„... in aller Hinsicht und durchaus vollendet“

Carl Gustav Carus

Carl Gustav Carus (1789-1869), Universalgelehrter, Arzt, Maler und Naturphilosoph, Freund von Goethe und Caspar David Friedrich, schildert in seinem Tagebuch den Besuch bei der von dem Kunstsammler Solly für den preußischen König erworbenen Gemäldesammlung, die später einen Grundstock für die Berliner Gemäldegalerie bilden sollte. Dort stößt er auch auf die Tafeln des Genter Altars, die zur Sollyschen Sammlung gehörten.



[25. August 1825]

Gestern zur Sollyschen Gemäldesammlung. Zwar ist hier alles noch unaufgestellt, und mehrere Maler sind mit Restaurationen beschäftigt, so daß in der Regel Fremde nicht zugelassen werden, doch unserm getreuen Führer öffneten seine Verbindungen den Eintritt. Für die alte Kunstgeschichte wird diese Sammlung unfehlbar von der größten Wichtigkeit werden, da man über 300 Bilder aus der Zeit vor Raffael zählt und unter diesen treffliche Sachen. Wenig nur von dem, was mich besonders erfreute, kann ich hier bemerken. Ein wohlerhaltenes großes Bild vom Vater des Raffael erinnerte mich zuerst an jenes Bild auf der Brera. Die einfache reinliche Zeichnung, die empfundene Zusammenfügung der Gruppe (es stellt eine heilige Familie dar) waren überall zu loben. Dann ein Porträt einer schönen feurigen Frau aus dem Hause der Cosmus, von Bronzino, von höchst eindringlicher Wirkung. Ebenso von Fra Filippo die Vision eines heiligen Eremiten. In waldiger Bergeseinsamkeit, wo unter dicken Bäumen ein Waldbach herniederrauscht, erscheint Maria mit dem vor ihr liegenden Jesusknaben, auf dem ein Strahl vom Himmel niedersinkt. –

Von Tizian das Brustbild einer herrlichen Magdalena und von Palma Vecchio eine Maria mit dem Kinde und einigen Heiligen, von wunderbarer Zartheit der Formen. ...

Dann sah ich höchst merkwürdige Bilder von Fiesole, Orgagna und andern; meistens a tempera gemalt.

Die Krone dieser Sammlung aber in Hinsicht allseitiger Kunstvollendung ist ein Christuskopf mit der Dornenkrone von Albrecht Dürer und ein Porträt der Anna Bolein von Holbein.

Merkwürdig ist ferner ein Bild von Quinten Massys (eine Jungfrau mit dem Kinde, mit ganz unerwarteter Frischheit und Anmut gemalt); endlich aber und vor allem die großen Altarbilder von Johann von Eyck.


 

Nicht alle zum Altar gehörige Bilder sind hier, aber die sechs vorhandenen sind gerade hinreichend, um die hohe Kunststufe, welche die Malerei am Niederrhein ein halbes Jahrhundert vor Fiesole erreichte, vollkommen zu beurkunden. Zumal ein Zug von Rittern und ein Zug einsiedlerischer heiliger Männer und Jungfrauen sind in aller Hinsicht und durchaus vollendet. Dieses Tüchtige einer jeden Individualität, diese Schönheit der Zeichnung, diese Frische der Farben, diese höchste Ausführung selbst der Landschaft, ohne alle Peinlichkeit und Ziererei, lassen den Beschauer nirgends los. Aus den Beiwerken (Palmen- und Orangenwäldern und Zypressen, mit großer Treue nach der Natur gemalt) will man schließen, der Künstler müsse Italien gesehen haben, doch läßt sich das alles wohl auch ohne dies erklären.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/97/cgc1.htm
© Carl Gustav Carus, 2015