Die Herrlichkeit der Kunst

Psalm 40, 4

Carl Jatho

Vorbemerkung der Redaktion (Andreas Mertin)

Horst Schwebel hat in seiner in diesem Heft publizierten Rezension des Buches von Johannes Hummel auf den so genannten Jatho-Streit in der deutschen Kirche in den Jahren zwischen 1905 und 1911 verwiesen, ein Streit, der in der Sache in der evangelischen Kirche immer wieder mal aufflammt. Der Kölner Pfarrer Carl Jatho weigerte sich Anfang des 20. Jahrhunderts, den Kindern das Apostolikum zu vermitteln, weil es nicht mehr nachvollziehbar sei und wurde deshalb seines Amtes enthoben. Er stellte seine Arbeit aber nicht ein, sondern predigte anschließend erfolgreich in öffentlichen Versammlungsräumen. Man kann ihn durchaus als Vertreter des Kulturprotestantismus bezeichnen, auch wenn einige prominente Kulturprotestanten sich von ihm distanziert haben.

Die folgende Predigt von Jatho stammt aus der Zeit nach der ersten Abmahnung und vor der Eskalation des zentralen Konflikts mit der Kirchenleitung. Sie ist erschienen in seiner zweiten Predigtsammlung, die den programmatischen Titel trägt: „Persönliche Religion“.

Jathos Predigt ist für heutige Ohren ungewöhnlich: die pathetische Rede vom deutschen Volk, von „unserem Schiller“, „unserem Wagner“, von der Kunst als Führer und vieles mehr. Aber sie macht zugleich auch deutlich, wie Menschen dachten, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts einen überaus engen Zusammengang von Kultur und Protestantismus im Interesse des Fortschritts erträumten. Man wird der geradezu holzschnittartigen Skizzierung der Kulturgeschichte als einer Geschichte immerwährenden Fortschritts der Menschheit zu höheren Formen heute nicht einmal ansatzweise mehr folgen können, aber interessant ist es doch, wie da mit der Kultur und durch die Kultur gepredigt werden sollte.

Ich habe selten einen Text gelesen, der so ambivalent zugleich offen für die Potentiale der Kultur im Blick auf Kirche und Theologie ist (Autonomie der Kunst!), wie er auch in schrecklicher Weise den Abgrund erkennen lässt, in den Teile des Kulturprotestantismus kurze Zeit später dann getaumelt sind. Nicht, dass ich meine, Jatho sei dafür anfällig gewesen (dafür weiß ich zu wenig über ihn), aber nichts in seinem Text sperrt sich gegen den Missbrauch der kulturreligiösen Gedanken, der wenige Zeit später erfolgte.

Wir drucken die Predigt von Jatho aus dem Frühjahr 1905 vollständig ab und ergänzen sie um einige Anmerkungen der Redaktion, zum Teil, weil Jatho nicht immer korrekte Datierungen und Zitierungen vornimmt, zum Teil, weil sich der Erkenntnisstand zwischenzeitlich gewandelt hat, zum Teil, um auf von ihm vorausgesetzte Literatur zu verweisen.


Jatho, Carl (1906): Die Herrlichkeit der Kunst. Psalm 40, 4.
In: Ders., Persönliche Religion. Predigten. 2. Aufl. Köln: Paul Neubner, S. 236–252.


Die Predigt

„Der Herr hat mir ein neues Lied in meinen Mund gegeben, zu loben unsern Gott.“ Meine lieben Freunde! Das deutsche Volk bereitet sich seit längerer Zeit auf einen seltenen und hohen Gedenktag vor. Am 9. März werden hundert Jahre vergangen sein, seitdem unser Schiller in Weimar die Augen schloß.[1] Da geht denn durch alle deutschen Lande, ja, weit über die Grenzen des Vaterlandes hinaus, überall, wo die deutsche Zunge klingt und deutsche Herzen schlagen, ein Regen und Bewegen durch die Menschen. Da erinnert man sich des großen nationalen Gutes, welches wir dem Dichter verdanken; man richtet seine Blicke mit erneuter Anteilnahme und Begeisterung auf den einzigartigen Mann, der seinem Volke ein Erbe hinterlassen hat, wie wohl nur Wenige getan haben: ein Erbe an Geist und Kraft, ein Erbe an Schönheit und Wahrheit.[2]

