Looking Back to See

Vom gegenwärtigen Versuch, die Geschichte der modernen Kunst anders zu erzählen

Karin Wendt

I was looking back to see
if you were looking back
to see me looking back at you
(Massive Attack, 1997)

Der Schriftsteller Marcel Proust beherrschte die Kunst, nicht nur über Bilder zu schreiben, sondern mit ihnen zu argumentieren, so Andreas Mertin in seiner Besprechung des Buches „Die Gemälde der verlorenen Zeit“[1] von Eric Karpeles, in dem dieser alle Gemälde, die Proust in seinem Romanwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erwähnt, mit den Romanauszügen in einem kommentierten Katalog vorstellt.

„Deutlich wird einem unmittelbar, wie sehr wir diese Kunst der Argumentation mit Bildern inzwischen verlernt haben. Wir beherrschen weder die romantischen Gespräche vor Gemälden noch das Argumentieren mit ihnen. Wir urteilen über Bilder (und das auch nur mit primitiven Geschmacksurteilen), aber nicht mehr mit ihnen. Karpeles zeigt in seiner Gegenüberstellung, wie das geht, wie Proust von der detaillierten Beschreibung bis zum zarten Verweis Kunstwerke in die Lebenswelt einbaut.“[2]

Hier fand ich die kleine Erzählung einer Begebenheit aus dem siebten Erzählband „Die wiedergefundene Zeit“ (1927), in der die Erinnerung an ein Kunstwerk des niederländischen Malers Jan Vermeer zum Auslöser einer alles verändernden Begegnung wird. Dabei geht Proust wie in der Bewegung der Erinnerung erzähltechnisch immer weiter zurück, bis er die innere Bewegtheit, das eigentliche Ereignis, erreicht.

In einem Nachruf auf den Schriftsteller Bergotte, so der Erzähler, habe er auch etwas über die näheren Todesumstände gelesen; so habe dieser kurz vor seinem Tod in einer Ausstellung das Gemälde „Ansicht von Delft“ (1660/61) des Malers Jan Vermeer gesehen. Der Erzähler beschreibt nun die letzten Stunden im Leben des Schriftstellers Bergotte. Dieser, weiß der Erzähler, „liebte“ das Bild und meinte daher, es gut zu kennen. Nachdem er in einer Kritik aber gelesen hatte, dass es in dem Bild ein besonderes Detail gibt[3], das er nie bemerkt hatte, nämlich „ein kleines gelbes Mauerstück, das so gut gemalt sei, daß es für sich allein betrachtet einem kostbaren chinesischen Kunstwerk gleichkomme, von einer Schönheit, die sich selbst genüge“, ließ ihn der Gedanke daran nicht mehr los, so dass er beschloss, sich das Bild noch einmal anzuschauen und in die Ausstellung zu gehen.

Jan Vermeer: Ansicht von Delft, Öl/L, 98.5 x 117,5 cm, 1659-60, Mauritshuis, Den Haag

„Endlich stand er vor dem Vermeer, den er strahlender in Erinnerung hatte, noch verschiedener von allem, was er sonst kannte, auf dem er aber dank des Artikels des Kritikers zum erstenmal kleine blau gekleidete Figürchen wahrnahm, ferner, daß der Sand rosig gefärbt war, und endlich auch die kostbare Materie des ganz kleinen gelben Mauerstücks. [...] Er heftete seinen Blick – wie ein Kind auf einen gelben Schmetterling, den es gern festhalten möchte – auf das kostbare kleine Mauerstück. So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu dürr, ich hätte die Farbe in mehreren Schichten auftragen, hätte meine Sprache so kostbar machen sollen, wie dieses kleine gelbe Mauerstück es ist. Indessen entging ihm die Schwere seines Schwindelgefühls nicht. In einer himmlischen Waage sah er auf der einen Seite sein eigenes Leben, während die andere Schale das kleine so trefflich in Gelb gemalte Mauerstück enthielt [...] Er sprach mehrmals vor sich hin: 'Kleines gelbes Mauerstück mit einem Dachvorsprung, kleines gelbes Mauerstück.'“ (S. 243)


Jan Vermeer: Ansicht von Delft, Öl/L, 98.5 x 117,5 cm, 1659-60, Mauritshuis, Den Haag (Detail)

Auch wenn ihm seine erste Begegnung mit dem Kunstwerk prägender in Erinnerung war, hält er sich bei diesem Gedanken nicht auf, sondern zwingt sich, es noch einmal genau anzuschauen, es gleichsam neu, wie zum ersten Mal, zu sehen, um das Urteil des Kritikers nachzuvollziehen. Jetzt erst nimmt er anderes wahr, vor allem nimmt er aber anders wahr: Kleine Figuren in Blau und die rosa Tönung des Sands. Er hat sich von der erzählerischen Gesamtkomposition, von dem, was er inhaltlich und kunsthistorisch über die Bedeutung des Bildes weiß und erinnert, gelöst und achtet nun auf die Verteilung und den Auftrag der Farbe. Jetzt sieht er so auch das besondere malerische Detail, das er bis dahin nicht hatte wahrnehmen können: den kleinen Fleck aus mehreren Schichten gelber Farbe, das „kleine gelbe Mauerstück“. Indem er ihn genau so sieht, wie er (gemalt) ist – als „kostbare Materie“ – setzt er den Bildausschnitt frei. Dieses „kleine Stück“ Freiheit wiegt in der Bilanz seines Lebens, das er als Schriftsteller der Beobachtung und der Wahrnehmung des Lebens gewidmet hat, schwer. ‚So hätte ich schreiben sollen‘, heißt auch, so hätte ich leben sollen.

