Müssen wir alle sterben?

Kindertheologie eines Vaters und bissige Pastorinnenkritik

Hans-Jürgen Benedict

Kleeberg, Michael (2015): Vaterjahre. Roman. 3. Aufl. München: Dt. Verl.-Anst.

Was ist ein guter Vater? Der Roman Vaterjahre beginnt mit einer ungewöhnlichen Liebesszene – im Ehebett betrachtet ein Vater seine schlafende kleine Tochter und preist ihre Schönheit mit einer erotischen Begeisterung, die seine Frau eifersüchtig machen könnte. Das Kind als Schöpfungsgedicht. Die Geschichte handelt von Karlmann Renn, Charly genannt, Volkswirt, aus guter Hamburger Familie, in zweiter Ehe verheiratet mit der Ärztin Heike, zweifacher Vater. Er hat einen neuen Job gefunden, bewohnt mit seiner Familie ein Haus am Rand Hamburgs und bewährt sich in seiner mit Kautschuk handelnden Firma in der Krise von Nine Eleven. Der Roman erzählt von den Familien Charlys und der seiner Frau Heike (deren DDR-Familie er extrem abschätzig beschreibt), von Ängsten, Freunden, Konkurrenz, Auf-und Abstieg. Und vom Sterben des geliebten Hundes Bella; es ist eine Sterbeszene, die einem nahe geht. Der Hund, ein Golden Retriever, wird im Kreise der Familie eingeschläfert. Und wir erleben mit, wie diese Kreatur, nach der Schöpfungserzählung der Genesis am selben Tag erschaffen wie die Menschen, hinübergeht, begleitet vom Streicheln und von den Worten der Kinder und der Erwachsenen, die noch einmal seine Geschichte erzählen.

Der Roman, der in Hamburg spielt, in der besseren Gesellschaft der Hansestadt, ist elegant und geistreich erzählt, der Erzähler ist ein souveräner Begleiter dieser gehobenen Durchschnittsexistenz. Es finden sich wahre Beschreibungsperlen darin. So die Schilderung des Chile-Hauses als neogotisches Backsteinschiff des Kommerzes. Und gelegentlich finden sich böse, bissige Porträts von Zeitgenossen.

Es gibt zwei theologisch relevante Kapitel in diesem Roman. Das eine ist das Gespräch mit der sechsjährigen Tochter Luisa über das Sterben des Hundes (21ff., 75f.). Als Eltern müssen wir (trotz Säkularisierung) unseren Kindern über die letzten Fragen Auskunft geben - übers Sterben, den Sinn des Lebens, das Unrecht in der Welt. Wir geben uns Mühe, oft scheitern wir damit. Wir weichen aus. Sehr genau ist in Vaterjahre die Insistenz geschildert, die Kinder entwickeln, wenn es um die Frage des Sterbens geht, einfühlsam ist die Hilflosigkeit der Erwachsenen bei ihren Antwortversuchen erfasst. „Papa, muss Bella wirklich sterben? Papa, was ist Sterben? Kann ich auch einfach so sterben?“ Karlmann antwortet so gut er kann. „Wenn man stirbt, schläft man ein und wacht an einem andern Ort wieder auf. Im Himmel? Beim lieben Gott? Ja.“ Und dann der Hund: „Es ist doch nicht sicher, dass sie stirbt.“ „Doch, sie muss sterben. Wir lassen Bella einschläfern, weil sie große Schmerzen hat.“ „Und wenn ich für sie bete?“ „Das wird nichts schaden. Aber ich glaube nicht, dass es sie davor bewahren wird, zu sterben.“ „Aber wer macht, dass sie sterben muß? Der liebe Gott?“ Hier schweigt Karlmann. Und seine Tochter: „Dann ist das ein Scheißgott, kein lieber Gott.“ Es folgt eine Ermahnung wegen des Scheiß-Worts. Die Befragung aber ist noch nicht zu Ende. „Müssen wir alle sterben? Weiß Bella, dass sie sterben muss?“ Nein. Aber warum müssen wir es wissen? „Weil wir Menschen sind, mein Herz.“ Charly schlägt sich wacker. Auch ein in der Kinder-Theologie (so heißt das in der Praktischen Theologie) beschlagener Wissenschaftler könnte dieses Gespräch nicht viel anders oder besser führen. Wir geben als Theologen Antworten, die nicht zufrieden stellen können. Die kindliche Logik bleibt auf der Realebene, symbolische Erklärungen sind ihr noch nicht zugänglich. Luisa, schon fast eingeschlafen, fragt noch: „Papa, aber was genau ist denn Sterben? Tut es weh?“ Karlmann versucht es mit dem Bild einer Wasser-Rutsche. „Du rutschst und rutschst (...) und dann kommst du unten mit einem Platsch ins Licht raus.“ Doch Luisa bleibt misstrauisch (75f.). Karlmann verdrückt sich mit der Auskunft, er müsse jetzt Nachrichten sehen. „Väter, Verräter.“

