worden: "Von realer Gegenwart adelt eine von hermeneutischen Reflexionen unbeleckte, auf schiere Erlebnisqualität erpichte Lebensphilosophie mit alten theologischen Titeln und erhebt sie, nicht ohne ästhetische Restsüße, zur Offenbarung" (Anselm Haverkamp). Sind wir auf dem Weg vom homo sapiens zum homo divinans?(4) Wird Steiner zum "Fastenprediger des Ästhetizismus"(5) wie Walter Grasskamp nicht ohne Berechtigung unter Anspielung auf Savonarola anmerkt?

Die Künstler-Republik

Steiner beginnt seinen Essay mit einer Parabel, dem utopischen Entwurf einer Welt der gelingenden ästhetischen Aneignung von Kreativität. "Kurz, ich entwerfe eine Gesellschaft, eine Politik des Primären des Unmittelbaren im Hinblick auf Texte, Kunstwerke und musikalische Kompositionen. Das Ziel ist eine Art von Erziehung, eine Definition von Werten, bei denen im größtmöglichen Maße auf 'Meta-Texte' verzichtet wird ... Eine Stadt für Maler, Dichter, Komponisten oder Choreographen an Stelle einer für Kunst-, Literatur-, Musik- oder Ballettkritiker und -rezensenten, sei es im kommerziell-publizistischen oder im akademischen Bereich" [17]. Künftig soll nicht mehr in unendlichen Diskursen über Kunst gesprochen werden, vielmehr soll Kunst aufgeführt, wahrgenommen, nachvollzogen, analysiert, inszeniert, eben "auf direktmöglichste Weise" praktiziert werden. Nicht die Lektüre des Kommentars, der Rezension, der Besprechung soll vermittelnd zum Kunstwerk hinführen, dieses selbst soll wahrgenommen werden. Wo andere Gesellschaften der Kunstvermittlung gründen, sinnt Steiner ihnen eine Welt der Kunstbegegnung an. Periodika der Kunstvermittlung, Nährboden geschwätziger Kunstkritik, erweisen sich als überflüssig, liegt doch die wahre Kritik der Kunst in der Kritik durch die Kunst. Steiner verweist auf gelungene innerkünstlerische Rezeptionsketten, z.B. von Homer über Vergil und Dante bis hin zu Joyce oder auf Picassos aneignende Transformierung von Velásquez "Las Meninas". In all diesen und vielen weiteren angeführten Beispielen geht es um die ästhetische Kritik im kritisierten Medium selbst. Die Werke sollen fürderhin nicht weiter durch Worte umstellt und erstickt werden, sondern in variationsreicher Aufführung zu sich selbst und damit zum Rezipienten kommen. Nicht um die Ausgrenzung des Sekundären schlechthin ist es Steiner zu tun, vielmehr stellt er die Frage, wo wir denn dem Originären noch unverstellt, unmittelbar begegnen, ohne daß sich bereits Fußnoten, Anmerkungen, Marginalien, Kommentare, Auslegungen dazwischengeschoben hätten. Jeder kann die Erfahrung teilen, daß aktuell die sekundären Welten der Rezension, des Kommentars, der Vermittlung ihren jeweiligen Bezugspunkt zu überlagern drohen: "Der Baum stirbt unter dem gierigen Gewicht der Kletterpflanzen" [70]. Niemand ist mehr in der Lage, und sei es auf dem begrenzten Feld seines Fachgebiets, auch nur annähernd die Flut an Publikationen zu überschauen, geschweige denn sich anzueignen, die Jahr für Jahr "über etwas" erscheinen. Gegen dieses erdrückende Universum des Sekundären entwirft Steiner seine Gesellschaft des Primären, eine Gesellschaft, in der der Text noch nicht zum pre-text (Vorwand) des Kommentars verkommen ist. Wenn auch der Status dieser Parabel eher atopisch als utopisch ist, erfüllt sie doch eine Funktion: "Meine Parabel soll eine fundamentale Frage auf den Punkt bringen: die Frage der Gegenwart (oder Abwesenheit) von poiesis in unserem individuellen Leben und in der Politik unseres Gesellschaftswesens" [39].

Der gebrochene Vertrag

Im zweiten Teil des Essays geht Steiner den Gründen nach, die zur Entstehung der Dominanz der Sekundärwelt geführt haben und er entdeckt sie in der Loslösung des Logos von der Welt, der Lösung oder Aufkündigung des Vertrages, wie Steiner es bezeichnet. "Ich bin der Überzeugung, daß dieser Vertrag zum ersten mal in irgend fundamentalem und folgenreichem Sinne während der Jahrzehnte zwischen 1870 und 1940 in Kultur und spekulativem Bewußtsein Europas, Mitteleuropas und Rußlands gebrochen wird. Es ist dieser Bruch des Kontraktes zwischen Wort und Welt, der eine der wenigen echten geistigen Revolutionen in der Geschichte des Westens darstellt und durch den sich die Moderne definiert" [127]. Mallarmé und Rimbaud werden ihm zu Kronzeugen des Rückzugs aus dem Wort. Mallarmés Zurückweisung einer Beziehung zwischen logos und Welt, die eine Theorie realer Abwesenheit impliziert, und Rimbauds Zersplitterung des Selbst sind der Beginn der modernen Vernichtung des Sinns. Der Rückzug aus dem Wort, das bei Steiner immer emphatisch zu lesen ist, kulminiert in der Dekonstruktion, sei sie von Roland Barthes, Jaques Derrida, Paul Klee oder auch John Cage. Wir leben in der Welt "nach dem Wort" [138], in einer Gesellschaft, die durch den "fundamentalen Übergang von einer referentiellen Semantik zu einer Semantik interner Relationen" [143] charakterisiert ist.(6)