Randgänge der Kunst-Geschichte

Anders zu sehen bedeutet letzten Endes die Anstrengung, wieder von vorne anzufangen, an den Anfang zurückzukehren, um eine andere Perspektive einzunehmen, um eine abweichende Erfahrung zu machen. In seiner „Geschichte des reformierten Blicks“[4] zeigt Andreas Mertin, wie sich eine andere Sicht auf die Geschichte von Kunst und Freiheit ergibt, wenn man nicht, wie wir das gewohnt sind, vom Primat der Schrift ausgeht, sondern nach der Bedeutung der ersten Bilder unserer Vorfahren fragt:

Vor 40.000 Jahren entwickelte der Mensch „die Fähigkeit, sich die Welt durch Bilder zu vergegenwärtigen. [...] Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit konnten die bisher mit dem Überleben ringenden Menschen vom Typus homo sapiens einige aus ihrer Gruppe freisetzen, um die Welt, in der sie lebten, im Bild festzuhalten. Das ist ein geradezu atemberaubender Schritt, der sich kaum aus den Erfordernissen des Alltags und des Überlebenskampfes erklären lässt.

Wir wissen nicht, warum die frühen Menschen mit der Bildproduktion begannen. Alle im Laufe der Zeit benannten möglichen Gründe reichen nicht aus, um diese Bilder wirklich zu erklären. [...] Vielleicht taten sie es einfach, weil sie es konnten, weil sie die ersten wirklich Freigelassenen der Schöpfung waren. Vielleicht wollten sie, da sie zum ersten Mal ein Bewusstsein von späteren Generationen entwickelten, diesen Nachkommen bewusst etwas hinterlassen. Dann wären sie die ersten Kulturträger. Am Anfang des Menschen stand jedenfalls das Bild.

Als Menschheit haben wir seitdem einen weiten Weg zurückgelegt und sehen erst jetzt, dass Bilder ihn nicht nur begleitet, sondern überhaupt erst erschlossen haben. Noch einmal besonders folgenreich für uns Menschen der Gegenwart war das, was man historisch die Säkularisierung des Bildes nennt, seine endgültige Freisetzung aus kultischen und religiösen Zusammenhängen. In einem langen und schwierigen Prozess des Nach-Denkens über Bilder haben wir verstanden, dass wir in der Kunst die besondere Macht des Bildes erfahren, ohne ihr aber unterworfen zu sein: Künstlerisch entwerfen wir eine Welt neben der Welt, wir handeln spielerisch experimentell und zugleich schöpferisch und begegnen uns so gerade in unserer konkreten Begrenzung als „Möglichkeitswesen“[5], wie der Theologe Ingolf U. Dalferth sagt.

Obwohl die Überzeugung, dass die menschliche Bestimmung zur Freiheit ästhetische Erfahrung(en) mit einschließt, nicht neu ist, dauert der Prozess, sie ohne Einschränkung zu ermöglichen, noch an – ja kann die Verwirklichung und das Beharren auf ästhetisch erfahrener Freiheit bis heute (lebens-)gefährlich sein. Was die offizielle Moderne mit ihren (künstlerischen) Lebenswegen an Autonomie und Anerkennung aber doch grundsätzlich erstritten und erreicht hat, blieb für die Erfahrung von Menschen an den Randbereichen des gesellschaftlichen Mitein­anders lange gänzlich uneingeholt – in vielem bis heute.

Diese Einsicht hat zwei unterschiedliche Dimensionen: Es geht einmal um das, was man in Anlehnung an den Titel einer Kunstausstellung, die zur Zeit im Folkwang Museum in Essen zu sehen ist, den „Schatten der Avantgarde“ nennen könnte. Also um die Tatsache, dass die kunsthistorische Erzählung der Moderne nach wie vor ein relativ geschlossenes Magazin ist, das wir mit den Worten des Kunsthistorikers Daniel Baumann, öffnen müssen, wenn wir etwas erfahren wollen. Es geht zum anderen um die Frage, wie heute Inklusion im Bereich des Ästhetischen aussehen kann oder soll. Das eine erfordert eine kritische Re-Lektüre der Geschichtsschreibung moderner Kunst, das andere erfordert eine kritische Reflexion dessen, was wir im Sozialen und im Ästhetischen unter Gleichheit verstehen.

Zentrum – Peripherie

Sobald wir von der Geschichte einer Sache sprechen, laufen wir Gefahr, diese immer wieder ähnlich zu erzählen und so das, was sie zu erzählen hat, nur noch zu memorieren und zu konsumieren. In dem Moment aber, in dem wir das durchschauen, erkennen wir die darin liegende Unfreiheit. Wir brauchen andererseits solche Geschichtsmodelle, das heißt den Abstand zum Phänomen, um überhaupt Leerstellen ausfindig machen zu können, um blinde Flecken vielleicht doch irgendwann zu erkennen und andere Narrative auszudenken.

Für eine Geschichtsschreibung der modernen Kunst, die ihren Ausgang in der italienischen Renaissance nimmt, war und ist das monozentristische Erzählmodell besonders wirkmächtig, das Italien insgesamt als Wiege der Kunst begreift, und innerhalb Italiens von einer stilbildenden Produktion in den Zentren Rom, Florenz und Venedig ausgeht, mit einer mehr oder weniger epigonalen oder abseitigen Kunstproduktion in den übrigen Stadtregionen. Nach Einschätzung von Willibald Sauerländer entdecken wir erst „seit wir dem Monopol der Avantgarden zu mißtrauen begonnen haben, [...] auch in der älteren Kunstgeschichte das eigene Gesicht abgelegener Produktionszonen.“[6] Das Gewicht und die Dominanz einer bestimmten Tradition erläuterten die Kunsthistoriker Enrico Castelnuovo und Carlo Ginzburg in den 80er Jahren als Motor für ihr Projekt, die Geschichte der italienischen Kunst unter Gesichtspunkten der neueren Soziologie anders zu perspektivieren: „Hat man eine so bedeutende Tradition unabänderlich im Rücken, so ist es unmöglich, sich nicht peripher zu fühlen. Aus der Peripherie herauszukommen, setzt mithin die Auseinandersetzung mit der Tradition, mit dem Museum voraus.“[7] Indem sie sich von der paternalistischen Prägung durch den „Vater der Kunstgeschichte“ Giorgio Vasari lösen und von der „Möglichkeit einer autonomen Produktion der Peripherie“ ausgehen, entsteht eine neue Sicht auf Geschichte und auf die Kunstwerke. Es geht nun um politische Interessen und persönliche Beziehungen, aber auch um die Neubewertung von Künstlern und Werken, die über die Fortschreibung von Urteilen ihrer Zeitgenossen als peripher oder absonderlich galten, wie etwa das Werk von Jacopo Pontormo, der zum Ende seines Lebens psychisch und physisch immer weiter an den Rand der gesellschaftlichen Akzeptanz rückte. In ihrem Aufsatz „Zentrum und Peripherie“[8] beschreiben Ginzburg und Castelnuovo

