Geistliches Schauspiel und die Kunst van Eycks

Paul Weber

1894 erscheint eine Dissertation, die sich die Aufklärung des Zusammenhangs von Geistlichem Schauspiel und kirchlicher Kunst am Beispiel der Ikonographie von „Kirche und Synagoge“ zum Ziel gesetzt hat.


Weber, Paul (1894): Geistliches Schauspiel und kirchliche Kunst in ihrem Verhältnis erläutert an einer Ikonographie der Kirche und Synagoge. Univ., Diss.--Leipzig, 1894. Stuttgart: Greiner & Pfeiffer.


Paul Weber macht darin einsichtig, dass bei der Mehrzahl der mittelalterlichen Bilder, auf denen Juden gezeigt wurden, auf „Vorbilder“ aus Geistlichen Spielen zurückgegriffen wurde. Das ist im Einzelnen überaus plausibel und wird von detailliert gezeigt.

Am Ende seiner Dissertation kommt er auch auf zwei Bilder van Eycks zu sprechen: den Madrider Lebensbrunnen und den Genter Altar. Beide, so meint er, lassen sich in den Kontext der Thematisierung des Verhältnisses von Ekklesia und Synagoga einordnen. Beim Madrider Lebensbrunnen ist das offensichtlich. Beim Genter Altar erst auf den zweiten Blick.

Tatsächlich erscheint mir die von van Eyck dargestellte Gruppe der Juden auf dem zentralen Bildteil der Anbetung des Lammes ambivalent. Die als Prophezeiung auf Jesus dargestellten Propheten sind erkennbar auf das Lamm hin orientiert. Die weitere Gruppe der in mittelalterlicher Manier charakterisierten Juden erscheint aber gespalten.

Ist die Lesart von Weber, hier setze sich das Motiv der herabsetzenden Kontrastierung von Synagoge und Ekklesia fort, nachvollziehbar? Thematisch passt es eigentlich nicht, weil das Werk ja der Sache nach ein Allerheiligenbild darstellen soll. Andererseits werden offenkundig auf der linken Seite Juden und auf der rechten Seite Päpste und kirchliche Würdenträger dargestellt. Und auch der Text von Offenbarung 22 ist in den Beschreibungen ja selbst höchst ambivalent. Ich zitiere einmal die entsprechenden Verse und überlasse das Urteil dem Leser:

01 Und er zeigte mir einen Strom lebendigen Wassers, klar wie Kristall, der ausgeht von dem Thron Gottes und des Lammes.
11 Wer Böses tut, der tue weiterhin Böses, und wer unrein ist, der sei weiterhin unrein; aber wer gerecht ist, der übe weiterhin Gerechtigkeit, und wer heilig ist, der sei weiterhin heilig.
12 Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir, einem jeden zu geben, wie seine Werke sind.
14 Selig sind, die ihre Kleider waschen, dass sie teilhaben an dem Baum des Lebens und zu den Toren hineingehen in die Stadt.
15 Draußen sind die Hunde und die Zauberer und die Unzüchtigen und die Mörder und die Götzendiener und alle, die die Lüge lieben und tun.
17 Und der Geist und die Braut sprechen: Komm! Und wer es hört, der spreche: Komm! Und wen dürstet, der komme; und wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst.

***

„Getreu dem Thema dieser Studie, möchte ich diesen Abschnitt nicht schliessen, ohne noch einmal auf den innigen Zusammenhang zwischen Schauspiel und bildender Kunst auch in der Zeit hinzuweisen, welcher die zuletzt besprochenen Werke angehören. Geistlich kann man das Schauspiel dieser Zeit kaum mehr nennen, nur die Stoffe sind noch geistlicher Art, die Aufführung selbst ist zu rein weltlichem Gepränge geworden. ...

Aber gerade diese farbenprächtigen, lebensvollen Bilder mussten auf die Phantasie der Renaissance-Künstler befruchtend wirken. Dass auch die freiesten künstlerischen Individualitäten unter ihnen sich nicht dem Banne mittelalterlicher Tradition zu entziehen vermochten, wenn es sich um Darstellung sakraler Vorwürfe handelte, das sahen wir an dem Hauptwerke Michelangelos, an der sixtinischen Decke. Die Passionsfolgen eines Dürer, die Holzschnittfolge „vom Sündenfall und der Erlösung des Menschengeschlechts" eines Altdorfer, sie sind sowohl in der Auswahl als in zahllosen Einzelheiten ihrer Scenen getreue Wiederspiegelungen der Schauspiele ihrer Zeit. Da Carl Meyers Studie: „Geistliches Schauspiel und kirchl. Kunst" gerade über diesen Zeitraum zahlreiche Beobachtungen enthält, so darf ich mir hier ein näheres Eingehen versagen. Nur bei zwei Denkmälern möchte ich noch einen Augenblick verweilen, um daran zu zeigen, wie eng sich auch solche Künstler an Vorbilder auf der Bühne anschlössen, die sonst mit allen Kräften bestrebt waren, den Zwang mittelalterlicher Kunstübung abzustreifen. Es ist dies das Tafelbild aus der Werkstatt des Jan van Eyck im Prado zu Madrid „Der Lebensbrunnen oder der Triumph der Kirche über die Synagoge" und der allbekannte Genter Altar der Gebrüder van Eyck.