Die Welt nach dem Wort ist nicht nur durch die den Menschen auszeichnende Tatsache gekennzeichnet, daß alles sagbar ist ("wenn Napoleon in Vietnam das Kommando gehabt hätte"), daß er sich fiktive und imaginäre Welten erschaffen kann, sondern auch dadurch, daß alles als Zitat erkennbar bzw. de-konstruierbar ist, ja daß Bedeutung, daß jede Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem nur noch theologisch sagbar und damit überholt ist. "Das Problem ist ganz einfach das der Bedeutung von Bedeutung, wie sie bestätigt wird vom Postulat Gottes. 'Am Anfang war das Wort.' Einen solchen Anfang gab es nicht, sagt die Dekonstruktion lediglich das Spiel von Klängen und Merkmalen inmitten der Mutationen der Zeit" [162]. Dekonstruktion zielt gegen den Schein von Verbindlichkeit, gegen die Übergänge, sie orientiert sich am Text zwischen den Zeilen, an den Rissen und Schründen, dem Nichtgesagten des Textes: "Jeder Wahrheitsanspruch, sei er philosophisch, ethisch, politisch, ästhetisch und allem voran ... theologisch, wird immer von der Textualität aufgelöst, in die er eingebunden ist" [165]. Letztlich entfallen damit auch die gängigen Kriterien zur Unterscheidung zwischen Text und Kommentar. Die Grenzen von Literatur und Philosophie/Philologie verschwimmen: "Es kann keinen hierarchischen Schnitt zwischen Primärtexten und Sekundärtexten geben. Beide gehören gleichermaßen zur Totalität semiotischer Sequenzen oder écriture. Beides sind Skripte. Der einzige Unterschied zwischen dem Gedicht und dem Kommentar ist einer rhetorischer Verfahrensweisen" [168].

Reale Gegenwarten

"Westliche Theologie und deren bedeutendere Fußnoten wie Metaphysik, Epistemologie und Ästhetik sind 'logozentrisch'. Das bedeutet, daß sie den Begriff einer 'Gegenwart' als fundamental und von überragender Wichtigkeit zum Axiom erheben. Es kann die Gegenwart Gottes sein (letztlich muß sie es sein) ... Diese Gegenwart, sei sie theologisch, ontologisch oder metaphysisch, macht die Behauptung glaubwürdig, daß 'etwas ist an dem, was wir sagen'." [163] Diese Glaub-Würdigkeit ist es, die, nach Steiner, der von der Dekonstruktion des Sinns gebeutelten Welt Not tut. Wir brauchen das Vertrauen darauf, daß mit dem Versprechen von Bedeutung auch Bedeutung verknüpft ist, daß reale Gegenwarten vorhanden sind, daß es etwas und nicht vielmehr nichts gibt. Eine Bedingung dafür ist, daß wir das Andere als Anderes wahrnehmen und annehmen, ihm seine Alterität zugestehen und zur Entfaltung kommen lassen. "Es gibt Sprache, es gibt Kunst, weil es 'das andere' gibt ... Narziß hat kein Verlangen nach Kunst. Bei ihm fügen sich Äußerung, Phantasterei und die Verfertigung eines Bildes todbringend zu einem geschlossenen Selbst" [183f.]. Kunst und Religion lehren uns, "daß wir von Gemeinschaft heimgesuchte Monaden sind" [186]. Im dritten und letzten Teil seines Essays entwirft Steiner daher eine Theorie der cortesia, der zuvorkommenden Höflichkeit gegenüber dem Gast, der Kunst heißt, er entwickelt eine Ethik der Rezeption. Höflichkeit, Takt, eben Cortesia setzt den Gast ins Recht, gibt ihm Priorität gegenüber jeder sekundären Betrachtung, jedem Kommentar. Analog dazu, daß ich Gott nicht in mein Haus zerren und meinen Wünschen gefügig machen kann, ohne ihn zum Götzen zu machen, analog dazu, daß ich einen geliebten Menschen nicht überfallen und ihm dann meine Liebe erklären kann, ohne ihm Gewalt anzutun, analog dazu kann ich das Kunstwerk nicht instrumentell vereinnahmen, bevor ich ihm gestatte, seine Wirkung in Freiheit zu entfalten, ohne seine Freiheit bereits zerstört zu haben. "Wo Freiheiten einander begegnen, wo die integrale Freiheit der Schenkung oder Verweigerung des Kunstwerkes auf unsere eigene Freiheit der Rezeption oder der Verweigerung trifft, ist cortesia, ist das, was ich Herzenstakt genannt habe, von Essenz ... Von Angesicht zu Angesicht im Gegenüber zur Gegenwart gebotener Bedeutung, die wir einen Text nennen (oder ein Gemälde oder eine Symphonie), streben wir danach, seine Sprache zu hören. Wie wir auch die des auserwählten Fremden hören wollen, der zu uns kommt" [206].(7)

Ist schon die Pflege der cortesia selbst religiös-kultischer Abkunft(8), so geht Steiner aber auch darüber hinaus davon aus, daß "alles, was wir in Literatur, Kunst und Musik von zwingender Größe erkennen, religiös inspiriert, von religiösem Bezug ist" [282]. Freilich ist der religiöse Bezug sehr ambivalent gedacht ("Durchgehend jedoch ist große Kunst in unserer umstrittenen Moderne, wie alle großen Gestaltungen zuvor, angerührt vom Feuer und Eis Gottes" [291]), am ehesten entspricht er der romantischen Kunstreligion: so ist die Musik "die ungeschriebene Theologie jener, die keinem formalen Glauben anhängen oder ihn verwerfen" [285]. Kunst wird Steiner zum Garanten einer Sinnfülle, die sonst nicht mehr erreichbar ist. In der Differenz zwischen Karfreitag und Ostersonntag tut sich der lange Samstag des Wartens, der Erwartung auf, er ist der Tag der Poiesis, der Tag der Kunst. "Gäbe es sie nicht", so beschließt Steiner seinen Essay, "wie könnten wir ausharren?"