„eine breit gefächerte Typik von möglichen Beziehungen, die von der Rückständigkeit bis zum Widerstand, von der Deklassierung bis zum Rückzug reicht, vom Triumph der zentralen Herrschaft bis zu Alternative und produktiver Abweichung vom hauptstädtischen Paradigma. [...] Sie führen eine Optik ein, welche einem 'postmodernen' historischen Bewußtsein entspricht, das nicht mehr vorbehaltlos an den Siegeszug der Innovationen und Avantgarden glaubt, das Raum läßt für Alternativen.“[9]

Insgesamt entsteht ein komplexeres Bild der stilistischen Fragestellungen und Innovationen, diesseits des historischen Modells von Höhepunkt und Verfall, von Blüte und Degeneration.

Indem die Kunsthistoriker bisher Ausgeschlossenes konstitutiv einbeziehen, enttarnen sie auch den Scheindualismus von künstlerischer Kreativität, die sich 'irgendwie' von selbst entwickelt, und einer soziokulturellen Dynamik, die erkennbaren Gesetzmäßigkeiten folgt.

„Wenn das Zentrum als Ort der künstlerischen Schöpfung definiert wird, und Peripherie einfach den Abstand vom Zentrum meint, dann bleibt schlechterdings nichts anderes mehr übrig, als die Peripherie als Synonym für künstlerische Randständigkeit anzusehen. Genau genommen handelt es sich dabei um ein subtil tautologisches Schema, das die Schwierigkeiten eher beiseite räumt, als zu lösen versucht. Wir wollen stattdessen versuchen, die Begriffe 'Zentrum' und 'Peripherie' (und die dazugehörigen Beziehungen) in ihrer geographischen, politischen, ökonomischen, religiösen und auch künstlerischen Komplexität wahrzunehmen. Dies bedeutet freilich auch, künstlerische und außerkünstlerische Phänomene zueinander in Beziehung zu setzen, um das falsche Dilemma zwischen Kreativität im idealistischen Sinn (der Geist weht, wo er will) und summarischem Soziologismus zu meiden. [...] Es geht [dabei] nicht um Verbreitung, sondern um einen Konflikt: Einen Konflikt, der auch noch in Situationen auffindbar ist, in denen sich die Peripherie darauf zu beschränken scheint, die Anweisungen des Zentrums blind zu befolgen.“ (S. 23)

Die konfliktuelle Betrachtung der Geschichte, die die Kunst uns eigentlich lehrt, wird im Umgang mit ihrer eigenen Geschichte eher vermieden.

Abstraktion und Freiheit

Kurz nach Kriegsende entfaltet sich eine politische Debatte um die moderne Kunst. So schreibt Werner Haftmann in einer Entgegnung auf Äußerungen während der Moskauer Kongresse im März und April 1957, in der modernen Kunst komme „die unabhängig wirkende Idee der schöpferischen Freiheit und der dem einzelnen aufgetragenen Wirklichkeitsbestimmung zum Ausdruck.“ Moderne Kunst sei insofern nicht per se „demokratisch“, aber sie sei nur im politischen Klima der Demokratie möglich.[10] Der explizite Anschluss an die künstlerische Avantgarde vor dem Krieg war besonders in Deutschland eine moralische Forderung, Versuch und Wille, dem ästhetischen Terror der nationalsozialistischen Kunstauffassung eine befreite Bildsprache entgegenzustellen. Mit dem machtpolitischen Blockdenken verfestigt sich nun die Idee einer „Abstrakten Kunst“ der freien westlichen Welt auf der einen und einer „gegenständlichen Propagandakunst“ der unfreien kommunistischen Welt auf der anderen Seite. Der Kunsthistoriker Serge Guibault ging 1983 in seinem Buch „'Wie Amerika die Idee der Modernen Kunst gestohlen hat.' Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg“[11] einem Ideologieverdacht nach. Er stellt (sich) darin in Bezug auf sein Forschungsfeld, den Abstrakten Expressionismus im Amerika der Nachkriegszeit, andere als die bis dahin üblichen Fragen und versucht, „den gesellschafts- und kulturpolitischen Horizont zu erhellen, vor dem sich der Aufstieg einer Malerei vollzog, die zum Markenzeichen amerikanischer Kunst schlechthin wurde.[12] Wie konnte es zu so einem schnellen Erfolg dieser so genannten Zweiten Moderne kommen? Serge Guibault zeigt in seinem Buch auf, wie eine Kunst, die stilistisch auf der Höhe der Zeit ist, ein bestimmtes Klima zu spiegeln vermag, dessen Wirkmächtigkeit dann kulturpolitisch instrumentalisiert werden kann, wie im Falle der Kunst im Stil des Abstrakten Expressionismus.