In solcher Zeit darf auch die Kirche nicht schweigen; denn die Kirche bildet keine Welt für sich, wenigstens soll sie das nicht tun, sondern sie soll mitten drin stehen in dem lebendigen Strome des Volkslebens, sie soll die Begeisterung des Volkes mitempfinden können. Sie wird seine Schmerzen mitfühlen und seine Leiden mittragen, aber sie wird sich auch mit ihm erheben und aufschwingen zur Dankbarkeit gegen die Männer, welche, wenn auch nicht in kirchlicher Form sich aussprechend und nach kirchlicher Weise einhergehend, dennoch große Propheten Gottes für unser Volk gewesen sind.[3] Zu diesen gehört ohne Frage auch unser Schiller.

Ich habe nun nicht die Absicht, heute über Schiller insbesondere zu reden - das möchte ich lieber in acht Tagen tun - aber ich möchte Euch etwas verkünden aus der Welt, in welcher er zu Hause war, deren Geheimnisse er uns enthüllt, deren Segenskräfte er mit anderen für uns wirksam gemacht hat: aus der Welt der Kunst.

Es hat in der christlichen Kirche Zeiten gegeben, wo man sich gegen die Kunst ablehnend verhielt, ja dieselbe geradezu bekämpfte und vor der Berührung mit ihr, als einem gefährlichen Irrweg, warnte. Es war im zweiten und dritten Jahrhundert. Wir können das auch verstehen. Damals gab es noch keine christliche, sondern nur eine heidnische Kunst, und diese heidnische Kunst hing mit der heidnischen Religion auf das Innigste zusammen. Gepflegt und emporgetragen durch den Kultus der Götter, erschien sie dem monotheistischen Empfinden als Götzendienst.[4] Einer Anbetung Gottes im Geist stellte sie scheinbar unüberwindliche Hindernisse entgegen. So zog man einen Graben zwischen Christentum und Kunst, wie wir uns aus den Schriften des Kirchenvaters Tertullian[5] und anderer Vorkämpfer der christlichen Weltanschauung aus jenem Jahrhundert überzeugen können.

Diese Zeiten aber sind vorbei, diese Bedenken sind längst überwunden. Die Entwicklung der Kirche ist seit dem Beginn des Mittelalters eine kunstfreundliche gewesen.[6] Ja, die Kirche hat die Kunst geradezu in ihren Dienst hineingezogen; unter kirchlichem Schutz und geistlicher Pflege hat sie sich zu hoher Blüte entfaltet auf allen ihr zugänglichen Gebieten. Unsere Stadt mit ihren ehrwürdigen Gotteshäusern und ihrer wertvollen Sammlung alter Gemälde legt davon ein laut redendes Zeugnis ab. Was wäre Köln ohne seine Denkmäler mittelalterlicher Kunst?!

Die Reformation konnte allerdings ihrer ganzen Geistesrichtung zufolge diese Kunstpflege nicht fortsetzen. Sie hat sich bewußt von ihr abgewandt und zwar aus demselben Grunde, aus welchem die alten Christen sich von der heidnischen Kunst abwandten. Mit der Messe und der Heiligenverehrung verschwanden zwei mächtige Triebfedern künstlerischen Schaffens.[7] Aber die Reformation hat das große Verdienst, die Kunst entkirchlicht zu haben. Wie sie die Wissenschaft und das gesamte geistige Leben der ihr anhängenden Völker auf eigene Füße stellte, so hat sie es auch mit der Kunst getan. Nun konnte sie zu weiterem Fluge ihre Schwingen regen, nun blieb ihr nichts Menschliches mehr fremd, und von Jahrhundert zu Jahrhundert versuchte sie sich an „immer höheren Höh’n und immer schönerer Schöne.“[8] Der Religion wurde sie darum nicht untreu, aber diese hatte aufgehört, ihre Richterin zu sein. Sie entdeckte ihren Maßstab in sich selbst, sie wählte ihre Stoffe aus allen Gebieten des Lebens und behandelte dieselben nach ihrem eigenen Gesetz.[9] Diese Entfaltung verdankt die Kunst dem Protestantismus.[10] Er hat auch hier das Wort wahr gemacht: „Alles ist Euer“[11].

