Vernunft und Bildung

Von hippen Zügen, Gender und ungebildeten evangelischen Geistlichen

Andreas Mertin

Wer sich von der fortschreitenden Verdummung des westlichen Christentums einen Eindruck verschaffen will, kann dies relativ leicht tun: für den katholische Bereich reicht ein Blick auf die Blockwartseite kath.net, für den evangelischen Bereich ein Blick auf idea.de. Und weil sich Gleich und Gleich gerne gesellt, finden sich die entsprechenden idea-Texte immer auch bei kath.net abgedruckt. Man liest’s und reibt sich die Augen, wie so viel Verdrehtheit und bösartiger Dummheit heute noch im Christentum präsent sein kann. Wenn das Christentum, wie gerne vertreten wird, einen Beitrag zur Bildung und Entwicklung der Menschheit leistet, dann spürt man auf diesen Plattformen jedenfalls nichts davon.

Jüngst publizierte kath.net einen idea-Text, in dem eine lutherische Pfarrerin sich über Genderfragen echauffierte. Das passt der katholischen Seite gut ins Konzept, weil man dort ja gerne über Gender-Gaga lästert, insbesondere, da man aber auch überhaupt nichts davon versteht. Unter der netten Redaktionsüberschrift „In der Bibel steht es ganz klar“ (da fragt man sich gleich, welche Bibel und welche biblische Schrift wohl gemeint ist) setzt die Autorin ein mit der Diskussion um die „Hart aber fair“-Sendung zum Thema Gender. Bekanntermaßen war diese zur besten Sendezeit für Millionen Menschen ausgestrahlt worden und dann in der Mediathek des WDR archiviert worden. Aufgrund der Proteste zahlreicher Frauenverbände gegen den Stil und den Inhalt dieser Sendung wurde sie dann nach Monaten des öffentlichen Zugangs aus dem Archiv genommen. Die Autorin insinuiert nun, dass so etwas Zensur sei. Nun wäre es Aufgabe einer evangelischen Pfarrerin, hier Aufklärungsarbeit zu leisten und darauf hinzuweisen, dass es sich keinesfalls um Zensur gehandelt habe. Ich weiß nicht, was dazu ‚ganz klar‘ in der Bibel steht, im Lexikon steht aber ganz klar, dass unter Zensur die Verhinderung der Verbreitung unerwünschter Informationen durch staatliche Stellen verstanden wird. Eine nachträgliche Löschung einer bereits öffentlich ausgestrahlten Fernsehsendung gehört nicht dazu.

Also, ein wirklich ungeschickter Einstieg in ein Thema, denn staatliche Zensur war nie im Spiel. Die Autorin leitet über zu einer (fiktiven?) Szene auf einer Party, bei der sie um Auskunft zu „Gender“ gebeten wird. Und da hätte sie besser geschwiegen, denn alles Weitere zeigt nur, dass sie sich noch nie damit beschäftigt hat, alternativ: vom Gelesenen nichts verstanden hat und zudem über grundlegende Kenntnisse auch des Funktionierens von Religion offenkundig nicht Bescheid weiß. Zunächst sagt sie noch ganz sachlich, dass man zwischen Gender als sozialem und Sex als biologischem Geschlecht unterscheide. Den dann folgenden Satz habe ich gelesen und konnte ihn kaum fassen. Er lautet: „Die amerikanische Gender-Frontfrau Judith Butler behauptet jedoch: Die Biologie spielt gar keine Rolle, das Geschlecht wird nur sozial konstruiert.“ Ich wusste gar nicht, dass Judith Butler Sängerin in einer Rockband ist. Als Frontfrau bezeichnen wir in der deutschen Sprache immer noch ein weibliches Mitglied einer Band, das bei öffentlichen Auftritten eine herausragende Position einnimmt und meist mit der Leadsängerin identisch ist. Selbst wenn man unterstellt, die Autorin habe die Genderbewegung als eine derartige popkulturelle Erscheinung qualifizieren wollen, deren Hauptvertreterin Judith Butler ist, dann kann man über den sachlichen Gehalt dieser These nur den Kopf schütteln. Den Judith Butler untergeschobenen Satz „Die Biologie spielt gar keine Rolle, das Geschlecht wird nur sozial konstruiert“ würde ich dagegen gerne mal nachgewiesen sehen (sozusagen: sola scriptura). Ich habe ihn nicht bei ihr gefunden. Er macht auch gar keinen Sinn, denn Judith Butler ist Philosophin und Literaturwissenschaftlerin, spricht also über sprachliche Prozesse und Sinnkonstruktionen und nicht über Gene. Folgt man ihrer kleinen anekdotischen Erzählung, dann hat auf ihre Erklärung ein Mediziner geantwortet, er habe gerade einen Vortrag gehalten, in dem die biologische Differenz von Mann und Frau eine konstitutive Rolle gespielt habe. Und was einen an dieser Stelle fassungslos macht, ist, dass die lutherische Pfarrerin diesen Satz einfach unkommentiert stehen lässt, als ob er eine Erkenntnis enthalte. Das tut er ganz und gar nicht! Er stellt fest, dass bestimmte biologische Funktionen sich bei Männern und Frauen unterscheiden lassen. Er sagt nichts, aber auch gar nichts darüber aus, wie diese Menschen sich definieren, sich fühlen und in welchen Rollen sie sich erfahren. M.a.W. er sagt nichts über sprachliche Sinnkonstitutionen unserer Welt aus.