„Wenn die Vereinigten Staaten die freie Welt anführen sollten, dann mussten sie dies mit mehr als mit ökonomischer, politischer und militärischer Macht verfolgen, mit der sie aus dem zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren. Sie mussten auch in der Kultur führend sein. Amerikanische Kultur wurde bis dahin etwa in Paris allzu oft ausschließlich in Begriffen der populären Meinung interpretiert. Was Amerikaner brauchten, war eine Hochkunst, die ihnen vergleichbar mit ihrer politischen, ökonomischen und militärischen, auch eine kulturelle Autorität in der Nachkriegswelt geben würde.“[13]

Guilbaut richtet unser Augenmerk aber noch auf eine andere Dynamik moderner Kunst. Indem die amerikanische Kunstkritik der 60er Jahre die Idee des ästhetischen Formalismus auch in den Dienst der politischen Klasse stellte, hat sie eine künstlerische Klasse mit geschaffen, die selbst genau genommen nicht mehr ästhetisch argumentierte, die autonome Formensprache also als Entwertung aller Diskurse versteht, sondern erneut mimetisch, indem sie sie als Abbild eines bestimmten Freiheitsmodells und darin als Beleg kultureller Hegemonie erläutert. Wie kam es dazu? Wie schaffte es Jackson Pollock als Künstler auf das Cover des Life Magazine?

Der Vorwurf, der Gedanke der Autonomie der Kunst sei ein ideologisches Instrument der herrschenden Elite, wird bis heute auf mehr oder weniger politisierende Weise vorgetragen. Zu fragen ist also, ob es einen logischen Zusammenhang von (formaler) Autonomie und (liberaler) Ideologie gibt, und wenn ja, worin er liegt.

Ideologisch verwendet man das Argument von der Autonomie der Kunst dann, wenn man begrifflich nicht genau trennt zwischen Autonomie und Befreiung, wie Christoph Menke unter anderem in seinem Aufsatz „Autonomie und Befreiung”[14] erläutert. Befreiung ist, so Menke, kein autonomer Akt, also ein selbst-gesetzlicher, sondern ein gesetzloser Akt. Wenn wir von sozialer Befreiung sprechen, geht es darum, uns von den Zwängen und Gewohnheiten wieder zu lösen, die mit der Zeit, im sozialen Miteinander, aus unserer “zweiten Natur”, dem moralischen Gesetz erwachsen, das wir uns selbst – autonom – gegeben haben. In der „sozialen Dimension bedeutet Befreiung von zweiter Natur Kampf gegen soziale Herrschaft.” Dieser innere Kampf, die Auseinandersetzung zwischen Geist und innerer Natur, gegen die erstarrten Formen der zweiten Natur, wird nun im ästhetischen Akt, im Akt der Ästhetisierung, „wiederbelebt“.

„Beides, der ästhetische und der politische Akt, sind Akte der Befreiung, ohne aus eigenem Gesetz als vernünftigem Gesetz zu folgen. Sie richten sich gegen die Heteronomie der zweiten Natur und ermöglichen Autonomie. Aber sie sind nicht autonom.” (S. 183-184)

Bezogen auf die Kunst heißt das: Diese ist oder verkörpert nicht selbst Freiheit, sondern sie tritt in ihrer Eigengesetzlichkeit dem anderen Gesetz (der Gewohnheit) entgegen. Autonome Kunst stellt also nicht an sich einen sozialen Akt der Befreiung dar – das zu behaupten, wäre Ideologie im Sinne des Liberalismus. Sie wirkt nur in der ästhetischen Erfahrung als Negation der außerästhetisch geltenden Gesetze befreiend.

„Ästhetische Freiheit ist Freiheit in Differenz zu sich selbst. Ästhetische Freiheit ist nicht die höchste Form oder die versöhnte Gestalt der Freiheit – nicht Freiheit in ihrer vollkommenen Verwirklichung, sondern Freiheit im Unterschied zu ihrer sozialen, kulturellen, politischen, rechtlichen usw. Verwirklichung.”[15]

Thomas Wagner, der das Buch von Guilbaut rezensierte, hat deshalb Recht, wenn er titelte: „Uncle Sam brauchte Jackson Pollock.“[16]

Analog zum Ideologievorwurf ist die Auffassung, dass die autonome Kunst, und die abstrakte Kunst im Besonderen, synonym ist mit „lebensfremd“, „ästhetisierend“, „unkritisch“ oder „formelhaft leer“. Dass diese Ansicht 'salonfähiger' ist als noch in den 60er Jahren, mag mit der damaligen politischen 'Passung' von Abstraktion und westlicher Politik, wie sie Guilbaut herausgearbeitet hat, zusammenhängen. Vielleicht liegt es aber noch mehr daran, dass die Erfahrung von Kunst mit einer Eigengesetzlichkeit konfrontiert, die an die eigene, innere Kraft appelliert und vermittelt, dass man diese Kraft nicht auf Dauer von seinem Leben trennen kann, ohne den Impuls zur Eigenbewegung zu unterdrücken. Das kann Angst machen oder Aggressionen auslösen und so zu Abspaltungsreaktionen führen. Einfacher ist es, nicht genau hinzusehen und nur das wahrzunehmen, was die eigene Sicht bestätigt.

Inklusion und Ästhetik

In dem gegenwärtigen Bemühen, die Randgänge der Moderne zu erschließen, den „Schatten der Avantgarde“ zu erhellen und so die Entwicklung moderner Kunst anders zu erzählen, sie anzureichern und in Teilen auch neu anzustoßen, gibt es unterschiedliche Vorschläge, wie das unvollendete Projekt der Moderne weiter oder gar zu Ende zu denken sei. Eine Schwierigkeit, Inklusion im Bereich der Kunst umzusetzen, scheint dabei die Frage, was man wie einbeziehen will und soll – in der kuratorischen Praxis, in der künstlerischen Praxis und in der sozialen Praxis.