Wohl finden wir hier und da auch evangelische Kreise, denen ihr Glaube die Liebe zur Kunst verschränkt und es zu einer Begeisterung für sie nicht kommen läßt. Sie halten es für Unrecht, das Theater zu besuchen, und schätzen wohl gar alle Kunst als etwas Minderwertiges, Gleichgültiges, der Religion Fernstehendes ein. Wir wollen darüber nicht mit ihnen rechten und überlassen die Entscheidung gern dem Gewissen und Bedürfnis des Einzelnen. Denn gerade hier lassen sich keine allgemein gültigen Regeln aufstellen. Aber wer einmal von der Herrlichkeit dieser wunderbaren Himmelstochter[12] berührt ist, wer ihren Kuss und Segen empfangen hat, wem sie nur einmal im Leben nahe war als die holde Freundin, die so drückende Fesseln zu lösen und so tiefe Schmerzen zu stillen vermag, der liebt diese Freundin, der hält sie fest und möchte sie nicht wieder lassen.

Ja, man kann wohl sagen: wer edle, große Kunst verehrt, kann kein schlechter Mensch sein. Wer das Schöne liebt, der wird auch das Gute lieben; denn Schönes und Gutes stammen aus einer und derselben Quelle. Und wenn wir Jesum so recht nach unserm Herzensbedürfnis bezeichnen wollen, dann nennen wir ihn nicht nur den Besten, sondern auch den Schönsten unter den Menschenkindern.[13] Denn wo zum guten Herzen und starken Willen[14] die schöne Seele sich gesellt, erscheint der Mensch in einer Vollendung, die nicht mehr zu übertreffen ist.

Darum wohlan, Ihr lieben Freunde, laßt uns in dieser Morgenstunde die Herrlichkeit der Kunst preisen.

Wir wollen dabei zwei Fragen stellen:

1. Was hat die Kunst seither uns zur Freude hervorgebracht? Und
2. welche Ausgabe wird ihr von dem Bedürfnis der Gegenwart gestellt?

„Die Menschen sind nur so lange produktiv in Poesie und Kunst, als sie noch religiös sind“ -  sagt Goethe.[15] Man könnte den Ausspruch auch umkehren: So lange die Menschen Religion ha­ben, sind sie künstlerisch tätig gewesen. Die Kunst ist die älteste Sprache der Menschheit, so wie die Religion ihr ältestes Denken und Empfinden ist.[16] Religion und Kunst sind daher ganz untrennbar verbunden, sie sind Geschwister.[17] Die Kunst ist die deutlichste Sprache der Religion.[18] Das lehrt überzeugend ein Blick ins alte Testament. Es ist von dichterischen Gedanken durchzogen, durchdrungen. Nehmen wir aus dem alten Testament die Kunst hinweg, die naive, glaubensfrohe, offenbarungskräftige Poesie, so bleibt uns, abgesehen von geschichtlichen Notizen, nichts übrig, als eine Reihe für uns zum größten Teil leblos gewordener Gesetze.[19]

Wer im alten Testament dogmatische Belehrung sucht, wird wenig finden. Wenn Ihr aber mit fühlendem Herzen, mit schönheitsdurstigem Auge an diese alten, ehrwürdigen Überlieferungen herantretet, dann wird Euch in ihnen eine neue Welt der Schönheit und der Wahrheit aufgehen. Ihr werdet Euch erfreuen können an einer unendlichen Mannigfaltigkeit tief religiösen und darum echt menschlichen Empfindens, Denkens, Ringens und Frohlockens. Oft tritt es auf wie erschütternde, hinreißende Predigt, oft tiefsinnig, wie stille Arbeit des Forschers; zuweilen reizvoll wie halbgeöffnete Knospen, zuweilen auch herb und streng, abstoßend und häßlich. Diese Betrachtung des alten Testaments ist ein wertvoller Schlüssel zu seinem religiösen Verständnis, ist das Strombett, in welchem sein religiöser Gehalt aus ferner Vergangenheit belebend und erziehend in die Gegenwart eindringt und sich stets aufs neue verjüngt.[20]