Eine der zentralen Grundlagen jeder Religion dieser Welt besteht darin, zwischen dem, was bloß der Fall ist und dem, wie man in kulturellen Sinngebungsprozessen damit umgeht, zu unterscheiden. Das lernt jede Pfarrerin, jeder Pfarrer in der theologischen Grundausbildung, sonst kann er sein Handwerk gar nicht ausüben.

Ich will das an einem nicht religiösen Beispiel verdeutlichen. Ein Junge, der einen Raum betritt und seine Schultasche auf einen Stuhl wirft und sagt: „Das ist mein Stuhl“, verändert die Wirklichkeit. Würde man einen Physiker befragen, würde er sagen, dass sich kein Atom des Stuhles geändert habe. Seine Aussage wäre wahr und doch sinn(!)los zugleich. Der performative Akt, der von dem Jungen vollzogen wird, lässt sich eben naturwissenschaftlich nicht einholen, denn die Naturwissenschaft trifft keine Aussagen über kulturelle Verständigungsprozesse.


Aber Luther hat doch gar nicht an Jesu Abendmahl teilgenommen?

Wenn nun die Pfarrerin am Sonntag einen Abendmahlsgottesdienst vollzieht, wird sie jedes Mal einen ähnlichen performativen Sprechakt vollziehen, denn sie wird ihrer Gemeinde zusagen: Eure Sünden sind Euch vergeben. Und glauben sie mir: Der Mediziner wird dabei keine biologischen Veränderungen an den Menschen feststellen (nicht einmal das vorherige Sünder-Sein kann er biologisch feststellen). Alles hängt aber davon ab, ob man an die Macht sprach-performativer Veränderungen glaubt. Eine Pfarrerin, die das in Abrede stellt, sollte ihren Beruf aufgeben. Damit will ich keinesfalls behaupten, man müsse an Gender glauben, sondern nur, dass Religion und die Zuschreibung von Geschlechtern auf ähnlichen Sprachprozessen beruht.

Im nächsten Abschnitt behauptet unsere Pfarrerin, der Sinn von Gender läge darin, „sich vom Zwang des Geschlechts zu befreien und selbst zu bestimmen, ob man Mann, Frau oder ein anderes Geschlecht sein möchte.“ Dieser Satz unterstellt vorab bereits das Geschlecht als nicht nur biologische, sondern auch kulturelle Gegebenheit (und nicht als mögliche kulturelle Konstruktion), er setzt das Ergebnis des zu Diskutierenden also im Voraus fest. So funktioniert das nicht.

An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zu dem, was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler so treiben: Sie entwickeln Modelle. Sie stoßen auf unsere Welt und schlagen dann ein Modell vor, wie diese Welt je nach Fachrichtung in biologischer, religiöser, philosophischer, ästhetischer oder physikalischer Hinsicht zu erklären sei. Und dann kommt ein anderer Wissenschaftler, eine andere Wissenschaftlerin und sagt: ich habe ein anderes Modell, mit dem man einige bisher ungeklärte Phänomene besser erklären kann. Und es wird jeweils das Modell verwendet und weitergeführt, welches möglichst viele Phänomene befriedigend erklären kann.