Ander(e)s kuratieren

Soziale Gleichheit im kreativen Bereich herzustellen, heißt zunächst zuzulassen, dass möglichst vieles von dem, was Menschen schaffen, einbezogen wird, ohne hierbei vorab bestimmte Formen der Kreativität zu definieren oder auszuschließen. Weder die Verwertbarkeit noch bestimmte Moden oder Trends dürften eine ausdrückliche Rolle spielen. Das wäre die Anerkennung der schöpferischen Vielfalt unter dem Gesichtspunkt des Ideals einer universalen Gleichheit, alles darf sein. Mit Blick auf die Urheber ginge es darum, möglichst alle kreativ tätigen Menschen ohne Ansehen der Person, d.h. unabhängig ihrer psychischen oder körperlichen Verfassung, ihrer sozialen Herkunft, ihrer kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit, einzubeziehen. Darin liegt die Anerkennung individueller Verschiedenheit, der Verschiedenheit der Individuen. Beides, die Anerkennung von Vielfalt und die Anerkennung von Verschiedenheit, ist für die Gewährleistung sozialer Freiheit elementar. Ohne sie schlägt jedes Projekt der menschlichen Auseinandersetzung und Annäherung fehl – auf welcher Ebene auch immer.

In den vergangenen Jahrzehnten gab es von kuratorischer Seite verschiedene Ansätze, die Narrative der Kunstgeschichte durch die Einbeziehung von Arbeiten von Künstlern zu erweitern, die nicht oder nur bedingt Teil des kunsthistorischen Kanons (geworden) sind, um so ein Potenzial zu erschließen und sichtbar zu machen, das aus Gründen der sozialen Ächtung ästhetisch ausgegrenzt, unverstanden und schließlich irgendwann einfach vergessen wurde. Einer der ersten, der die Aufmerksamkeit auf diese gesellschaftlichen Ränder der menschlichen Kreativität, jenseits des akademischen Kunstbetriebs, gelenkt hat, war Jean Dubuffet (1901-1985). Die meisten seiner Künstlerkollegen erkennen wie er ästhetische Qualitäten, die für die Entwicklung der damals noch am Anfang stehenden modernen Kunst wegweisend wurden. So erkennen wir erst heute, nachdem wir durch die Moderne hindurchgegangen sind, nachdem wir verstanden haben, worin die Leistung der Dadaisten bestand, auch, worin die Leistung etwa der Lautgedichte von Adolf Wölfli (1864-1930) liegt und erst deshalb – und darin liegt die eigentliche Aufklärung – verstehen wir annähernd, was Marginalisierung, was Ausschluss historisch bedeutet hat und weiterhin bedeutet.

Diese Haltung und noch mehr den Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten gegen diese Haltung ruft Harald Szeemann mit der „documenta 5. Befragung der Realität – Bildwelten heute“ wieder ins Bewusstsein, indem er „parallele Bildwelten“ einrichtet und unter anderem „Bildnerei der Geisteskranken“ ausstellte, Werke, die von Hans Prinzhorn als Kunst von Geisteskranken in den Universitätskliniken in Bern, Lausanne und Paris gesammelt worden waren.

Gleichwohl war Szeemann Begrifflichkeit und die räumliche Separierung der Arbeiten schon damals problematisch – umso unbegreiflicher, dass die Kuratoren in der gerade zu Ende gegangenen Ausstellung „Avatar und Atavismus“ in der Kunsthalle Düsseldorf diese Art der Inszenierung als 'Beleg' für das 'kunstübergreifende' Phänomen des fragmentierten Körpers wieder einführen.

Die Idee einer gesellschaftlichen Öffnung im Sinne der kunsthistorischen Feld-Forschung stellte zuletzt Massimiliano Gioni 2013 mit der 55. Venedig Biennale 2013 erneut zur Diskussion. Gionis Versammlung von zeitgenössischen Positionen etablierter Künstler mit solchen, die outside arbeiten, ist weitgehend positiv gewürdigt worden. Über das kuratorische Konzept von Gioni haben Künstler und Kuratoren unter anderem im „Salon of Everything“ diskutiert, zu dem James Brett vom Londoner Museum of Everything eingeladen hatte.[17] Vorbehalt wurde dort unter anderem gegenüber der von Gioni gewählten humanistischen Rahmenmetapher vom „Palazzo Enciclopedico“ geäußert, als einer letztlich reaktionären Idee, die Differenzen zugunsten des Universalen aufhebt.

Eine dezidiert historische Annäherung versucht eine Ausstellung, die noch bis zum 10. Januar 2016 im Folkwang Museum in Essen läuft: „Der Schatten der Avantgarde. Rousseau und die vergessenen Meister.“ Künstlerische Wegbereiter und 'Stilmarken' der Moderne – von Gustave Courbet, über Constantin Brâncuși, Paula Becker-Modersohn, Fernand Léger, Piet Mondrian bis hin zu Blinky Palermo – säumen den Ausstellungsparcours durch eine Vielzahl von künstlerischen Werken so genannter Outsider, deren Bedeutung für die Kunstgeschichte der Moderne erst noch zu entdecken ist. Sie 'erschüttern' unsere sedimentierte Erfahrung und fordern so das vergleichende Sehen und das eigene ästhetische Urteil auf ungewohnte Weise heraus.

Generell problematisch bleibt der Begriff der „Outsider Art“ für Arbeiten jenseits oder außerhalb des etablierten Betriebssystems Kunst, der sich im Laufe der Zeit mit zunehmender Marktbreite etabliert hat. Meines Erachtens ginge es gegenwärtig daher auch darum, einen Gedanken von Paolo Bianchi[18] wieder stärker geltend zu machen: Alle Künstler sind „Außenseiter“ – Nomaden, Randgänger, Beobachter – nur so gelingt es ihnen, eine ästhetisch souveräne Erfahrung gegenüber unserem gängigen Verständnis der Dinge sichtbar zu machen.