Das Todesschicksals des Menschen im Gespräch mit Kindern plausibel darzustellen, scheitert manchmal. Und manchmal auch nicht, einmal weil Kinder die unzureichenden Auskünfte schnell wieder vergessen. Oder sich mit einer naiven Erklärung zufrieden geben. Der verstorbene Opa ist jetzt ein Stern am Himmel, schaut gütig auf dich herab. Das tröstete meine Kinder vorm Einschlafen, obwohl mir bei dieser Erklärung unwohl war. Aufschlussreich ist, wie sie sich selbst ihren Reim machen: „Scheiß-Gott“ kommentiert Luisa. Der Enkel eines Freundes sagte nach einem vergeblichen Gebet um Schmerzminderung: „Jetzt gehe ich in den Garten und bete zu den Götzen.“ Die Tochter Max Frischs auf die Auskunft, dass jeder sterben muss, schweigt lange, dann sagt sie: „Ich sterbe gerne, nur jetzt noch nicht.“ Mein Patenkind Viola fragte einmal erschrocken, als ich ihr Guten Abend, gute Nacht vorsang nach der Zeile „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt“: „Will Gott etwa nicht, dass ich morgen wieder wach werde?“

In der Regel bleiben aus solchen Gesprächen keine Verletzungen zurück. Wichtig ist die Geduld beim Reden mit Kindern, die Bereitschaft immer wieder trotz Ermüdung Auskunft zu geben. Und vielleicht sind die Versatzstücke christlichen Jenseitstrostes besser als ratloses Schweigen oder Abwimmeln. Wichtig ist die Präsenz der Eltern. Die gibt Geborgenheit. Wie Peter Berger sagte: die Mutter oder der Vater fungieren als „Hohepriester einer verlässlichen Ordnung.“ Das hat Kleefeld sehr genau erfasst. So lässt er seinen Karlmann agieren – als Laientheologe kommt er gut weg. Wie haben Väter es ihren Kindern früher erklärt? Matthias Claudius etwa? Der glaubte an den Himmel als bessere Welt; in die Bibel einer seiner Töchter schreibt er: „Ich gehe natürlich voran und erwarte dich, liebe Auguste, wenn deine Stunde geschlagen hat und will, wenn ich kann, dir entgegenkommen.“ Eine befreundete Mutter, deren kleiner Sohn gestorben ist, tröstete er: „Ihr kleiner Fritz ist nicht verloren, er ist nur wie ein Vöglein über die Mauer in einen anderen Garten geflogen, und da sollen sie ihn wiederhaben.“(Zit. in H.-J. Benedict, Matthias Claudius, Berlin 2014, 126).

Dieser Trost, in Zeiten hoher Kindersterblichkeit verständlich und willkommen, ist heute nicht mehr angesagt, in Zeiten, da jedes Frühchen, das früher schnell gestorben wäre, große Überlebenschancen hat und auch um jedes krebs- oder herzkranke Kind gekämpft wird. Aber was dann? Der kluge Autor von Vaterjahre weiß es auf den Begriff zu bringen. Charlys kleine Tochter befindet sich „zwischen Angst und Trauer und Wissenwollen: Hinausgeschossen in die Umlaufbahn der Erkenntnis, aber noch nicht in der Lage einzusehen, dass wir dort immer nur Kreise ziehen und nicht zum Kern gelangen.“(75) Charly hat die Demut der Erkenntnis, dass keine neue Antwort-Runde die Tochter einer befreienden Erklärung näherbringen wird. Das schmerzt ihn, aber er akzeptiert es und gibt sein Bestes, bis die Tochter eingeschlafen ist. Er ist, wie gesagt, ein sympathischer Vater und Laientheologe.

