„Der Composition fehlt es an Ordnung und Klarheit“

Georg Forster

Georg Forster (1754-1794) ist Forscher, Ethnologe, Reiseschriftsteller und Revolutionär in einer Person. Im Frühjahr 1790 unternahm er gemeinsam mit dem jungen Alexander von Humboldt eine ausgedehnte Reise, die ihn ins Rheinland, in die Österreichischen Niederlande sowie nach Holland, England und Paris führte. Über diese Reise und die auf ihr gewonnenen Eindrücke gibt er in dem zwischen 1791 und 1794 erschienenen dreibändigen Werk „Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Juni 1790“ wieder. Das Buch enthält auch zahlreiche kunsthistorische Beurteilungen, die man in die Kategorie der frühen romantischen Kunstkritik einordnen könnte. Sein Urteil über den Genter Altar ist hart und in einem gewissen Sinne vernichtend: „Der Composition fehlt es ... sowohl an Ordnung und Klarheit, als an Wirkung und Größe. Bei aller Verschwendung des Fleißes bleibt die Zeichnung steif und inkorrekt; Perspektive und Haltung fehlen ganz und gar; die Farben sind grell und bunt und ohne Schatten.“ Forster gibt dabei sein subjektives Urteil wieder, er ist noch keine Partei in dem Streit um ideale oder religiöse Kunst, der sich zu Beginn des folgenden Jahrhunderts implizit und explizit zwischen Schlegel, Goethe und Hegel entzünden wird. Man könnte daher ganz modern feststellen: der Genter Altar sagt ihm nichts. Damit die Leserinnen und Leser einen Eindruck von der Art und Weise Schreibens von Georg Forster bekommen, haben wir einen längeren Abschnitt über seinen Besuch in der Stadt Gent ausgewählt, nur die politischen Anmerkungen des Revolutionärs und die Notizen des Frauenverehrers weggelassen und – wo möglich - Abbildungen der erwähnten Kunstwerke ergänzt.

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Stadtpanorama Gent: Links die St. Bavo-Kathedrale, dann der Belfort, rechts Sint-Niklaaskerk, Postkantor

„Gent ist eine große, schöne, alte Stadt. Ihre Straßen sind ziemlich breit; die Häuser massiv, zum Theil von guter Bauart; die Kirchen zahlreich und mit großer Pracht geschmückt. Alles scheint hier den ehemaligen Wohlstand der Einwohner, und Spuren von dem jetzigen zu verrathen; doch ist die Volksmenge, wie in allen Niederländischen Städten, nach Verhältniß des Umfanges zu gering und es fehlt überall an Betrieb. Der erste Anblick einer Stadt, wobei man so lebendig in verflossene Jahrhunderte und ihre Begebenheiten versetzt wird, hat gleichwohl etwas Einnehmendes, das zuweilen bis zur Erschütterung gehen kann. Ich wurde recht lebhaft an den Stolz Karls des Fünften auf sein blühendes Gent, und zugleich an die Tyrannenleidenschaft erinnert, womit er selbst dem Wohlstande desselben den tödtlichsten Streich versetzte, als ich sein Standbild auf einer hohen Säule am Marktplatz erblickte. [Anm.: Die Skulptur wurde im 19. Jahrhundert entfernt.] Als Kunstwerk betrachtet, macht es keinen vortheilhaften Eindruck. Der Kaiser steht wirklich sehr unsicher auf dieser gefährlichen Höhe; das Zepter und der Reichsapfel von ungeheurer Größe scheinen ihn völlig aus dem Gleichgewichte zu bringen; seine Kniee sind gebogen, und bald möchte ich fürchten, er sei in Begriff herabzugleiten. Im Glanz der Abendsonne, welche diesen vergoldeten Koloß bestralte, konnte ich mich einer Reminiscenz aus Blumauers travestirter Äneis nicht erwehren; ich dachte an jenes Backwerk wo der fromme Held zuoberst »ganz von Butter« stand. Es hat schon etwas Unnatürliches, Statuen auf den Dächern unserer Häuser anzubringen, die nicht, wie im Orient, zum Aufenthalt der Menschen eingerichtet sind; allein noch ungleich widersinniger scheint es, einen Menschen auf den Gipfel einer Säule zu stellen, den nur ein Verrückter oder ein Phantast, wie Simeon Stylites, bewohnen kann. Wenn gleich die Alten uns das Beispiel solcher Denkmäler gegeben haben, so bin ich doch nicht der Meinung, daß wir ihrem Muster jederzeit blindlings folgen sollen. ... Die Aufmerksamkeit, die ein großer Mann bloß durch die Höhe seines Standorts erregen kann, ist sicherlich seiner nicht werth. Allerdings giebt es aber auch Fürsten in Menge, die man nicht hoch genug stellen kann, damit sich nur jemand ihrer erinnere. Die Nachwelt vergißt die Wohlthaten, sie vergißt aber auch die Ungerechtigkeit der Regenten; wie wäre es sonst möglich, daß Kaiser Karl auf dieser Säule noch über den Köpfen einer so tief beleidigten Gesammtheit sicher steht? Für den philosophischen Geschichtsforscher verwandeln sich freilich unter solchen Umständen die Ehrensäulen in Denkmälder der Schande. ...