Kraft der Kunst – kraft des Ästhetischen

Was Kunst ermöglicht, ist konkrete Differenzerfahrung, und das Spannende am modernen Kunstwerk liegt, wie Erich Franz schreibt, „darin, daß es sich im Sichtbaren ausdrückt und dieses Sichtbare zugleich in Frage stellt, indem das, was wir sehen, uns auf die Fragmenthaftigkeit des Gesehenen und die Unzulänglichkeit unseres sehenden Erfassens hinführt.[19] Es gibt also eine Fragwürdigkeit der Wahrnehmung, die sich über die Offenheit des Kunstwerks (Erich Franz) vermittelt. Dieser muss eine Offenheit des Menschen, eine Haltung der Öffnung gegenüber dem, was er nicht eindeutig bestimmen kann, entsprechen, wenn er ästhetisch etwas erfahren will. Es geht um ein Sehen, das bereit ist, vom identifizierenden Zugriff abzulassen; es geht um eine Begegnung, in der die Vergewisserung der Welt nicht oder nur anders gelingt, als ich es im Alltag gewohnt bin, denn ich erfahre, wie ich alles – die Situation, das Gegenüber, die Welt oder mich selbst – zugleich auch anders sehen kann. Wenn wir das zulassen, können wir dies, sowohl wenn wir künstlerisch tätig sind als auch wenn wir Kunst begegnen, sogar als lebendige Kraft erleben, wie Christoph Menke schreibt:

„Die in ästhetischer Perspektive entdeckte Lebendigkeit menschlichen Tuns widersetzt sich dem Modell des zweckbegründeten Handelns: als lebendiges ist das menschliche Tun nicht Verwirklichung eines Zwecks, sondern Ausdruck von Kraft.“

Von den Künstlern zu lernen, hieße nach Menke

„zwischen Handeln und Leben unterscheiden zu lernen; es bedeutet zu lernen, dass das Gute des Lebens nicht dasselbe ist wie das Gute des Handelns. Das gute Leben setzt sich nicht aus guten Handlungen zusammen. Gut ist das Leben, sofern es lebendig ist.“[20]

Inklusion in ästhetischer Perspektive zu denken, hieße daher nachzuvollziehen, wie unsere Erfahrung ästhetischer Freiheit mit unserem Anspruch sozialer Gleichheit, dem Ideal der Gerechtigkeit also, zusammenhängt. Diesen Zusammenhang erläutert Christoph Menke in seinem Buch „Die Kraft der Kunst“ im Kapitel „Ästhetische Gleichheit. Die Ermöglichung von Politik“. Gleichheit ist wie Freiheit nicht natürlich gegeben, denn

„all Vermögen sind ja ungleich verteilt. Und sie sind es ebendeshalb, weil wir kein Vermögen von Natur aus haben. [...] Fähigkeiten, Vermögen ... unterscheiden uns als Könner und Nichtkönner, in Mehr- oder Wenigerkönner. Und vielleicht viel tiefer und weitreichender noch als in der Art und im Grad unserer Fähigkeiten selbst unterscheiden wir uns in unseren Urteilen darüber, was einen Könner ausmacht […] Unsere Vermögen vergesellschaften und entzweien uns.“[21]

Auch im Ästhetischen können wir also keine Gleichheit 'herstellen'. Nur in der ästhetischen Überschreitung unserer sozialen und kulturellen Existenz erfahren wir uns als gleich. Ästhetische Gleichheit bedeutet gerade nicht, alles als Kunst zu betrachten, also künstlerische Kriterien aufzugeben, sondern zu verstehen, dass sie sich nur als vorauszusetzende Kraft überhaupt denken lässt:

„Nur weil alle Menschen Kräfte haben, die sich im Spiel entfalten, weil alle Menschen darin gleich sind, können sie Vermögen erwerben, in deren Ausübung, Maß und Auslegung sie sich unterscheiden und entzweien. [...] Nur weil alle Menschen Einbildungskraft haben, nur weil alle Menschen darin gleich sind, dass sie anders werden – anders sehen, vorstellen, empfinden – können, als sie sind, sind sie nicht determiniert durch natürliche Tatsachen und können deshalb soziale Vermögen [...] erwerben [...]. Die Gleichheit ist, als Gleichheit der Kraft, nichts Gegebenes. Die Kraft, in der wir gleich sind, ist vielmehr deshalb eine Voraussetzung, weil es sie nur gibt, weil wir sie nur erfahren und von ihr wissen können, indem wir Akte vollziehen, in denen sie sich entfaltet. Das sind ästhetische Akte: Akte des Spiels, der Einbildungskraft, Akte, in denen wir über unsere sozial erworbenen Fähigkeiten und Vermögen hinausgehen ...“. (S. 171-172)

Inklusion in ästhetischer Perspektive hieße also umgekehrt anzuerkennen, dass die Kraft des Ästhetischen keine Kraft des Handelns, sondern deren Suspension ist. Von da aus können wir das Leben neu angehen und dafür Sorge tragen, dass allen Menschen dieser Freiraum nicht nur zugestanden, sondern aktiv eröffnet wird. Auch wenn ein gewisses Unbehagen bleiben mag, im Bereich der Kunst und des Lebens mit dem Begriff der Kraft zu operieren, wird so plausibel, warum wir ästhetische Erfahrungen, gerade auch wenn sie irritierend, verstörend, verunsichernd wirken, als Kräftigung und als Impulsgeber zur Eigenbewegung erleben. Aus ästhetischer Sicht ließe sich die nachfolgende Einsicht des Anthropologen Helmuth Plessner ergänzen: „So wie sich der Mensch sieht, wird er. Darin liegt seine Freiheit, an der hat er festzuhalten, um Mensch zu sein.[22] So wie sich der Mensch ästhetisch sieht, ist er, das ist die andere Seite seiner Freiheit, auf die muss er achten, um Mensch zu werden.