Nicht so die professionelle Theologin, die in einem Kapitel des Romans prominent auftaucht. Es handelt sich um eine bekannte, in den Medien präsente Pastorin, die auf dem Ohlsdorfer Friedhof in Kapelle XIII die Trauerfeier für Charlys verstorbene Stiefmutter hält. Schon ihr der Auftritt wird böse karikiert - „die blonde Hauptpastorin mit dem kurzen Pferdeschwanz, die trotz Talar und Beffchen aussah, als komme sie direkt vom Reiterhof.“ (Das erinnert an das angenehme äußere Erscheinungsbild der einen oder anderen Hamburger Hauptpastorin). Und weiter: „Innerhalb weniger Jahre war es ihr gelungen von einer Hamburger Stadtpfarrerin zu einer öffentlichen Person zu werden, die eine Meinung hat, und das weit über die Stadtgrenzen hinaus. Alles, was an Religion unbequem oder lästig sein mochte, hatte sich in ihrem Denken, ihrer Lebensführung und vor allem ihren Sprechen aufgelöst wie eine Brausetablette in einem großen Glas Wasser.“ (183) Wie Kleeberg die Pastorin weiter skizziert, das lässt mich an Margot Käßmann denken, ehemalige Bischöfin und EKD-Ratsvorsitzende, jetzt Luther- Botschafterin. „Sie hatte sich einer eifrig beredeten Affäre wegen vom Vater ihrer zwei halbwüchsigen Söhne scheiden lassen, sie war gegen den Krieg und den Faschismus und für den Frieden und Brüderlichkeit und aufseiten der Unterdrückten (…) sie hatte ein Meinung zu allem, ohne groß nachdenken oder sich informieren und abwägen zu müssen, plaudernderweise, denn: Sie glaubte. Das sagte sie sehr oft, und dieses Glaubensselbstzeugnis war sozusagen das süßschmeckende Vitamingetränk, das nach Filterung aller Bitterstoffe von ihre Theologie geblieben war.“ (184) Ihre Anhänger hielten das für Kongruenz von Wort und Person, auch weil sie in ihren Predigten so häufig ich sagte: ich meine, glaube, wünsche mir. Sie schuf so ein Stellvertretungs-Ich, galt als Beispiel lutherischer Freiheit. So wirkte sie überzeugender jedenfalls als die Institution Kirche, die sie vertrat, die in ihrem Schatten immer unglaubwürdiger wurde. Folglich war sie „ein idealtypischer kritischer Studiogast fürs Fernsehen“ (185). Bescheidenheit ging mit bahnbrechender Eitelkeit einher. „Unsere Pastorin zelebrierte lieber eine Trauerfeier mit 150 geladenen Gästen aus der guten Hamburger Gesellschaft, als einer dementen Oma in Steilshoop in ihrer Bude letzten Trost zu spenden.“ (186) So bildete sich eine Gemeinde dieser Ich-Kirche: „Politiker, Unternehmer (vor allem deren Gattinnen), Journalisten, Hamburger Show-und Kiezgrößen.“

Hier geht die Personen-Zeichnung schon in bitterböse Satire über. Da will der Autor nicht mehr kritisch würdigen, sondern vorführen, Ärger loswerden auf einen bestimmten Typ öffentlicher Person, den er nicht mag. Und begeht dabei den handwerklichen Schnitzer, einer Hauptpastorin die Vernachlässigung seelsorgerlicher Aufgaben in der Neubausiedlung Steilshoop anzudichten, mit der sie nun wirklich nichts zu tun hat. Auch die Trauerpredigt wird karikiert. „Sie war eine Sünderin wie ich, wie wir alle“, ruft sie der Verstorbenen nach, „und sie bedarf der göttlichen Gnade wie ich, wie wir alle. Und sie IST ihrer teilhaftig geworden.“ Wie der Schächer am Kreuz, der von Jesus die Verheißung erhält, „HEUTE wirst du mit mir im Paradies sein.“ Ein alter Professor namens Senftenberg kommentiert leise: „Die Theologie dieser Dame erinnert mich an Willy Millowitschs altes Karnevalslied. Wir sind alle kleine Sünderlein. Und er begann es tatsächlich zu singen.“ Und dann der Vorwurf der Selbstsäkularisierung. „Was bleibt denn noch von der Religion, wenn ihre Repräsentanten sich selbst säkularisieren? Wenn sie Zuckererbsen hienieden predigen und an die Politiker appellieren statt an Gott. Die sozialdemokratischen deutschen Christen. Ich habe das Heil nicht, Frau Pastorin! Ich bin ein Sodomit! Hören Sie! Ein Sodomit.“ (189)