"Unsere Wünsche wollen Kathedralen bauen"

Im folgenden geht es mir nicht um eine umfassende Kritik des Essays von Steiner, der eher gelesen als kommentiert werden will, sondern ich möchte einige Marginalien aus der Sicht eines mit Ästhetik befaßten Theologen einbringen. Meine Fragen zielen auf

  • die Verbindung von Kunst und Religion, die Steiner vorzuschweben scheint
  • den zu niedrig bewerteten Differenzierungsgewinn der Moderne,
  • das Bilderverbot als produktiv "religiösem" Moment der Moderne,
  • den instrumentalisierenden Umgang mit der Theologie sowie
  • den Versuch, einem Mangel durchs Setzen aufs Gegenteil zu entgehen.

Steiners Angriffspunkt ist die (ästhetische) Moderne schlechthin. Sie verliert seiner Ansicht nach etwas, was die Geschichte hindurch selbstverständlich war: den Glauben an eine durch Gott verbürgte reale Gegenwart, daran, daß dieser den Zeichen Gewicht verleiht. Ohne diesen Bürgen scheint die Kunst zu einem leeren Spiel zu verkommen, scheint sie der Beliebigkeit des Kommentars preisgegeben. Freilich muß Steiner die Geschichte der Künste und ihrer Beziehung zur Religion einer gewissen Revision unterziehen, denn so einfach läßt sich eine religiös determinierte Bedeutungsfülle der Vergangenheit mit der nihilistischen Leere der Gegenwart nicht verrechnen. Die Verdrängung der religiösen Bezüge datiert wesentlich früher, als Steiner es wahrhaben will. Orientiert man sich beispielsweise an der religiösen Semantik der bildenden Kunst, so stellt man nicht nur fest, daß die religiöse Dominanz im Diskursverhältnis von Kunst und Religion historisch gewachsen und damit keineswegs vorgegeben ist, sondern auch, daß sie seit dem 14. Jahrhundert bröckelt. Man muß religiöse Bedeutung als unabhängig von der religiösen Semantik denken, um zu Einschätzungen zu kommen, wie Steiner sie aufstellt. Tut man dies, gerät man freilich in einen expliziten Widerspruch zu den jeweils zeitgenössischen Theologen. Hans Robert Jauß hat zu Recht in seiner Rezension unter Berufung auf Hans Belting darauf verwiesen, daß historisch die bruchlose Kontinuität des Heiligen und des Schönen nicht zu halten ist: "Wenn sich an dieser Schwelle zur Moderne aber Dichtung und Kunst kühnlich an die Stelle des Sakralen setzen, ist ihre ästhetische Aura nicht mehr aus der Erfahrung religiöser Kunst erborgt, sondern dieser provokativ entgegengesetzt. Es handelt sich hier ... nicht um eine Profanierung des Sakralen, sondern umgekehrt: um eine Sakralisierung des Profanen".(9)

Ästhetische Erfahrung und theologische Hermeneutik der Kunst

Die Theologen selbst haben der Gegenwart Gottes in den Künsten nur sehr bedingt getraut. Das gilt insbesondere für die bildende Kunst. Zwar scheint die Bilanz der Geschichte von Kunst und Kirche eine elementare Verwandtschaft ihrer Diskurse nahezulegen, aber dies ist eine verzerrte Sicht dieser 1600jährigen Beziehungsarbeit. Man denke nur an die kritische Distanz zur bildenden Kunst in der frühen Kirche, in der ernsthaft die Frage erörtert wurde, ob Künstler überhaupt Christen sein könnten, ohne den Beruf gewechselt zu haben. Oder man erinnere sich an die distanziert-aufgeklärte und aufklärerische Betrachtungsweise der Autoren der Libri Carolini, die auf die Ununterscheidbarkeit von religiöser und nichtreligiöser Kunst hinweisen und für die ein Bild nichts als ein Bild war, d.h. eine Fläche, die mit Linien und Farben ausgefüllt ist. Oder man vergegenwärtige sich den mainstream theologischer Bildtheorie, die seit dem 6. Jahrhundert ungebrochene und übermächtige Tradition der didaktischen Vernutzung der Kunst durch die Religion, welche jene zu einem bloßen Mittel für einen vom religiösen Diskurs gesetzten Zweck degradiert. Stutzig machen sollte allerdings schon der Umstand, daß gerade in jener theologischen Tradition, die das Bild als unverzichtbares sinnliches Element des Glaubens verteidigt, jenes erst durch den Kommentar zur gültigen religiösen Aussage wird. Erst das sekundär hinzukommende Wort vergegenwärtigt die Gegenwart Gottes im Bild: "Wie die Kirchen den Namen des Heiligen empfangen, so tragen ihn durch die Aufschrift auch deren Bilder, und sie werden dadurch geheiligt" (Nikephoros, Patriarch von Konstantinopel) - "Die Bilder tragen den Namen des Abgebildeten und sind durch diesen Namen, sei es der Name Gottes oder des Heiligen, geheiligt" (Johannes von Damaskus). Erst die Beschriftung macht aus einem einfachen handwerklichen Bild eine Ikone(10), erst im Rahmen des Glaubens gewinnt das ästhetische Erlebnis einen Sinn, erst durch den religiösen Diskurs bekommt das ästhetische Spiel seine Referenz. Nicht das Werk an sich, nicht seine Qualität, seine künstlerische Originalität und Größe bürgen für seine Bedeutung, diese wird ihr sekundär appliziert. Allenfalls die bilderkritischen Theorien der Ikonoklasten kommen der Auffassung Steiners von einem referentiellen Eigensinn der Kunst nahe, arbeiten sie doch innerhalb ihres apophatischen Diskurses mit einer Theorie, die den Werken der Kunst in einem fast modern zu nennenden Sinn einen eigenen auratischen Wert zuschreibt.(11) Dieser wird freilich weniger als Gegenwart Gottes denn als bestimmte Negation bzw. unmittelbare Konkurrenz wahrgenommen, die ikonoklastischen Theologen konstatieren einen Widerstreit von ästhetischem und religiösen Diskurs gerade dort, wo die apophantische Rede von realen Gegenwarten sich in der Theorie der bildenden Künste lokalisieren müßte, wollte sie nicht der Rückkehr zur mittelalterlichen Dienstfunktion der Kunst für die Kirche das Wort reden.