Kunst im Sozialen

Wenn Künstler als kreativ Handelnde dieses auf die geltend gemachten ethischen Voraussetzungen sozialer Gleichheit beziehen, entsteht im Sozialen Kunst – eine Kunst, die das Soziale einschließt. Beispiele einer zeitgenössischen Kunst, bisher Ausgeschlossene und Ausgeschlossenes zu inkludieren, sind die Arbeiten des polnischen Videokünstlers Artur Žmijewski, etwa „Glucky Bach“[23], wo er mit gehörlosen Menschen Kantaten von Bach einspielt, oder „Blindly“, wo er mit blinden Menschen malt. Hier wird der Widerstreit von Ethik und Ästhetik konkret erfahrbar und wir werden so mit den Voraussetzungen unserer eigenen Urteilskriterien konfrontiert, ohne dass eine Vermittlungsebene angeboten wird.

Ein eindrucksvolles Beispiel ist auch das Projekt „Gefangene Geheimnisse“[24] der Kölner Künstlerin Cony Theis. In gemeinschaftlichen Porträtsitzungen mit Patienten in der Forensik malt die Künstlerin zuerst den Patienten und dann, auf demselben Blatt, er die Künstlerin „'(Selbst) Porträt' und 'Geheimnis' sind die inhaltlichen Schwerpunkte des künstlerischen Konzepts. Dabei sind die Teilnehmer partizipatorisch eingebunden; ihre Auseinandersetzung mit den eigenen Biographien wird Teil der Arbeit. Das Projekt ist von vornherein sehr offen und prozessorientiert angelegt, um 'Entwicklung während der Entwicklung' möglich zu machen.“ So sind irritierende Doppelporträts entstanden, ästhetisch vereinte und zugleich entzweite menschliche Porträts.

Künstlerische Arbeiten wie die von Theis und Žmijewski gehen über viele Vorschläge zu einer Resozialisierung der Kunst, wie sie vor allem in den 90er Jahren entwickelt wurden, hinaus. Als Projekte einer genuin ästhetischen Aufklärung schaffen sie spannungsreiche, ungewohnte Einflussbereiche, die für eine kurze Zeit undeterminiert aufrechterhalten werden können.

Praxismodelle: Das Kunsthaus Kannen und das Öflinger Modell

Ein Problem im Bereich Kunst und Inklusion bleibt, dass der Diskurs für die davon 'Betroffenen' letztlich „ein von außen implementierter bleibt“, wie der Kurator und Kunsthistoriker Daniel Baumann in einem Interview mit der Verfasserin zu bedenken gibt.

Ich möchte daher an dieser Stelle zwei Projekte vorstellen, die wie ich finde auf sehr gelungene Weise Praxismodelle entwickelt haben, sich dem Problem der Inklusion im künstlerischen Bereich wegweisend und vor-bildend zu nähern: das Kunsthaus Kannen in Münster und das Öflinger Modellprojekt in Wehr-Öflingen.

Mit dem Kunsthaus Kannen[25] hat man 1983 auf dem Gelände des Alexianer-Krankenhauses, einer psychiatrischen Einrichtung, die aus der katholischen Ordensgemeinschaft der Alexianer hervorgegangen ist, ein Experiment begonnen, das den Befreiungsprozess der Moderne ernst genommen und ihn gewissermaßen noch einmal aufgerollt hat; und zwar nicht wie in den vorgestellten Ausstellungen in einem Prozess der historischen Aufarbeitung, der Re-Lektüre, sondern in einem praktischen Prozess für und mit Menschen, die bei der Bewältigung ihres inneren Erlebens und ihrer körperlichen Verfassung dauerhaft oder auf Zeit besondere Hilfe und Unterstützung brauchen. Die Idee: eine künstlerische Förderung von Langzeitpatienten mit einer besonderen künstlerischen Begabung, ein Angebot ohne therapeutische Vorgaben – Ausgang offen. Gut drei Jahrzehnte, bevor der Gedanke der Inklusion den der Integration abgelöst hat, war dies ein konkreter Schritt der Einbeziehung von bisher Ausgeschlossenen; und es war noch mehr, wie sich heute zeigt.

Es ist so ein Ort entstanden, der Bereiche zusammenführt, die bis dahin und in weiten Teilen bis heute nur getrennt voneinander, ohne Kenntnis des jeweils anderen zu finden sind: feste Atelierplätze für Künstler, ein kunsttherapeutisches Angebot für Patienten, temporäre Workshops für Außenstehende, ein Galeriebereich und ein Museum für Art Brut und Outsider Art mit internationalen Ausstellungen von Künstlern außerhalb und innerhalb des etablierten Systems Kunst. So wurde es zu einem Ort, an dem diese Praxisbereiche für sich zur Geltung und zugleich miteinander ins Spiel kommen. Einflussbereiche entstehen, in denen es zu Erweiterungen der jeweiligen Praxis und spannungsreichen Wechselwirkungen kommt, mithin ein konkreter gesellschaftlicher Dialog stattfindet. Das besondere gesamtkuratorische Konzept erlaubt es, Differenzen sichtbar zu machen, ohne über ihre Unterschiede hinwegzugehen und darin die Idee der Inklusion im künstlerischen Bereich zu erfahren.

1968 initiierte der evangelische Pfarrer Paul Gräb das so genannte Öflinger Modellprojekt.