In der Geschlechterfrage hat die – nicht zuletzt durch das Christentum beeinflusste – Tradition lange Zeit auf ein binäres Modell (Mann / Frau) gesetzt. Das hat dazu geführt, dass Menschen, die diesem binären Modell in ihrem Verhalten nicht entsprachen, verfolgt, unterdrückt oder sogar getötet wurden.

Es gab auch andere Vorschläge eines nicht bloß binären Modells, etwa im Gastmahl des Platon, in dem eine von Aristophanes erzählte Episode davon handelt, das ursprünglich die Menschen von den Göttern radförmig gestaltet gewesen seien, aber in der Art, dass jeweils zwei Frauen oder zwei Männer oder ein Mann und eine Frau zu einem Rad zusammengeschlossen gewesen seien. Da diese Wesen den Göttern aber zu agil waren, seien die Räder halbiert worden. In der Folge fühlten sich einige Frauen weiterhin zu Frauen, einige Männer weiterhin zu Männern und einige Frauen zu Männern und einige Männer zu Frauen hingezogen. Dieses Modell versucht mit dem Phänomen umzugehen, dass auch zu Platons Zeiten das binäre Mann-Frau-Modell eben nicht die Wirklichkeit und die Vielfalt menschlicher Beziehungen abbildete.

Eine Spur dieses Modells finden wir übrigens auch in der Bibel. Auch wenn die Traditionalisten unter den Theologen immer gerne behaupten, in der Bibel stehe angeblich ‚ganz klar‘, dass Gott den Menschen als Mann und Frau erschaffen habe, ist das dennoch nicht zutreffend. Zumindest nach einem der vielen Schöpfungsberichte der Bibel schafft Gott zunächst den Menschen, bevor er dann aus ihm eine Frau macht und den Rest zum Mann erklärt. Tertium datur!

Judith Butler macht nun in der Debatte um Geschlechterfragen nichts anderes als für die weitere Diskussion ein neues Modell vorzuschlagen und in der akademischen Debatte prüfen zu lassen, ob es mit der Vielfalt menschlicher Existenzen nicht besser zurechtkommt, als das bloß binäre Modell. Tatsächlich, das zeigt die Debatte der letzten Jahre, kann Butler wesentlich mehr von der menschlichen Wirklichkeit erläutern, als das Modell, das biologistisch Geschlecht binär codiert. Genau das begründet den Erfolg ihres Ansatzes. Wer die Geschlechterfrage auf den Sex reduziert, versteht eben die Wirklichkeit nur unzureichend. Gender ist eine umfassendere Form, menschliche Geschlechterfragen zu verstehen. Die Reduktion auf die Kategorien männlich – weiblich, das zeigt ein Blick in Geschichte wie Gegenwart, erzeugt Gewalt und ist selbst ein Akt der Gewalt.

Die kleine Anekdotenerzählung unserer lutherischen Pfarrerin geht aber noch weiter. Sie verweist darauf, „dass die EKD mit ihrem Genderzentrum in Hannover auf den hippen Zug aufgesprungen ist.“ Nun kann man sich lange fragen, was eigentlich ein „hipper Zug“ sein soll. Rhetorisch handelt es sich um einen Pleonasmus, denn wer in unserer Sprache „auf einen Zug aufspringt“, macht dies ja gerade, weil es der angesagte ist. Jedes andere Verhalten wäre übrigens auch dumm – wie jeder weiß, der schnell noch in den Zug will, der einen ans Ziel bringt. Ich vermute einmal, unserer Pfarrerin meint, die EKD habe auf den Zug der Hippen aufspringen wollen, also auf einen in den Augen der Erzählerin gerade nicht zielführenden Zug. Ob die Hippen wirklich immer in die Irre führen – darüber kann man lange diskutieren. Ein guter Teil unserer Kultur funktioniert nur über Trendsetter.