"Theses Upon Art and Religion Today"

Die Verbindung, die Steiner zwischen Kunstwerk und Sinn, zwischen Religion und Kunst sieht, und auf die er setzen möchte, ist auch in einem anderen Sinne fragwürdig. Theodor W. Adorno hat sich in einem 1945 erschienen Aufsatz unter dem Titel "Theses Upon Art and Religion Today"(12) gegen jede vorschnelle Verbindung von Kunst und Religion gewandt. Seine Thesen lassen sich wie eine aktuelle Auseinandersetzung mit Steiners Überlegungen lesen. Kunst, Religion und Philosophie sind für Adorno das ausdifferenzierte Ergebnis europäischer Aufklärung, ihre Dissoziation unaufhebbar. Gesellschaftliche Prozesse wie die der Ausdifferenzierung des ästhetischen, des religiösen und des philosophischen Diskurses sind unumkehrbar. Die emphatisch beschworene Einheit von Kunst und Religion sei das Ergebnis einer romantischen Projektion und spiegele keinesfalls reale historische Verhältnisse. "Hence the desire for a reconstruction of that much praised unity amounts to wishfull thinking, even if it be deeply rooted in the sincere desire for something which gives 'sense' to a culture threatened by emptiness und universal alienation". Tatsächlich habe diese Einheit nie existiert, vielmehr ließe sich das Verhältnis von Kunst und Religion als eines der einseitigen Unterdrückung charakterisieren. "Hence there is reason for the suspicion that wherever the battle cry is raised that art should go back to its religious sources there also prevails the wish that art should exercise a disciplinary, repressive funktion". Sinnstiftung allein kann eine neue Verbindung von Kunst und Religion nicht rechtfertigen. Den Grund der Versuche, Kunst und Religion zu versöhnen, sieht Adorno in der Sehnsucht nach einem sinnstiftenden, integrierenden Moment. Jedoch liefe die Engführung von Kunst und Religion auf das Gegenteil dessen hinaus, was sie intendierte: die totale Schwächung aller in Frage stehenden Gehalte, sowohl der religiösen, der philosophischen wie der künstlerischen so würden Kunst und Religion zu beliebig austauschbaren kulturellen Waren gemacht. Nur durch eine fast asketische Abstinenz von der Religion könne Kunst ihre wahre Affinität zur Religion bewahren: "Religious art today is nothing but blasphemy ... Art that wants to fulfill its humane destination should not peep at the humane, nor proclaim humanistic phrases". Und Adorno schließt seine Überlegungen mit einem exemplarischen Verweis auf das Werk von Marcel Proust: "The relationship of the work and the universal becomes the more profound the less the work copes explicitly with universalities, the more it becomes infatuated with its own detached world, its material, its problems, its consistency, its way of expression. Only by reaching the acme of genuine individualization, only by obstinately following up the desiderata of its concretion, does the work become truly the bearer of the universal". Unter diesen Gesichtspunkten ist Steiners Essay weniger die ungestüme Kritik an der Dekonstruktion, als vielmehr ein mangelndes Vertrauen in die heuristische, welterschließende Kraft der Kunst fern aller religiösen Bindung vorzuwerfen.

Differenzierung als Substanzverlust?