Das gilt schon von der alttestamentlichen Geschichtsschreibung, welche vielfach in dichterischen Bahnen einhergeht. Nur ein Beispiel will ich herausgreifen. Genaue geschichtliche Berichte über das Volk der Ismaeliter würden uns ziemlich gleichgültig lassen; denn dieser Wüstenstamm hat weder für die Kulturentwicklung noch für die religiöse Erziehung der Menschheit eine Bedeutung gehabt.[21] Nun aber, da Ismael von dem Zauberstabe der Poesie berührt worden ist, da wir die Hagar ausgestoßen, den Knaben in der Wüste am Verschmachten, die Mutter in herzerschütternder Verzweiflung um das Leben des einzigen Kindes ringen sehen - nun ist Ismael unsterblich geworden. Ein solches Bild vergißt man nicht, das zwingt zu innigster Teilnahme an Menschenweh und Menschenwonne.

Diese Wirkung erzeugen viele Überlieferungen des alten Testamentes. Gerade das Ungeschichtliche ist in der hebräischen Tradition das Wertvollste.[22] Die kleinen Einzelzüge, die sachliche Charakterzeichnung, die lieblichen Geschichten aus dem Hirtenleben, die machtvolle Schilderung kühner Helden, kurz, das Persönliche macht diese Erzählungen zu einer unerschöpflichen Quelle der Erbauung und Erhebung. Darum soll die Jugend sie kennen lernen als Offenbarungen des Seelenlebens, als Verkündiger ewigen Menschengeschicks, als Spiegelbilder dessen, was auch in uns glaubt und hofft, weint und jauchzt, irrt und sich findet in Gott.

Zu den Geschichten kommt die bewußte Dichtung, die wunderbare Poesie der Psalmen und Propheten.

„Diese Lieder singen von Lenz und Liebe, von sel’ger goldener Zeit,
Von Freiheit, Männerwürde, von Treu’ und Heiligkeit.
Sie singen von allem Hohen, was Menschenbrust durchbebt,
Sie singen von allem Schönen, was Menschenherz erhebt.“
[23]

Und in allem verherrlichen sie den ewigen Gott. Diese Poesie ist Anbetung, ist Opfer auf dem Altar des Höchsten. Da sehen wir Jahwe einherfahren auf dem Cherub und seine Blitze herniedersenden auf die Erde.[24] Oder wir schauen seine segnende Gotteshand aufgetan, zu sättigen alles Lebendige. Sein Odem erzeugt die Kreatur, vor seinem Schelten wird sie zu Staub. Da hören wir, wie groß, wie mächtig die Liebe ist: stark wie der Tod, fest wie die Unterwelt; ihre Gluten sind Feuergluten, sind Jahwes Flammen. Gewaltige Wasser können sie nicht löschen, Ströme nicht hinweg sie fluten.[25] Da legt der Geliebte seine Braut wie einen Siegelring an seine Hand und wie ein Siegel an sein Herz.[26] Wie groß und rein, wie wahr und schön!

Auch der göttlichen Geheimnisse bemächtigt sich die Poesie und sucht mit ihren Mitteln das Unerkennbare uns nahe zu bringen, das Unaussprechliche zu verkünden. Wohl kleidet sie dadurch die Gottheit in das Bild und Gewand des Menschen. Aber können wir denn von Gott in einer ihm angemessenen Sprache reden? Nenne ihn, wie Du willst, male ihn, wie Du vermagst - mit keinem Namen, mit keinem Bilde erschöpfst Du sein Wesen. Nur versuchen kannst Du, seine Gedanken zu deuten; und dazu brauchst Du die Sprache der Kunst.

Verwundere Dich nicht, wenn diese Sprache oft dem Stammeln des Kindes ähnlich klingt, wenn sie Gott durch seinen Garten wandeln läßt am Abend, da es kühl geworden; wenn sie von einer Reue Gottes, von seinen vergeblichen Versuchen, für den Menschen eine Gehilfin zu finden, von einer Befugnis vor der wachsenden Erkenntnis und Macht seines Geschöpfes erzählt.[27] Als die Völker noch wie Kinder waren, redeten sie auch wie die Kinder. Oder möchtest Du statt dieser kindlichen Wunderwelt in Deiner Bibel lieber die Erörterungen der Philosophen finden, um an ihren Begriffsbestimmungen Dir den Kopf zu zerbrechen? Nein!