Nicht von ungefähr muss gerade Margot Käßmann sich eine ähnliche Kritik von männlichen Theologen gefallen lassen, theologisch sei das, was sie sage, schwachbrüstig. Andererseits trifft Kleeberg mit seiner Karikatur etwas, was gerade die Beliebtheit von Käßmann erklären könnte – der Wunsch nach Stellvertretung. Nach Ich-Gefühlen, nach Moral. Kleefelds Satire will auch das Hamburger Bürgertum treffen, auf das unsere Hauptpastoren, Frauen wie Männer, manchmal allzu bereitwillig eingehen. Anscheinend deswegen, weil es eine immer bedeutungsloser werdende Kirche wieder bedeutsam macht. Der greise Professor Senftenberg kann einer ehemaligen Studentin noch mit einem Schleiermacher-Zitat die blonde Pastorin theologisch verorten („Wer sich nicht wenigstens seiner Gefühle als unmittelbarer Einwirkungen des Universums bewusst ist, der hat keine Religion“), dann geht die Erzählung auch schon auf ein anderes Terrain über. Charly trifft nach dem Gang zum Grab John Jessen, den Seniorchef von Sieveking & Jessen, der einen neuen Geschäftsführer sucht, ein für den weiteren Verlauf des Romans wichtige Begegnung.

Doch dann gibt es noch ein Nachspiel zu dieser bösen Pastoralskizze. Charly verabschiedet sich nach dem Beerdigungskaffee von der Pastorin, reicht ihr die Hand und hält statt des erwarteten festen Händedrucks eine schweißnasse Hand, sieht dazu noch ihre flatternden Wimpern. Auf einmal hat er ein ganz anderes Bild von dieser souveränen Karriere- und Medien-Pastorin. „Da war irgendwo ein Bereich der Angst und Scheu, dass sie sich die Rolle der Trösterin abtrotzen musste und danach womöglich eine Leere und Schwäche blieben, die in Charly automatisch einen Beschützerinstinkt und Mitleid hervorriefen. Das Bild der oberflächlichen Schwätzerin sollte in der Folgezeit verblassen, weil die feuchte Hand eines Menschen länger nachwirkt als seine Worte und Gedanken.“ (203) Das ist sehr schön gesagt, und verrät, dass der Autor mit dieser Doppelzeichnung der Pastorin seine Karikatur, die dadurch nicht falsch wird, doch relativiert. Es ist das Kennzeichen eines großen Erzählers, einer Figur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er ihre Schwäche als Stärke, als ihren humanen Kern aufleuchten lässt. Dieses Erzählprinzip großer realistischer Romanciers, ich erinnere an Fontane, Thomas Mann und an Martin Walser, steht in der Tradition jener Dialektik von Erniedrigung und Erhöhung, wie sie das Christentum auszeichnet, zuerst von Erich Auerbach in seinem Buch Mimesis an der Figur des seinen Herrn verleugnenden weinenden Petrus beschrieben. (So eine Dialektik-Szene ist auch der Zusammenbruch Charlys auf der Köhlbrandbrücke, der sich vor Höhenangst in die Hose macht und von Heike abgeholt werden muss.)

Der Roman endet, wie angedeutet, mit der berührenden Sterbeszene des Hundes im Kreise der Familie. Danach geht Charly mit Luisa in den Garten, um Bella zu begraben. „Ist doch ein schöner Platz hier bei dem Kirschbaum, findest du nicht?, fragte Charly.“ Luisa nickt, stellt dann die erwartete Frage, wo Bella jetzt sei. „Nicht da drin, so viel steht fest. Nicht das jedenfalls, was wir ihre Seele nennen.“ (496f.) „Es ist so ungerecht, sagte Luisa.“ Und Charly antwortet: „Ja, es ist wahnsinnig ungerecht. Aber gerade weil es so ungerecht ist, dass man schreien möchte, muss es einen Ort geben, an dem Gerechtigkeit herrscht. An dem alles ausgeglichen wird.“ Als er seine Tochter fragt, ob sie das verstehe, schüttelt sie den Kopf. „Ich auch nicht, sagte Charly. Und jetzt lauf rein, ich mach das hier noch fertig.“ (497) Welch ein kluger Vater und Laientheologe. Etwas anderes wüssten auch wir professionellen Theologen nicht zu sagen. Und wieder einmal bewahrheitet sich der Satz Martin Walsers, dass die Dichter etwas so schön sagen, wie es nicht ist. Und deswegen möchte ich in Abwandlung des ungeheuer hoffnungsvollen Schlusssatzes aus den Wahlverwandtschaften schließen: „Da ruht nun Bella in Frieden. Leuchtende Kirschblütenzweige schweben zu ihren Häupten. Und wie schön wird es erst sein, wenn sie dereinst wieder erwacht und, um mit dir zu spielen, Luisa, ins Haus gelaufen kommt.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/96/hjb38.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2015