Steiner scheint den Differenzierungsgewinn der Moderne nicht sehr hoch einzuschätzen. Nach Max Weber ist die Moderne durch einen grundsätzlichen "Polytheismus der Werte" gekennzeichnet. In der Moderne sind das Wahre, das Gute, das Schöne und das Heilige auseinandergetreten, sie sind eigensinnig, autonom geworden und es wächst die Spannung zwischen ihnen, ja sie schließen einander geradezu aus. Weber begreift die fortschreitende Trennung der verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche voneinander als differentia specifica der Moderne. Die Situation der Moderne ist durch einen unwiderrufbaren Pluralismus geprägt. "Die Kunst konstituiert sich nun als ein Kosmos immer bewußter erfaßter selbständiger Eigenwerte"(13), nur so kann sich ihre Eigengesetzlichkeit entfalten. Ein Aspekt der Autonomie der Kunst ist ihre zunehmende Materialbeherrschung sowie ihr Reflexiv-Werden. Es ist für heutige Betrachter kaum noch bewußt, in welchem Ausmaß der prüfende Blick der Moderne bereits in die Kunstwahrnehmung eingeflossen ist. Die ästhetischen Avantgarden am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben sich wieder und wieder mit der Frage auseinandergesetzt, was Kunst eigentlich ausmacht, welche Bedeutung Farben, Formen, Inhalten zukommt, welche Rolle Künstler und Kunstkritiker, Kunstmarkt und Museum im Prozeß der Kunstproduktion spielen. Die Ablösung der bildenden Kunst vom Naturalismus, die Entdeckung einer neuen visuellen Wirklichkeit, des Lichts, der Farben durch den Impressionismus, die Thematisierung des Unbewußten im Surrealismus, die Entdeckung der Struktur, des Expressiven, der Fläche durch Cézanne, van Gogh und Gauguin, die Entwicklung der ungegenständlichen Kunst, die durch Duchamps Ready-mades provozierte Einsicht in den Prädikationsakt des Künstlers bei der Entstehung des Kunstwerks - all das hat die Welt der Kunst revolutioniert, ja man muß genauer sagen, rückwirkend überhaupt erst zu einer eigenen Welt werden lassen. Nur aus der Perspektive der Autonomie der Moderne kann ein emphatischer Begriff von Kunst entwickelt werden: Die Autonomie der Kunst ist "ein Gewordenes, das ihren Begriff konstituiert" (Th. W. Adorno). Der Preis, der dafür zu entrichten ist (wenn man ihn denn als einen solchen bezeichnen kann), ist die Aufgabe aller Vorgaben und Außenbestimmungen, darunter auch die Loslösung aus dem Kontext übergreifender, objektiver Religion. Im Prozeß der Autonomisierung gelang es der Kunst, sich von jeder konkreten Vernutzung zu befreien, das heißt auch von der Respektierung moralischer Zensuren, religiös-ästhetischer Programme einer Kirche, akademischer Kontrollen oder politischer Vorgaben. Diese Entwicklung zur Autonomie ist schon einmal als Verlust beschrieben worden, als "Verlust der Mitte" (Hans Sedlmayr): der Höhepunkt der Autonomie als Höhepunkt der Entfernung von Gott. Es war jedoch schon damals die Frage, ob sich damit nicht eine überholte Geschichtsepoche artikulierte, ob hier nicht eher eine mittelalterliche Metaphysik und Ästhetik den Weg zur Wahrnehmung der Kunst der Gegenwart verstellte.

Autonomie und Bilderverbot

Die Autonomie der Künste kann theologisch dagegen nur begrüßt werden (wozu sich die Theologie leider nur spät, nur sehr zögerlich und mit vielen Vorbehalten durchgerungen hat, lange nachdem jene ihren autonomen Status bereits erkämpft hatten), sie entspricht einer Einsicht, zu der das Bilderverbot nötigt. Gerade das biblische Bilderverbot bedingt die Weltlichkeit der Welt, denn nichts in der Welt kann mit Gott verwechselt, nichts im Himmel und auf Erden kann als Bild Gottes(14) mißverstanden werden. In diesem Sinne bedeutet nicht erst Jesus Christus, sondern bereits das Bilderverbot des Alten Testaments die "Befreiung der Künste zur Profanität" (Kurt Marti), denn nichts nötigt und nichts legitimiert die Künste theologisch zur Repräsentanz: "Das alttestament(liche) Bilderverbot hat neben seiner theologischen Seite eine ästhetische. Daß man sich kein Bild, nämlich keines von etwas machen soll, sagt zugleich, kein solches Bild sei möglich" (Theodor W. Adorno).

Es überrascht nicht, daß Steiner mit dem biblischen Bilderverbot nur wenig anfangen kann: "Es mag sehr wohl sein, daß unsere Zivilisation ... sich überhaupt gar nicht hätte entwickeln können, wenn sie nicht, vielleicht unbewußt, das Bilderverbot verletzt hätte, wenn sie nicht in immer wieder neuer mimesis Gott und die Welt im Wort 'nachgebildet' hätte ... Diese durch imitatio und Ansprüche auf Bedeutungshaftigkeit begangene Übertretung des Urverbotes der 'Nachbildung' war zweifellos tröstlich und sogar fruchtbar (sie brachte immerhin unsere Kultur hervor)" [162]. Nun ist der Zielpunkt des Bilderverbots nicht das Verbot der Nachbildung Gottes im Wort, da "die von unserem Sprachgebrauch her vollzogene Kombination von plastischer Darstellung und geistiger Vorstellung beim Begriff Bild nicht im Blickfeld des Verbotes liegt"(15). Dieses Problem stellt sich erst in der Verbindung des Christentums mit der hellenistischen Geisteswelt. Darüber hinaus wäre aber auch zu fragen, ob es nicht das Bilderverbot selber ist, dem sich unsere Kultur verdankt.(16) Das Bilderverbot schließt, wie Christian Link schreibt, "die Verwechslung Gottes mit einem Stück Weltwirklichkeit als Götzendienst aus. Eine solche Verwechslung aber liegt vor, wo immer der Versuch gemacht wird, Gott als Sicherung, Ergänzung oder Überhöhung des weltlichen Daseins zu verstehen".(17) Indem schon das biblische Bilderverbot die bildende Kunst von der systematischen Überforderung durch die Metaphysik bzw. die Theologie entlastet, setzt es sie frei zum reinen Spiel, das die Welt zu relativieren und in ihre Grenzen zu weisen vermag: "Das wagt doch der Mensch in der Kunst: die gegenwärtige Wirklichkeit in ihrem schöpfungsmäßigen Das-Sein, aber auch in ihrem So-Sein als Welt des Sündenfalls und der Versöhnung nicht letztlich ernstzunehmen, sondern neben sie eine zweite, als Gegenwart nur höchst paradoxer Weise mögliche Wirklichkeit zu schaffen" (Karl Barth).(18)