„Was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.“
[28]

Freue Dich doch, daß es Zeiten gegeben hat, „wo der Dichtung zauberische Hülle sich noch lieblich um die Wahrheit wand.“[29] Entschleiert wirst Du sie niemals sehen.[30] Heil den Poeten und Propheten, die sie im Schleier der Kunst uns nahe bringen und dadurch das Unheimliche und Furchtbare von ihr nehmen, aber ihre Wirklichkeit nur um so fühlbarer uns machen! Wo wäre die Hoffnung Israels geblieben, dass es einmal ein Licht werden solle für alle Völker[31], daß es die ganze Menschheit an seine Spuren bannen werde und werde ihr voranleuchten mit der unaustilgbaren Zuversicht einer ewigen Erlösung! Wie hättest diese kühnen Gedanken einer geistigen Welteroberung durch die Stürme der Jahrhunderte wirksam bleiben können, wenn die Sänger nicht hätten in die Harfe gegriffen und hätten sie tief in die Seelen geprägt durch die Wunderkraft der Poesie? Ja wahrlich, es ist ein gesegnetes, ein beneidenswertes Volk gewesen, welches die Schätze seiner Kunst im alten Testament niedergelegt hat!

Aber im neuen Testamente, da gibt es wohl keine Kunst? Jesus war selbst ein Künstler. Jesus ist kein Gelehrter gewesen, kein Philosoph, auch kein Theologe, sondern ein Volkslehrer und Dichter. Viele seiner Aussprüche tragen die kurze, schlagende und packende Art der Spruchdichtung an sich. Und nun gar die Gleichnisse! Da zeichnet er jedesmal mit wenigen kräftigen Strichen ein abgerundetes, erschöpfendes Bild. Seine Gestalten sind klassisch, typisch, urbildlich. Denkt an den Pharisäer im Tempel mit seinem Stolze und an den Zöllner mit seiner Demut![32] Wer könnte mit weniger Worten die Eigentümlichkeiten der Menschen treffender zeichnen? Und das Weib, welches seinen Groschen sucht,[33] oder der Hirt, der dem verlorenen Schäflein nachgeht in herzlichem Mitgefühl, bis er es gefunden hat[34] - wie einfach und rührend! Die Krone aber gebührt der Erzählung vom verlorenen Sohn,[35] der ergreifendsten unter seinen Dichtungen. Der jüngere Sohn mit dem falschen Freiheitsdrang, aber aufrichtigen Gemüt und der ältere mit dem korrekten Sinn: aber harten Herzen; und zwischen beiden die alles ausgleichende, überströmende Liebe des Vaters, der an das Gute in seinen Söhnen glaubt - ist das nicht ein Dichter von Gottes Gnaden und voll heiligen Geistes, der uns so etwas hinterlassen konnte?

Auch sonst arbeitet er mit den Mitteln des Symbols, im Sinnlichen macht er das Geistige anschaulich. Er spricht von dem Licht, das auf den Leuchter gehört, wenn’s leuchten soll;[36] von dem Hause, das nicht auf Sand gebaut sein darf;[37] von dem Sauerteig, der das ganze Mehl durchsäuern muß.[38] Auf Schritt und Tritt begegnen wir dieser Verwertung einer vielseitigen kleinen Wirklichkeit zur Verkündigung der höchsten Gedanken. Das ist Dichterart. Er greift ins volle Menschenleben und findet den Himmel darin.[39]

Aber auch seine Gemeinde hat von ihm das Singen und Sagen, das Dichten, gelernt. Wie wunderbar hat sie es verstanden, seine Wiege mit dem leuchtenden Glanze der Poesie zu umgeben! Wer wollte jemals aus seinen Kindheitstagen die Hirten auf dem Felde und die jubilierenden Engel im Lichte droben vergessen können?[40] Wer würde eine Gestalt, wie den alten Simeon,[41] wie die greise Hanna[42] aus dem Herzen verlieren, wenn er sie einmal kennen gelernt hat?