Springer (Lützow's Zeitschr. IX, 387, No. 3) stellte eine Anzahl von Nachrichten zusammen, die sich bei den Chronisten über die grossen Pantomimen und prachtvollen lebenden Bilder finden, wie sie im späteren Mittelalter bei festlichen Gelegenheiten aufgeführt wurden. Blommart, Geschiedenis der Rhetorykkamer de Fonteine te Gent, berichtet u. a. von einem grossen lebenden Bilde, das die Kammer der Fontäne zu Gent im Jahre 1456 beim Einzüge Philipps des Guten arrangierte: Es war eine dreiteilige Bühne. In der Mitte der obersten Abteilung war Gott Vater zu sehen unter einem Thronhimmel, zwischen der Jungfrau Maria und Johannes d. Täufer; um ihn herum standen singende Engel. Gott Vater sass auf einem Throne von Elfenbein, die Krone auf dem Haupte, das Scepter in der Hand. Im mittleren Geschoss stand ein reich verzierter Altar, auf welchem ein Lamm lag, dessen Brust ein Blutstrahl entquoll, der in einem goldenen Kelche aufgefangen wurde. Goldene Strahlen, die von Gott Vater ausströmten, bildeten den Hintergrund. An beiden Seiten des Altares standen Gruppen von Märtyrern, Propheten etc. Vor dem Gerüste war ein schöner Springbrunnen angebracht, welcher den Brunnen des Lebens vorstellte und drei Ströme Weines ergoss. —

Die Uebereinstimmung mit dem inneren Mittelstück des Genter Altarwerk's ist sofort in die Augen fallend. Aber auch auf das genannte Gemälde des Lebensbrunnens in Madrid passt die Beschreibung fast Wort für Wort, nur dass hier das Lamm zu Füssen Gottes liegt und dass sich die musizierenden Engel im mittleren Stockwerk auf dem Rasen und in den Ecktürmen befinden. Vor dem Gerüste aber steht der schöne Brunnen. Aus ihm ergiesst sich ein Strom von Wein, der seinen Ursprung unter dem Throne Gottes hat, mit Hostien vermengt, in ein Becken. Zu beiden Seiten dieses Beckens aber sehen wir statt der Heiligen des Genter Altares unsere wohlbekannten Gegner, links die Ecclesia, dargestellt durch den Papst mit der Kreuzesfahne, gefolgt von Vertretern des Klerus, und den Kaiser mit seinen Vasallen. Anbetend knieen sie vor dem heiligen Sakramente. Vergebens lädt der Papst mit würdiger Handbewegung die Synagoge auf der andern Seite des Brunnens ein, sich der Quelle des Heiles zu nahen. Trotzig wendet sich ihr Anführer, der alte Oberpriester, ab. Seine Augen sind dicht verbunden, die Fahne bricht über ihm zusammen. Neben ihm kniet ein grosser Jude mit einer hebräischen Schriftrolle. In wilder Verzweiflung stürzen die übrigen Begleiter durch einander. Der eine streckt fluchend beide Hände gegen die Kirche aus, ein anderer hält sich die Ohren zu, um nichts von ihren ermahnenden Worten zu hören, ein dritter zerreisst sich das Gewand, andere stürzen zu Boden oder eilen hinweg. Wunderbar ist in diesem Gemälde die Lehre der Kirche verknüpft mit dem dramatisch bewegten Kampfe, dessen Entwicklung wir an der Hand des Dramas durch die verschiedenen Jahrhunderte verfolgten.