Der Einsatz

Man wird Steiner eine gewisse Nähe zu diesen Gedanken nicht bestreiten können, dennoch sind seine Argumente um einen entscheidenden Moment anders. Ihm geht es nicht darum, daß Gott in der Welt Gehör findet, und auch nicht darum, daß etwas aus der Welt als Gleichnis verstanden wird. Daher handelt es sich auch nicht um die Theologisierung der Kunst, wie seine Kritiker ihm vorgehalten haben. Steiner pflegt vielmehr einen instrumentellen, ja ästhetisch-spielerischen Umgang mit Transzendenz, Metaphysik und Theologie: sie bilden seinen Einsatz am Roulettetisch des Sinns. Man kann sich dies an einem Bild verdeutlichen, das Walter Benjamin für das Verhältnis von historischem Materialismus und Theologie entworfen hat: das Bild vom automatischen Schachspieler, der in Wirklichkeit von einem Zwerg bedient wurde. "Gewinnen soll immer die Puppe, die man 'historischen Materialismus' nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die bekanntlich heute klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen".(19) Bei Steiner wäre der Materialismus durch die Kunst ersetzt und die Aufgabe der Theologie, die sich als aufklärungsresistent erwiesen hat, wäre es, jene vor der drohenden Sinnlosigkeit ihrer Züge zu bewahren. Dieses bewußte "Setzen auf Transzendenz" dürfte jedoch beiden, der Theologie wie auch der Kunst nicht bekommen. Denn auch in diesem Bild bliebe die Kunst, was Steiner ursprünglich Derrida vorgeworfen hatte: eine besinnungslose Puppe.

Zwischenzeitlich hat Steiner in einer indirekten Formulierung seinem Kontrahenten Derrida eine Wette angetragen, eine Wette auf den Sinn: "Ein großer Denker wie der Herr Derrida läßt sich nicht objektiv widerlegen. Man kann nicht beweisen, daß man es ernst nimmt mit dem, was man sagt. Nur wenn man den großen Sprung macht, das irrsinnige Risiko eines transzendentalen Glaubens auf sich nimmt, sei er philosophisch oder theologisch, kann man eine Wette auf den Sinn machen. Man kann wetten, daß es am Ende der Seiten, am Ende des Satzes oder am Ende eines Zwiegesprächs doch um einen Sinn geht"(20). Die Analogie zu Pascals Wette auf den Sinn in den "Pensées sur la religion" drängt sich auf, noch spannender finde ich allerdings die Parallelen zur Rahmenhandlung des Hiobbuches. In der Wette zwischen Gott und dem Satan wird um die Sinnhaftigkeit und die Grenzen der Welt(ordnung) gestritten, wobei der Satan hier noch nicht der eigenständigen Gegenspieler Gottes ist, sondern eher eine Art prüfender Staatsanwalt, ein TÜV des Sinns und der Gesinnung. In Steiners Wette erscheinen die Rollen eigentümlich verschoben. Denn genaugenommen wird die Wette um den Sinn zwischen Gott und Derrida ausgetragen, während Steiner als der Hiob des Dramas erscheint. Er ist es, der gegen den äußeren Anschein der von der Dekonstruktion produzierten Sinnlosigkeit weiter auf den Herrn "setzt", während Derrida kreuz und quer durch die Welt der Texte streift und den Besitz ewiger Kulturgüter in Frage stellt.

Gegen-Lesung

Nun kann man mit Recht die Frage stellen, ob nicht die Dekonstruktion selbst auf die Transzendenz "setzt" oder wenigstens von ihr zehrt, ob sie nicht, wie Jürgen Habermas meint, zur Tradition jüdischer Mystik gehört, weil sie auf den einen, verborgenen, die Welt transzendieren Gott bezogen bleibt: "Die Arbeit der Dekonstruktion dient dann der uneingestandenen Erneuerung eines Diskurses mit Gott, der unter den modernen Bedingungen einer unverbindlich gewordenen Ontotheologie abgerissen ist. Nicht die Überwindung der Moderne wäre dann die Intention, sondern eine spezifische Berücksichtigung der Bedingungen des modernen nachmetaphysischen Denkens, unter denen der ontotheologisch abgeschirmte Diskurs mit Gott nicht fortgeführt werden kann"(21).