Auch durch sein Mannesleben und -kämpfen, bei seinem Siegen und Segnen hat ihn die Gemeinde mit ihrer dichterischen Andacht begleitet. Die Versuchungserzählung[43] steht am Beginn des großen Ringens mit Gott und Welt wie der Prolog im Himmel am Anfang des Buches Hiob. Es rüstet sich der Fürst der Finsternis mit arger List, als ob er ahnte, welche Gefahr seinem Reiche von diesem Kind des Lichtes droht. Und die Geschichte der Verklärung auf dem Berge![44] Welch eine Huldigung des Glaubens vor dem Helden des Geistes! Jesu Angesicht leuchtet wie die Sonne, und seine Kleider sind weiß wie der Schnee. Die Herrlichkeit des Menschensohnes überstrahlt einen Moses und Elias, sie blendet mit ihrem Glanze die unverständigen Jünger, die Vergangenheit neigt sich vor der überwältigenden Lebensfülle der Gegenwart. Oder die Erzählung von Jesu Wandeln auf dem Meer! Fürwahr, ein Hymnus von der Unbesiegbarkeit eines glaubenden, mutigen Willens! Ruhig über den Wogen tobender Leidenschaften, stürmender Ereignisse steht er, der Überwinder der Welt! Dazu die Großherzigkeit und Güte, die mit fünf Broten Tausende von Menschen speist.[45] Sie ist unerschöpflich, aus dem Reichtum göttlichen Geistes Nationen um Nationen zu segnen bis heute, und sie werden alle satt. Ist das nicht echte, unvergängliche Kunst? Gerade weil es Poesie ist, darum ist es ewige Wahrheit, die sich zu allen Zeiten wieder verjüngt. Darum erquicken sich auch alle Geschlechter auf’s neue an diesem frischsprudelnden Brunnen neutestamentlicher Dichtung.

Selbst ein Paulus hat das Singen nicht lassen können, der sonst so gedankenscharfe, nüchterne Mann! Ihr kennt alle das 13. Kapitel in seinem 1. Korintherbriefe: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, dann wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle“. Und die gedankenschwere Arbeit des vierten Evangelisten! Wie weiß er aus den Wundererzählungen von Jesus die Wunder des Geistes herauszulesen! Wie macht er aus dem, der dem Blinden die Augen geöffnet hat,[46] das Licht der Welt;[47] aus dem, der die Hungrigen speiste,[48] das Brot des Lebens;[49] aus dem, der den Lazarus aus dem Grabe rief,[50] die Auferstehung und das Leben selbst![51] Da ist Geist und Leben, da ist bildende Kunst. Da haben Menschen im Dienste Jesu ihr Bestes eingesetzt, um ihn der Welt zu erklären und zu verklären, und es ist schade, daß man diese freien, herrlichen Gebilde des schaffenden Menschengeistes immer wieder in den Kreis des Sinnlichen und Stoffliehen herunterzieht, sie gleichsam in Prosa übersetzt. Nimmt man ihnen doch auf diese Weise ihr Herzblut, den Pulsschlag des Ewigen und Wahren.

Mit besonderer Begeisterung haben die neutestamentlichen Schriftsteller von der Wiederkunft Christi gesungen. Diese Hoffnung war die rettende Lebenskraft der ersten, noch kleinen Schar der Jesusfreunde. Wie sollte sie nicht ihre Phantasie genährt, ihr Evangelium durchglüht haben!

„Da denken sie an den jüngsten Tag
und hören Posaunen schallen,
Die Gräber springen vom Donnerschlag,
Die Sterne vom Himmel fallen.
Es braust die offene Höllenkluft
Im wilden Flammenmeere,
Und droben in der goldenen Lust,
Da jauchzen die seligen Chöre.“
[52]

