Februar 2016

Liebe Leserinnen und Leser,

nicht nur in Amerika scheint die Polarisierung der Gesellschaft immer weiter voranzuschreiten. Vielleicht wird sie uns durch die Social Media auch nur viel bewusster. Sascha Lobos „Hilferuf an due mindestens durchschnittlich Begabten“ unserer Gesellschaft Mitte Januar auf SPIEGEL ONLINE trifft durchaus den Kern: „Es ist ein Segen, dass sich alle öffentlich äußern können, und eine Ernüchterung, auf welche Weise dieses Recht wahrgenommen wird.“ Oder, um es ironisch zuzuspitzen: „‘Es regnet, weil die Straße nass ist‘, in den digitalen Fußgängerzonen fände man Aberhunderttausende, die diesen Satz nicht nur unterschreiben, sondern gleich zur Bundestagspetition ausformulieren würden, inklusive der Forderung, Regen zu verbieten und die Straße abzuschieben.“ Aber machen wir uns nichts vor: diese Stumpfsinnigkeit in der Artikulation finden wir inzwischen nicht nur auf den Facebook-Seiten der Pegida-Freaks, wo von Diktatur gesprochen wird, weil einem eine Entscheidung der Regierung nicht passt. Auf IDEA konnte der Satz gefunden werden, es sei nun an der Zeit, die einseitige Diktatur (!) der theologischen Ausbildung zu beenden. Gemeint war, dass die Landeskirchen für die Zulassung zum Pfarramt ein Studium an einer wissenschaftlichen Universität voraussetzen. Den Gemeinden, so wurde nun gefordert, müsse freigestellt werden, auch evangelikale Prediger, die sich nicht einer wissenschaftlichen Ausbildung an der Universität unterzogen hätten, zu berufen. So leicht gerät man also in eine Diktatur. Demnächst werden Hauptschulabsolventen fordern, zur Universität zugelassen zu werden, denn man wolle sich nicht der Diktatur des Abiturs unterwerfen. Und Schamanen werden zur Approbation zugelassen werden wollen, denn die Diktatur der universitär-medizinischen Ausbildung ist ja nun auch schier unerträglich. Der Vorteil der nicht-universitären theologischen Ausbildung ist natürlich, dass sie sich nicht historisch-kritisch rechtfertigen muss. Warum auch? Sapere aude ist nur ein Kriterium der staatlichen Ausbildung. Wenn man heute Begriffe wie „Diktatur“, „Zensur“ etc. liest, kann man sich in der Regel sicher sein, dass sie nicht das bezeichnen, was man traditionell mit Vernunft und Verstand darunter versteht. Zensur ist es schon, wenn man jemandem energisch widerspricht und Diktatur, wenn man Kriterien für etwas aufstellt. Traurige Zeiten.

Das Titelbild der aktuellen Ausgabe des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik zeigt einen fast 500 Jahre alten Teller aus Italien, der in komplexer Verschachtelung die Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies (im Bildzentrum im Hintergrund sieht man noch die Schlange am Baum der Erkenntnis) und ihr Schicksal Jenseits von Eden zeigt.

Wir blicken auf die „Ureltern“  mit Spitzhacke und Spindel, und wir beobachten den sich im Spiegel beschauenden Kain, der seine Untat des Brudermords schon vollendet hat. Die Eine Welt jenseits von Eden ist immer schon gespaltene Welt, Welt in Flammen.

Und wenn wir in den Spiegel blicken, sehen wir unser Antlitz als das des Kain.

Zum aktuellen Heft: „Reformation und die Eine Welt“ ist das Jahresthema 2016 der Lutherdekade. Noch ist nicht ganz deutlich, wie sich dies im Laufe des Jahres füllen wird. Die Eine Welt und die Vielen Welten, die Ökologie und die Nachhaltigkeit könnten Themen sein, aber vielleicht auch nur die Wirkungen der Reformation weltweit. Das Thema bietet nicht wirklich eine Perspektive für kon-zentrierte Auseinandersetzungen.

Unter VIEW finden Sie deshalb thematisch unterschiedlich akzentuierte Beiträge. Andreas Mertin hat sich das Titelbild des Jahresthemenheftes als Inspiration genommen und fragt nach der Odyssee nicht im Weltraum, sondern des Protestantismus in dieser Welt: endet sie weniger auf Ithaka als vielmehr in der Bedeutungslosigkeit? Jörg Herrmann skizziert die unterschiedlichen ethischen und theologischen Reflexionen im Kontext Kirche der letzten Jahre im Blick darauf, was verantwortet „Wirtschaft“ heißen kann. David Bowie hat wenige Tage vor seinem Tod noch einmal einen Videoclip veröffentlicht, den man als Bilanz seines Künstlerlebens lesen könnte. Andreas Mertin wirft einen Blick darauf. Anhand von drei elementaren Geschichten geht Wolfgang Vögele dem Beziehungsgefüge von Lesen – Erkenntnis – Bekehrung nach. Einer Einladung zu einem Tischgespräch im Stil Martin Luthers folgt Andreas Mertin in der auseinandersetzung mit dem neuesten Buch von Dietrich Zilleßen.

In der Rubrik RE-VIEW gibt es zwei Buchbesprechungen bzw. Lektüren von Hans-Jürgen Benedict zu Büchern, die sich in kritischer Perspektive mit dem Christentum beschäftigen. Andreas Mertin ergänzt dies mit Besprechungen weiterer Veröffentlichungen.

Unter POST finden Sie wie gewohnt die Notizen von Andreas Mertin zu Themen der letzten zwei Monate und den Hinweis auf das erste Musikvideo aus dem Weltraum.


Wir wünschen eine angenehme und erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Jörg Herrmann, Horst Schwebel und Wolfgang Vögele