Jaques Derrida hat 1987 in Jerusalem einen Vortrag gehalten, dessen Titel lautet: "Wie nicht sprechen. Verneinungen"(22). Thema des Vortrags ist die Absetzung (von) der negativen Theologie. Negative Theologie bestimmt Derrida als Annahme "jedes Prädikat, ja alle prädikative Sprache, bleibe dem Wesen, in Wahrheit der Überwesentlichkeit Gottes, inadäquat, und infolgedessen könne allein eine negative Attribution den Anspruch erheben, sich Gott anzunähern" {10}. Damit stellt sich die Frage, ob nicht auch jeder negative Satz Derridas bereits heimgesucht ist von Gott oder vom Namen Gottes {14}. Und Derridas klare Antwort lautet: nein, Dekonstruktion ist mit der negativen Theologie nicht verrechenbar, sie ist nicht bloße Abwesenheit, denn "dies, was die 'différance', die 'Spur' und so weiter 'sagen will' - was von nun an nichts sagen will -, dies wäre 'vor' dem Begriff, dem Namen, dem Wort, 'etwas', das nichts wäre, das nicht mehr dem Sein, der Anwesenheit oder der Gegenwärtigkeit des Gegenwärtigen, nicht einmal mehr der Abwesenheit und noch weniger irgendeiner Hyperessentialität angehörte" {19}. Zwar kann die Theorie der différance immer wieder in diesem Sinne mißbraucht werden, aber die Beschwörung der realen Abwesenheit ist nicht ihr Ziel. In diesem Kontext erteilt Derrida auch einer Theorie einer negativen Theologie der "realen Gegenwart" eine Absage: während "die Verheißung einer solchen Gegenwärtigkeit häufig die apophatische Durchquerung" begleitet, bleibt dem Denken der différance eine solche Annahme fremd und heterogen {23}. Erst die An-Nahme einer solchen Verheißung würde aus der Theorie der différance eine negative Theologie machen {44}. Es ist freilich unmöglich das Problem der Referenz zu vermeiden. Denn "auch die eventuelle Abwesenheit des Referenten macht noch Zeichen/gibt noch einen Wink" {52}(23) - "Dieses stets vorausgesetzte Ereignis, diese einzigartige Statt-gefunden-haben, das ist denn auch für jede Lektüre, jede Interpretation, jede Poetik, jede Literaturkritik dieses, welches man geläufig das Werk nennt" {54f.}. Aber damit ist nur der Beginn gesetzt, denn nun setzt die differenzaufweisende Arbeit der Dekonstruktion ein, die das Gesagte und das Nicht-Gesagte des Textes expliziert, und die zur inkriminierten Wucherung des Kommentars führt.

Zwischen Derrida und Steiner tut sich eine Differenz auf, die nicht durch eine einfache Setzung oder ein "Beharren auf" zu überwinden ist. "Runges Versuch, das verlorene Paradies aus seiner Notwendigkeit zu konstruieren" betitelt Werner Hofmann einen seiner Aufsätze. Mit einer ähnlichen Überschrift ließe sich Steiner Versuch der Rettung des Sinns durch das Setzen auf Transzendenz beschreiben. Dagegen kann mit Theodor W. Adorno eingewandt werden, daß, wer den Sturz der metaphysischen Ideen nachvollziehe und im Interesse des eigenen Bewußtsein darunter leide, im Gegenzug sich freilich nicht damit zufrieden geben dürfe, von der Hoffnung auf den Wahrheitsgehalt des Erhofften zu schließen. Hier gelte es, Nietzsches Argument zu bedenken, "daß die Unmöglichkeit, ohne ein Absolutes zu denken, glücklich zu leben oder überhaupt nur zu leben, nicht für die Legitimität jenes Gedankens zeuge"(24). "Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint."(25)

Zum Abschluß

Zum Abschluß noch eine Frage zum normativen Gehalt der Steinerschen Utopie. Ist nicht zu vermuten, daß sich auch in den Roßbreiten(26) immer wieder jene Verhältnisse reproduzieren, die Steiner in der sekundärsten aller Welten so beklagt? Was ist, wenn die Kunstwelt selbst das Sekundäre zu ihrem Gestaltungsprinzip macht, wenn etwa die Philosophie Derridas in den Arbeiten des amerikanischen Postmodernen Mark Tansey thematisch wird? Fänden unter Steiners Augen Werke des Iterativismus, wie Mike Bidlos "Not Picasso", Aufnahme in die Künstler-Republik, obgleich doch das Sekundäre ihr innerstes Prinzip ist? Vielleicht fiele die gesamte Kunst der Postmoderne unter das Verdikt, geschwätzige Sekundärwelt zu sein. Letztlich ist es wohl kein Zufall, daß die Fiktion der Künstler-Republik mit Verboten beginnt: "Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der jedes Gespräch über Kunst, Musik und Literatur verboten ist" [15]. Hier scheint mir jener Einwand treffend zu sein, den Jean-Francois Lyotard in einem anderen Kontext vorgebracht hat: "Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt. Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen."(27)

Es spricht viel dafür, eher den kulturkritischen Spielern Roland Barthes und Karl Barth, als dem Metaphysiker George Steiner zu folgen. Man kann der Herausforderung nicht aus dem Wege gehen. Steiner wird mit seinen Thesen innerhalb der Kirchen bei vielen auf Zustimmung stoßen, nicht zuletzt bei jenen, die die Diastase von Kirche und Kultur in diesem Jahrhundert aufmerksam und mit Besorgnis verfolgt haben. Aber der Sorge entkommt man nicht durch "wishfull thinking" und schon gar nicht durch den ostentativen Rekurs auf eine wie auch immer geartete Verbindung von Kunst und Religion. Ich kann mir jedenfalls nur zu gut und mit viel Grauen die religiös-theologische Vereinnahmung Steiners durch jene vorstellen, die sich selbstzufrieden die Hände reiben und feststellen, man habe es schon immer gewußt, ohne Transzendenz gehe es eben nicht, und die nun die wiedergewonnene Salonfähigkeit der Theologie bzw. Religion konstatieren. Sie sollten freilich bedenken, welche (Zwergen)-Rolle Steiner ihnen in diesem Spiel zugedacht hat. Mir jedenfalls ist ein Meister der Leere lieber als ein Zwerg der Fülle.