In der Sache ist es aber eine geradezu bösartige Beschreibung des zugrundeliegenden Vorgangs, ja eine Verzerrung der Umstände, die man schon eine Lüge nennen muss. Es wirkt ja so, als ob alle Welt über Genderfragen diskutiere und die EKD jetzt, nachdem der Zug Richtung Gender schon beinahe abgefahren ist, eben schnell noch aufspringen wolle. Nichts ist der Wahrheit ferner. Eher könnte man sagen, dass die EKD diesen Zug sehr früh gebucht hat. Seit fast einem Vierteljahrhundert gehören die Genderfragen zu den elementaren Diskussionen der Evangelischen Kirche in Deutschland und zuvor vor allem der Evangelischen Kirchentage. 1987 fordert eine Gruppe von Frauen in der EKD ein derartiges Zentrum, 1991 stimmt die Synode der EKD zu, 1993 nehmen die ersten Mitarbeiterinnen die Arbeit auf, 1994 wird das Studienhaus in Gelnhausen eröffnet! Es gibt niemanden in der EKD, der professionell Theologie vermittelt, der das nicht verfolgt hat. Angesichts dieser Zeiträume verbietet sich die Rede davon, die EKD habe nur einem bereits abfahrenden bzw. einem abgefahrenen Zug hinterherlaufen wollen. (Die feministische Theologie, die die Vorform der Genderdebatten ist, datiert in die 60-Jahre des 20. Jahrhunderts.) Nein, Gender wurde der Evangelischen Kirche nicht aufgepfropft, sondern kommt aus dem Herzen des Protestantismus – weil dieser nicht zuletzt eine theologische Theorie der Gerechtigkeit zwischenmenschlicher Beziehungen (geworden) ist. Nur weil das Zentrum von Gelnhausen nach Hofgeismar und aktuell nun nach Hannover umgezogen ist, wurde es nicht jedes Mal neu erfunden.

Abschließend verweist die Autorin auf die Klarheit der biblischen Schrift, die doch letzte Fragen beseitige. Da sollte sie dann doch lieber Mal mit den katholischen Bischöfen reden, die das Gleiche im Blick auf das evangelische Pfarramt für Frauen vertreten. Nach ihnen ist doch aus der Heiligen Schrift ‚ganz klar‘ erkennbar, dass Gott keine Pfarrerinnen gewollt hat. Es ist schon irgendwie lustig und ironisch, wenn diejenigen, die von den feministischen Aufbrüchen des frühen 20. Jahrhunderts profitieren, weil diese die Öffnung der Pfarrämter für Frauen erwirkt haben, sich nun gegen die weiteren Konsequenzen aus dieser Theorie sträuben. Gendertheorie also nur soweit, als es mir Beruf und Auskommen sichert, alles weitere werden wir dann schon zu verhindern wissen. Das, was die Autorin den GenderprofessorInnen an den Universitäten implizit unterstellt, trifft zu allererst auf sie selber zu.

Alle anderen aber sollten begreifen, dass wir uns die Welt durch Modelle erschließen, die nicht die Wirklichkeit abbilden (können), sondern das, was wir erfahren, auf Best mögliche Weise zu interpretieren versuchen. Religion ist in seinen unterschiedlichen Ausprägungen ein derartiges Modell, das sich nicht mit der Wiederholung des Gegebenen zufrieden geben will, und von Generation zu Generation eine Deutungsmöglichkeit dieser Welt tradiert und immer wieder erweitert und aktualisiert. Es ist ein Modell, das sich an vorgegebenen Schriften abarbeitet. Von Geschlecht zu Geschlecht sagen dann immer wieder Menschen: lasst uns dieses Modell unter Berücksichtigung der Schrift und der Gegebenheiten doch einmal anders akzentuieren. Gendertheorie ist nichts anderes als ein solcher Vorschlag. Was und wie viel er uns bringen wird werden wir in Zukunft sehen. Mir graut aber vor einer Welt, die uns auf das reduzieren möchte, was der Fall ist. Das hieße: Keine Religion, keine Kunst, keine Kultur. Welch ein Schrecken, welche Barbarei. Aber dieses Entsetzen ist und bleibt vermutlich ein kulturelles Entsetzen, ein Biologe muss es nicht teilen.


Leonardos Abendmahl – Johannes, ein Modell zur Ambivalenz der Geschlechterfrage?

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/97/am516.htm
© Andreas Mertin, 2015