Die Beschreibung der öffentlichen Gebäude und Kirchen, die man aus so vielen Reisebeschreibungen kennt, wirst Du mir gern erlassen; ich schweige also von dem ungeheuren Rathhause, von den dreihundert Brücken, die alle Theile dieser von Kanälen durchschnittenen Stadt verbinden, und selbst von der großen Gothischen Masse der Kathedralkirche zu St. Bavo, mit den daran geklebten Stücken von Griechischer Architektur, die den Eindruck ihrer Größe stören. Die Verschwendung von weißem und von schwarzem Marmor in dem Innern dieses Tempels würde mir indeß aufgefallen seyn, wenn mich nicht auf eine weit angenehmere Art die Kunst beschäftigt hätte. Die zahlreichen Kapellen enthalten einen Schatz von Flämischen Gemälden der ersten Klasse, von denen ich Dir wenigstens ein Paar bekannt machen muß, die für mich etwas Merkwürdiges hatten.

Zuerst nenne ich die Auferstehung Lazari, ein Meisterwerk von Otto Venius [= Otto van Veen], einem Lehrer des gepriesenen Rubens. Dieses in Absicht auf die Composition sehr fehlerhafte Stück, dessen Umrisse zum Theil verzehrt, dessen Schatten schon ein wenig schwarz geworden und dessen Farben trocken sind, hat dennoch einzelne schöne Partien. Die Hauptfigur, der in der Mitte stehende Christus, ist wie gewöhnlich verfehlt; er ist kalt, jüdisch und uninteressant; seine Draperie ist schwer und ungeschickt geworfen, seine aufgehobene Hand ruft nicht, winkt nicht, segnet nicht. Lazarus liegt halb im Schatten, wirklich schön von Angesicht und Gestalt; er blickt edel und seelenvoll zu seinem Retter auf und ist ungleich besser als alles übrige kolorirt. Seine Schwester Maria sitzt an seiner Gruft im Vordergrunde. Ihr Gesicht und die ganze Figur machen mit dem übrigen Bilde den merkwürdigsten Kontrast; denn ihre Züge, ihre Kleidung und das ganze Kostume sind gänzlich aus der Römischen Schule entlehnt. Man glaubt eine Madonna von Raphael kopirt zu sehen, so ruhig und doch so edel gerührt ist dieser schöne Kopf. Martha und Magdalena sind dagegen hübsche Flammänderinnen im kurzen buntseidenen Korsett. Petrus bückt sich, um dem Lazarus heraus zu helfen; sein blaues Gewand über dem breiten Rücken thut vortrefliche Wirkung. Die übrige Gruppe von Köpfen ist gar zu gedrängt voll und geht zu hoch in dem Bilde hinauf; auch fehlt es ihr an Auswahl.

Du erinnerst Dich des schönen Sebastian von van Dyk in Düsseldorf. Hier ist einer von Hondhorst, der viel Verdienst hat. Aus dem schönen Körper zieht eine schwarz gekleidete weibliche Figur die Pfeile aus. Sehr leicht ruht ihre Hand auf dem zarten, verwundeten Körper; aber ihr Gesicht ist ohne Ausdruck, und mit eben den Zügen würde sie Spitzen waschen. Die Alte, ebenfalls ein gemeines Gesicht, empfiehlt Behutsamkeit mit Blick, Stellung und Hand. Das leidende Gesicht Sebastians ist edel und voll unbeschreiblicher Milde; seine Auge ist schön, sanft redend und voll Vertrauen. Die Farbengebung ist zwar nicht ganz natürlich, aber weich und von einem harmonischen, modesten Ton. Doch die Stellung des angebundenen, aus einander gedehnten Körpers zieht zuerst den Blick des Zuschauers auf sich, und man muß in der That unparteiisch das Verdienst hervorsuchen wollen, wenn dieser erste Eindruck nicht wegscheuchen und alle nähere Untersuchung verhindern soll. Daß die Künstler es nicht fühlen, wie diese Marter den Zuschauer leiden läßt, und wie unmöglich es ist, mit einigem Gefühl ein solches Kunstwerk lieb zu gewinnen! Übrigens hat es mir wohl gethan, hier das Studium Italienischer Meister und Hondhorsts langen Aufenthalt in Italien zu erkennen; wo ich nicht irre, habe ich schon etwas von Michel Angelo gesehen, woran mich die frei und fest gezeichnete Figur dieses Sebastians erinnerte.