„Paul Gräb ist der protestantische Nestor der Begegnung von Kunst und Kirche im 20. Jahrhundert, der mit seinem 'Öflinger Modell' in geduldiger und kontinuierlicher Arbeit die Grundlagen dafür gelegt hat, dass beide heute unverkrampfter und selbstverständlicher miteinander ins Gespräch kommen. Mit dem Öflinger Modell ist aber mehr verbunden, als nur der Dialog von Kunst und Kirche, es ist vor allem auch eine Art sozialer Interessensgemeinschaft. Seit 1968 arbeiten Künstler und Gemeinde Hand in Hand für ein Diakoniezentrum, das 1985 eingeweiht werden konnte und 30 Wohnheimplätze für geistig Behinderte und 12 Altenwohnheimplätze hat, und das seitdem von den Künstlern kontinuierlich durch Jahresgaben und Kunstausstellungen unterstützt wird. Damit wird zugleich eine der großen Fragen der Kunst des 20. Jahrhunderts aufgegriffen, nämlich die nach dem alltäglichen Zusammenhang von Kunst und Leben. Letztlich geht es um jenen Beitrag, den die Kunst wie auch die Religion zu dem leisten können, was der Romantiker Novalis das Projekt Menschwerdung genannt hat. Kunst wie Religion sollen nicht mehr nur neben oder am Rand des Lebens stehen, sondern, wie in den ästhetischen und religiösen Avantgarden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, direkt und konkret auf das Leben bezogen sein, sie sollen ihre Sprengkraft im gelebten Leben erweisen. Das können sie je für sich tun, aber sie können es auch gut miteinander tun. Und genau dies macht den eigentümlichen Reiz der Ausstellungen des Öflinger Modells aus.“[26]

Das Kunsthaus Kannen und das Öflinger Modell sind zwei verschiedene Wege, um das Soziale mit dem Ästhetischen ins Gespräch zu bringen, ohne ihren jeweiligen Eigenwert zu unterschlagen, zwei alternative Formen der Annäherung und Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Kunst und Leben. Sie machen eindrucksvoll erfahrbar, dass auf dem Gebiet der Inklusion noch produktive Freiräume entstehen können, auch wenn in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Engagements eher an einer Zähmung des kritischen Potenzials gearbeitet wird.

Anmerkungen


[1]    Eric Karpeles: Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit, Köln 2010.

[2]    Andreas Mertin: Einladung zur Wahrnehmung. Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit, Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik 67/2010 [www.theomag.de/67/am330.htm ]

[3]    Weitere Literatur zu Proust und Vermeer findet sich auf essentialvermeer.com.

[4]    Andreas Mertin: Der reformierte Blick auf die Bilder. Gedanken zu einer theologischen Ästhetik, 2015 www.reformiert-info.de].

[5]    Ingolf U. Dalferth: Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen, Tübingen 2011.

[6]    Willibald Sauerländer: Vom Wagnis, die Kunstbetrachtung aus dem musealen Käfig zu befreien (Vorwort), in: Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte, Bd. 1, Berlin 1988, S. 11-20.

[7]    Die Autoren E. Castelnuovo und C. Ginzburg zitiert nach W. Sauerländer, a.a.O. S. 20.

[8]    Enrico Castelnuovo / Carlo Ginzburg: Zentrum und Peripherie, in: Italienische Kunst. Eine neue Sicht auf ihre Geschichte, Bd. 1, Berlin 1988, S. 21-87.

[9]    W. Sauerländer, a.a.O., S. 15.

[10]   Werner Haftmann: Moderne Kunst und ihre politische Idee, in: Jahresring 4, 1957/58, S. 69- 84.

[11]   Serge Guilbaut: „Wie Amerika die Idee der Modernen Kunst gestohlen hat“. Abstrakter Expressionismus, Freiheit und Kalter Krieg, Dresden 1997.

[12]   Thomas Wagner: Uncle Sam brauchte Jackson Pollock. Serge Guilbaut über die Mobilisierung des Abstrakten Expressionismus, FAZ 02.12.1997 (Nr. 280), S. L21.

[13]   Thomas Bender: Behind the scenes of abstract expressionism, New York Times, 01.01.1984.

[14]   Christoph Menke: Autonomie und Befreiung, In: Thomas Kutschera / Christoph Menke (Hg.): Paradoxien der Autonomie. Freiheit und Gesetz I, Berlin 2011, S. 149-184.

[15]   Christoph Menke: Die Kraft der Kunst, Berlin 2013, S. 150.

[16]   Thomas Wagner, s. Anm. 12.

[17]   „Doing the Things Which are missing“, Salon of Everything, Venedig Biennale 2013 [http://salonevery.com/trailer.php]

[18]   Paolo Bianchi. Gesprächsnotizen, in: Thomas Feuerstein. Outcast of the Universe (hg. von Klaus Thoman, Wien 2006, S. 227-240

[19]   Erich Franz: Gegenbilder, Münster 1993.

[20]   Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt/M. 2008, S. 127-129.

[21]   Helmuth Plesser zitiert nach: Gerhard Gamm: „Abgerissenes Bruchstück eines ganzen Geschlechts.“ Philosophische Anthropologie in der Leere des zukünftigen Menschen, in: Hans-Peter Krüger / Gesa Lindemann (Hg.): Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Bd. 1, Berlin 2006, S. 103-121, hier: S. 106.

[22]   Christoph Menke, a.a.O., S. 167.

[23]   Andreas Mertin: Glucky Bach. Eine Arbeit von Artur Žmijewski, in: Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik, 2007/48 [www.theomag.de/48/am217.htm]

[24]   Cony Theis: Gefangene Geheimnisse, 2011-2015 [ www.gefangene-geheimnisse.cony-theis.de]

[25]   Elisabeth Inckmann: Das Haus Kannen Buch. Bilder aus der Psychiatrie, Münster 1994

[26]   Andreas Mertin: Das Öflinger Modell, Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik, 84/2013 [https://www.theomag.de/84/am440.htm]

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/98/kw71.htm
© Karin Wendt, 2015