Unterwegs zum Sinn

Eine Typologie von Pilgernden

Frank Hofmann

Detlef Lienau: Religion auf Reisen – eine empirische Studie zur religiösen Erfahrung von Pilgern (PThK 24). 448 S. Freiburg: Kreuz 2015.

Die anhaltende Popularität des Pilgerns steht in überraschender Diskrepanz zur theologischen Reflexion dieser religiösen Praxis. Allein in Santiago wuchs die Anzahl der registrierten Pilger von 5000 im Jahre 1990 auf fast 238 000 im vergangenen Jahr. Nur im Heiligen Jahr 2010 sammelten sich mehr Menschen auf dem Jakobsweg. Von 2007 bis 2013 waren die Deutschen nach den Spaniern die am stärksten vertretene Nation – 2006 erschien Hape Kerkelings Bestseller „Ich bin dann mal weg“. 2014 schob sich Italien mit über 20 000 Pilgern dazwischen (Deutschland 16 333).

Die theologische Debatte spiegelte diesen Boom nur schemenhaft wider. Es fehlte bislang an fundierten Beiträgen mit gründlicher Methodik und klaren praktisch-theologischen Fragestellungen. Diese Lücke will Detlef Lienau mit seiner 2013 abgeschlossenen Dissertation schließen, die in diesem Jahr bei Kreuz erschien. Der Pfarrer, Mitarbeiter der Arbeitsgruppe für empirische Religionsforschung an der Universität Bern, ist selbst ein begeisterter Pilger und leitet seit über zehn Jahren entsprechende Gruppenreisen.

Seine Studie ist klar gegliedert: In einem ersten Teil werden die zentralen Begriffe „Religion“, „Leiblichkeit“ und „Pilgern“ erörtert und so präzisiert, dass sie in die empirische Auswertung als zu überprüfende Konzepte einfließen können. Der zweite Teil wertet zum einen fünf Beispiele von Pilgerliteratur aus, zum anderen sieben, zwischen 2006 und 2010 geführte episodische Interviews mit Pilgernden. Diese empirischen Untersuchungen folgen der Idee der „Grounded Theory“, bei der nicht aus Theorien deduktiv abgeleitete Thesen in der Feldforschung überprüft werden, sondern theoretische Aussagen kreativ und induktiv in einem recht frei gestalteten Interview generiert, getestet und angepasst werden. Der dritte Teil beschäftigt sich mit der zusammenfassenden Auswertung und den sich daraus ergebenden Empfehlungen für Forschung, praktische Theologie und kirchlicher Arbeit.

Lienau legt für seine Untersuchungen – Matthias Jung folgend – einen dreiteiligen Religionsbegriff zugrunde, der religiöse Erfahrungen als Trias aus Erleben, interpretierender Artikulation und symbolischer Form bestimmt. Für die empirische Auswertung zeigt sich dieser Begriff als besonders leistungsfähig, weil er die individuelle Deutungsarbeit von religiöser Erfahrung betont. Beim Konzept der „Leiblichkeit“ folgt Lienau der Leibphilosophie Gernot Böhmes, die der Tradition entsprechend strikt zwischen Leib und Körper trennt (einen Körper hat man, ein Leib ist man). Damit sind zunächst einmal nur verschiedene Blickwinkel benannt. Lienau interpretiert diese Unterscheidung allerdings so weitgehend, dass er bestimmte Bewegungs- und Wahrnehmungsformen eindeutig dem einen oder dem anderen Konzept zuordnet. So gelten ihm Feldenkrais, autogenes Training und ostasiatische Körpertechniken (ohne Beleg) als fördernd für ein Leibbewusstsein, während Sport und Fitness der Manipulation und Funktionalisierung des Körpers zugerechnet werden. Woher Lienau diese Wertung nimmt, bleibt offen – seine Charakterisierung von Sport und Fitness ähnelt einer Karikatur des Bodybuilding-Trends aus den neunziger Jahren. Dabei gerät leider völlig aus dem Blick, dass gerade in sportlichen Körpererfahrungen ein großes Selbsttranszendierungspotenzial liegt, das auch beim ausdauernden Pilgern angesprochen wird. Bei solchen körperlichen Belastungen ändert sich die Selbstwahrnehmung grundlegend. Was auf der einen Seite organisch erklärbar ist – intensivierter Sauerstofftransport, höhere Stoffwechselrate, angeregte Hormonausschüttung –, führt auf der anderen Seite oft zu religiösen Deutungen der körperlichen Grenzerfahrung. Ein biblisches Beispiel dafür finden wir in 1 Könige 19, wo der Prophet Elija nach einem ca. 100 Kilometer langen Dauerlauf und einer sich unmittelbar anschließenden 40-tägigen Fastentour so sensibel geworden ist, dass er Gott in einem „stillen, sanften Sausen“ wahrnimmt. Lienaus konzeptionelle Verengung des Begriffs „Leiblichkeit“ führt dazu, dass dieser Komplex im empirischen Teil kaum zur Sprache kommt und auch in der Auswertung in seiner religionskonstitutiven Bedeutung nicht erfasst wird.

Die Auswahl der Interviews wirkt auf den ersten Blick sehr eng: Nur die Schilderungen von sieben Jakobsweg-Pilgern flossen in die Studie ein – darunter lediglich ein Mann. Das entspricht nicht der Realität auf dem Camino, wo männliche Pilger deutlich überrepräsentiert sind.  Trotzdem gelingt Lienau eine überzeugende Typisierung in „aktivische“ und „passivische“ Pilger. Die ungewohnte Wortbildung soll deutlich machen, dass es nicht um aktives und passives Verhalten geht, sondern um eine bestimmte Haltung – zu sich selbst, der Umwelt und dem Anderen: Während der aktivische Typ im Eigenbezug auf Selbstverwirklichung setzt, im Sozialbezug auf Anderssein, im Naturbezug auf Erkenntnis/Bewältigung und im Transzendenzbezug auf eine dialogische Beziehung, sind für den passivischen Typ die entgegengesetzten Merkmale charakteristisch: Selbstempfangen im Eigenbezug, Verbundensein im Sozialbezug, Hineinbegeben im Naturbezug und bewusstes Eingebettetsein im Transzendenzbezug. Interessanterweise konnte Lienau keine Mischtypen feststellen: Wer sich in einer Dimension als Aktivischer zeigt, beweist die gleiche Haltung auch in den anderen Dimensionen.

Bei aller Unterschiedlichkeit sind beide Typen jedoch geeint in der Erfahrung, dass Pilgern die grundlegenden Fragen des Menschseins anspricht und auf diese Weise zu Deutungen, Sinnbildungen und symbolischen Artikulationen anregt. Pilgern ist „religionsproduktiv“ – worauf die Kirchen in zunehmendem Maße ja auch reagieren. Lienaus Studie ist eine gute Hilfe, um Pilgerangebote auf die konstatierten Typen zuzuspitzen. Die Chance, den Zusammenhang von körperlichen Erfahrungen und religiöser Deutung zu beschreiben, hat der Autor allerdings nur teilweise genutzt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/96/fh1.htm
©
Frank Hofmann, 2015