Anmerkungen

  1. George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München 1990 (Real Presences, 1989).
  2. George Steiner in seinem Interview mit Gunna Wendt und Verena Nolte: "Jede Hoffnung verneint eine Tatsache", Frankfurter Rundschau vom 4. Juli 1992.
  3. Vgl. u.a. die Artikelserie, die im "Forum Humanwissenschaften" der Frankfurter Rundschau erschien (Stellungnahmen von Anselm Haverkamp, Gerhard Neumann, Christoph Menke, Gerhard Kaiser, Sebastian Kleinschmidt, Gottfried Boehm), sowie die Rezension von Hans Robert Jauß im Merkur Sept/Okt 1991, Eckhard Nordhofen in der FAZ 13.11.1990.
  4. Die Lifestyle-Firma "Man Chic Vertriebs GmbH" erklärt diesen Trend in ihrer Werbung so: "HOMO DIVINANS - lateinisch 'der magische, sinnliche' Mensch: Der homo divinans unterscheidet sich vom homo sapiens in der Weise, daß er nicht nur schmeckt, sondern auch Geschmack hat."
  5. Walter Grasskamp, Unerhörte Monologe. Vom Verfall der Konversationskunst. Vom Elend der Kulturkritik. Vom Aufstieg der Kunstreligion, Die Zeit Nr. 33, 7. August 1992.
  6. Vgl. dazu in etwas ironisierender und persiflierender Perspektive das 8. Kapitel aus: Italo Calvino, Wenn ein Reisender in einer Winternacht, München/Wien 1983.
  7. "In diesem Bemühen liegt, wie die Dekonstruktion sogleich aufzeigen würde, eine letztlich unbeweisbare Hoffnung und Präsupposition von Sinn, eine Voraussetzung, daß Verstehen vorstellbar und tatsächlich auch realisierbar ist. Eine solche Präsupposition ist immer einer möglichen Wiederlegung ausgesetzt" [207].
  8. "Die Stelle, wo Zweig und Blatt am höchsten sind, wird klassisch von der cortesia als das letzte Versteck oder der letzte Zusammenkunftsort charakterisiert, der die mögliche Ankunftsstätte Gottes ist" [197]
  9. Hans Robert Jauß, Über religiöse und ästhetische Erfahrung. Zur Debatte um Hans Beltings "Bild und Kult" und George Steiners "Von realer Gegenwart", Merkur Sept/ Okt 1991, S. 934-946, hier S. 942.
  10. Vgl. Guntram Koch, Was ist eine Ikone? in: Althaus, Koch, Zacharuk (Hg.), Ikonen, Frankfurt 1991. Vgl. auch Günter Lange, Bild und Wort. Die katechetischen Funktionen des Bildes in der griechischen Theologie des sechsten bis neunten Jahrhunderts. Würzburg 1968.
  11. Vgl. Verf., Der allgemeine und der besondere Ikonoklasmus. Bilderstreit als Paradigma christlicher Kunsterfahrung in: Mertin/Schwebel (Hg.), Kirche und moderne Kunst, Frankfurt 1988, S. 146-168.
  12. Theodor W. Adorno, Theses Upon Art and Religion Today in: Noten zur Literatur, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt 1981, S. 647-653.
  13. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 5/1963, S. 555.
  14. Zum etwas anders gelagerten Verhältnis von Imago-Dei-Lehre und alttestamentlichem Bilderverbot vgl. Christoph Dohmen, Das Bilderverbot. Seine Entstehung und seine Entwicklung im Alten Testament, Frankfurt 2/1987, S. 281ff.
  15. Ebenda, S. 22.
  16. Vgl. dazu Hauke Brunkhorst, Exodus - Der Ursprung der modernen Freiheitsidee und die normative Kraft der Erinnerung, Babylon 6/1989, S. 22-35, insbes. S. 29f.
  17. Christian Link, Das Bilderverbot als Kriterium theologischen Redens von Gott, ZThK 74, 1977, S. 58-85, hier S. 64.
  18. Karl Barth, Gesamtausgabe, 2. Akademische Werke: 1928, Ethik Band II, Zürich 1978, S. 440.
  19. Vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte (These I), Gesammelte Schriften, Band I, 2, Frankfurt 1980, S. 691.
  20. Steiner im Gespräch, s.o. Anm. 2
  21. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1988, S. 218 (Anm.).
  22. Jaques Derrida, Wie nicht sprechen. Verneinungen, hg. von Peter Engelmann, Wien 1989 (Comment ne pas parler. Dénégations, 1987).
  23. Es folgt wenig später die im Französischen mehrdeutige Bemerkung "C'est ce que la théologie apelle Dieu et il faut, il aura fallu parler". Der Übersetzer bemerkt dazu: "Der Satz läßt offen, ob die Theologie nur 'Dieu'/'Gott' nennt und das Geboten-sein die Konsequenz dieses Nennens ist oder ob die Theologie 'Dieu et il faut ...', 'Gott und es ist geboten/man muß ...' in einem, als eines nennt" {55/122}.
  24. 24 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Gesammelte Schriften Band 4, Frankfurt 1980, S. 107.
  25. Ebenda, S. 108.
  26. Arno Schmidt, Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den Roßbreiten, Frankfurt 1979.
  27. Jean-François Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, Tumult Heft 4 (1982) S. 142.