Der St. Bavo von Rubens hat mir ungleich weniger gefallen; das Stück ist in zwei Gruppen über einander getheilt, wovon die unterste aus vielen ziemlich ekelhaft durch einander gewundenen Figuren besteht. Links im Vordergrunde stehen ein Paar plumpe Dirnen von Fleisch und Blut.

Auch der Zeitgenosse von Rubens, der um den Ruhm eines großen Künstlers mit ihm wetteifernde Crayer, leistete mir hier kein Genüge. Die Kreuzigung, die man von ihm in der Bischofskapelle bewundert, ist schön kolorirt; aber der Körper ist verzeichnet. Sein Hiob ist interessanter: er blickt auf voll Vertrauen, das sogar an Extase und Freude gränzt; dagegen hört er auch nicht, was sein Weib, eine sehr gemeine Hexe, ihm sagt. Von den drei Freunden sitzen zwei mit niedergebücktem Haupte, und träumen, indeß der dritte mit den Fingern spricht. Noch ein gepriesenes Gemälde dieses Meisters ist hier die Enthauptung des Täufers Johannes; aber welch ein Anblick! Eine zerrissene, unzusammenhangende Composition, verwischte Farben, ein scheußlicher Rumpf und ein Bologneser Hündchen, welches Blut leckt! Solch ein Gegenstand und solch eine Phantasie schicken sich für einander, und um alles zu vollenden, gehört nur noch der Zuschauer dazu, der mit uns zugleich vor dem Bilde stand und voll Entzücken ausrief: ah quelle superbe effusion de sang!


Unter einer großen Anzahl von Gemälden, wovon die besten von Seghers, van Cleef, Roose und Porbus gemalt sind, keines aber hervorstechende Vorzüge besitzt, halte ich ein uraltes Stück von den Gebrüdern van Eyk noch für nennenswerth, weil es vielleicht das erste war, das in den Niederlanden mit Ölfarben gemalt wurde.

Der Gegenstand ist aus der Offenbarung Johannis entlehnt: die Anbetung des Lammes. Der Composition fehlt es, wie man es sich von jener Zeit vorstellen kann, sowohl an Ordnung und Klarheit, als an Wirkung und Größe. Bei aller Verschwendung des Fleißes bleibt die Zeichnung steif und inkorrekt; Perspektive und Haltung fehlen ganz und gar; die Farben sind grell und bunt und ohne Schatten. So malte man aber auch in Italien vor Perugino's Zeiten, und was uns dieses Gemälde merkwürdig macht, ist daher nicht der Geist, womit es ersonnen und ausgeführt worden ist, sondern die wichtige Erfindung der Ölmalerei, die damals in den Niederlanden zuerst an die Stelle des so lange üblich gewesenen al Fresco trat, wenn sie auch in Deutschland bereits weit länger bekannt gewesen seyn mag. Ich bin zwar weit entfernt, den Koloristen einen Vorzug vor den richtigen Zeichnern einräumen zu wollen; allein ich halte es wenigstens im Angesicht der Meisterwerke des Flämischen Pinsels für ein gar zu hartes Urtheil, die Erfindung, worauf der ganze Ruhm dieser Schule beruht, mit Lessing um des Mißbrauchs willen, der damit getrieben worden ist, lieber ganz aus der Welt hinweg zu wünschen. Der Vorwurf einer üblen Anwendung, selbst einer solchen, welche völlig zweckwidrig ist, trift wohl mehr oder weniger eine jede menschliche Erfindung; und wenn es nicht geläugnet werden kann, daß die Erlernung der beim Ölmalen erforderlichen Kunstgriffe manchen wackern Künstler mitten in seiner Laufbahn aufgehalten und in die Klasse der Mittelmäßigkeit geworfen oder gar vom rechten Ziel der Kunst entfernt hat, so bleibt es doch auch unbestritten, daß mit Ölfarben manches unnachahmliche Bild auf die Leinwand hingezaubert worden ist, dessen Schönheiten bei jeder andern Behandlung verloren gegangen wären. Am Kolorit, als solchem, ist freilich so viel nicht gelegen; aber durch die Verschmelzung der Farbenschattirungen, welche nur ihre Vermischung mit Öl möglich machte, sind feine Nüancen des Ausdrucks erreicht worden, wodurch die Kunst selbst an Würde gewonnen hat und für den Psychologen lehrreich geworden ist.

Der Wunsch, in den übrigen Kirchen, Klöstern, Prälaturen, auf dem Rathhause und in den Privatsammlungen zu Gent den Denkmälern der Flämischen Kunstepoche nachzuspüren, mußte für itzt der Nothwendigkeit unseres Reiseplans weichen.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/97/gefo1.htm
© Georg Forster, 2015