Denn darüber wird wohl kaum noch ein Zweifel möglich sein, dass uns Jan van Eyck in dem Madrider Bilde die getreue Wiedergabe einer scenischen Aufführung bietet, wie sie zu seiner Zeit so beliebt waren. Der ganze Aufbau des Gerüstes mit den Teppichwänden, die Dreiteilung desselben, sie sind nur erklärlich als Kopie einer dreiteiligen Bühne; auch hätte sonst der Künstler sicher den Vorgang in die Landschaft verlegt, wie auf der ganz ähnlichen Darstellung des Genter Altars. Gewiss war jenes lebende Bild, das die Kammer der Fontäne im Jahre 1456 stellte, nichts weiter als eine getreue Wiedergabe des Genter Altarbildes, und wir haben damit einen der interessanten Fälle vor uns, in welchem das Verhältnis zwischen Schauspiel und bildender Kunst ein umgekehrtes ist als bei den betrachteten mittelalterlichen Denkmälern, ... aber dabei ist eben doch im Auge zu behalten, dass die scenische Darstellung von 1456 neben dem gemalten Vorbilde auch recht wohl dramatische Vorläufer haben konnte, wie das Madrider Bild beweist. Auch letzteres spiegelt nur ein lebendes Bild wieder, kein vollständiges Schauspiel, das beweist das Arrangement des oberen und mittleren Bühnenstockwerkes, — wobei unentschieden bleiben soll, ob nicht doch der Papst mit dem jüdischen Oberpriester im unteren Stockwerke ein Streitgespräch abgehalten hat, — aber es ist eben doch ein Stück Schauspiel und nicht etwa blosse Phantasie des Malers. 

Und andererseits geht auch das Genter Altarwerk wenn auch nicht sicher in seinem Mittelbilde so doch unzweifelhaft in der Auswahl seiner Nebenpersonen und Nebenscenen auf das geistliche Schauspiel zurück. Und zwar begann dasselbe mit dem üblichen Prophetenvorspiele, wie die Gestalten der Sibyllen und Propheten in der obersten Abteilung der Aussenflügel zeigen.

Seit dem 12. Jh. traten an der Spitze der Propheten Christi Adam und Eva auf, wie wir in zahlreichen Spielen sahen. Darum sind Adam und Eva so besonders gross an den Innenseiten der Flügel dargestellt. Ihnen schlössen sich in der Regel Abel und Kain und die zugehörigen Scenen aus deren Leben an, — sie fanden ganz oben in den Winkeln über Adam (Opfer) und Eva (Brudermord) ihren Platz.

Nun schliesst sich, wie in so vielen Spielen, gleich die Vorführung des neuen Testamentes an, die Sühne für Adams und Evas Fall, als erster Schritt zur Verwirklichung derselben die Verkündigung an Maria (Mittelbild der Aussenflügel).

Damit ist die Ueberleitung zur Erlösung durch das Lamm selbst gegeben, die wir auf dem figurenreichen Mittelbilde des Innern verherrlicht finden. Was sollen aber die beiden grossen Gestalten Johannes des Täufers und des Evangelisten auf den Aussenflügeln, während doch ersterer nochmals über dem Mittelbilde neben Gott Vater erscheint? Johannes d. T. steht hier als Personifikation des alten Testamentes, das in ihm als dem letzten Vertreter zugleich gipfelt und endigt, — vielleicht war er nebenbei auch als Chorführer der Propheten thätig, — Johannes d. Ev. aber ist der Vertreter des neuen Bundes; zugleich steht er hier als der Dichter der Apokalypse und mithin als der Erklärer für die Anbetung des apokalyptischen Lammes, die als Mittel- und Höhepunkt des Ganzen das Innere ausfüllt.

Das Prophetenspiel setzt sich hier fort: Zur Linken von Altar und Lebensbrunnen knieen die heidnischen und alttestamentlichen Propheten des Sermo, die auf den Aussenflügeln keinen Platz mehr fanden, und verkünden laut aus ihren Folianten ihre Weissagungen auf die Erlösung, die durch die ihnen gegenüber knieenden Apostel bestätigt werden. Aber umsonst lässt die Kirche, dargestellt durch eine Schaar von Päpsten rechts neben den Aposteln, Weissagung und Bestätigung sich folgen, die Synagoge, vertreten durch eine grosse Schaar von Juden mit langen Barten und Judenhüten, an ihrer Spitze ein grosser finsterer Jude, kehrt sich verstockt ab. Nicht ungestraft kann dieser Unglauben bleiben, darum erscheint drohend über allem das furchtbare Ende, das Weltgericht, angedeutet durch den höchsten Richter und die bei diesem Vorgange nie zu seinen Seiten fehlenden Gestalten Marias und Johannes des Täufers. Noch ist das Gericht nicht da, noch musizieren die Engel lieblich zu beiden Seiten des Thrones, aber bald werden sich die Orgeltöne in die erschütternden Posaunenklänge des Gerichtes verwandeln und das Drama der Heilsgeschichte, das sich hier in seinen Hauptscenen vor uns aufgerollt hat, und damit zugleich den Streit zwischen dem alten und neuen Bunde, zwischen Ecclesia und Synagoge, mit ergreifender Tragik beschliessen.“

Vergleich der Darstellung der Juden
auf dem Genter Altar (links) und dem Madrider Lebensbrunnen (rechts)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/97/pw1.htm
© Paul Weber, 2015