So hat der Schönste unter den Menschenkindern seinen Brüdern die Harfe in die Hand gegeben, so hat er ein neues Lied auf ihre Lippen gelegt, zu loben den lebendigen Gott. Dieses poetische Schaffen hat die Kirche fortgesetzt. Die ganze mittelalterliche Kirchenlehre ist ein großes Kunstwerk, eine gigantische Menschheitstragödie. Um den Menschen ringen die Mächte des Lichtes und der Finsternis. Droben im Himmel beginnt der verhängnisvolle Sündenfall. Der Engel des Lichts wird zum Satan. Gestürzt aus heiliger Höhe, voll grimmen Neides, wird er des Menschen ewiger Feind. Um seine Seele streitet er, der starke Gewappnete, der brüllende Löwe, mit dem Gott des Lichtes. Und siehe da, der Gott des Lichtes erwählt den Sohn des Lichtes, den Eingeborenen, und steigt in ihm zur Erde hernieder. Brennend in himmlischer Liebe nimmt er alle Schuld, alle Erdenlasten der Adamskinder auf seine Schultern und opfert sein reines Leben am Kreuz. Der enttäuschte Satan ist überwunden, und die Erlösten Gottes, die der Eingeborene an seiner Hand dem Leben wiederschenkt, leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich. Wunderreich, ewig wahr, ewig ergreifend! Jedes Menschenleben ist ein Schauplatz dieses erschütternden Dramas. Die ganze Weltgeschichte ist solch ein Sündenfall, solch ein Weltgericht, solch eine Welterlösung.

Und wir, meine lieben Freunde, sind wir etwa Zuschauer dieses Weltendramas? Nein! Wir gehören zu den handelnden Personen, wir sind alle unmittelbar daran beteiligt. Wie dies Drama für uns ende, ist unser heiligstes Anliegen, danach fragt ohn’ Unterlaß die hoffende und bangende Seele. Solch Anliegen auszusprechen und es den Zeitgenossen als Inhalt ihres Lebens zu deuten, ist auch in der Zeit nach der Reformation immer wieder einzelnen Menschen in besonderer Weise gegeben worden. Das sind die grossen Propheten der Neuzeit, die Denker und Dichter der letzten vier Jahrhunderte. Das sind die Luther und Zwingli, Bach und Beethoven, Lessing und Kant, Goethe und Schiller bis hin zu unserem Richard Wagner. Lasse ich ihre Namen an meinem Ohr vorüberklingen, dann ist es mir, als blickte ich hinein in einen unendlichen Strom göttlichen Lebens und Schaffens. Er hat seinen Anfang genommen in grauer Vorzeit, als Menschenkinder zum ersten Male dankbar emporblickten zur lebenspendenden Sonne, und seitdem rauscht er befruchtend und erquickend durch die Menschheit dahin, voll göttlicher Kraft. An seinen Ufern wachsen die Palmen des Morgenlandes neben den Eichen und Tannen des Nordens; da blühen die Wunderblumen des prangenden Südens neben dem stillen Veilchen unserer deutschen Heimat. Denn dieser Gottesstrom ist allbelebend, allerquickend: es ist die Kunst, die wunderbar herrliche, die Botin und Prophetin Gottes, die Schwester der Religion.

Was soll sie uns? Was ist ihre Aufgabe in der Gegenwart? Wenn man das Wort „moderne Kunst“ ausspricht, zucken manche die Achseln, sie können sich mit der Art und Weise der neuen Dichter, Maler und Tonmeister nicht recht befreunden. Die heutige Kunst ist ihnen zu unbändig. Sie stellt ihnen die Natur zu natürlich, die Wirklichkeit zu wirklich dar.[53] Man vermißt den wohltätigen, verklärenden Schleier über dem mißgestalteten Antlitz des Lebens. Dazu ist vielen ihre Form zu frei, sie mißachtet das Gesetz der Schönheit, das gewohnte Ebenmaß. Diese grellen Farben, diese phantastischen Gestalten, diese unruhige Musik, die oft ohne Vorstudium gar nicht verstanden werden können! Das erfreut nicht alle, das will manchem nicht in den Sinn. Darum meinen sie, die heutige Zeit sei eine rückläufige, sie lasse die Kunst entarten und verderbe das Vermächtnis der Väter.[54]

Ich weiß sehr wohl, daß jede Zeit auch ihre falschen Propheten hat, und will durchaus nicht alles loben, was unter dem Namen der Kunst heute den Menschen dargeboten wird; aber davon bin ich fest überzeugt, daß unsere Zeit, wie kaum eine andere, angefangen hat, ein neues Lied zu singen[55], das Lied von einer neuen Welt, von einem neuen Leben in Gott. Nicht losgelöst hat sie sich von dem bewährten Alten, sondern sie predigt das Alte mit neuen Zungen[56], sie hüllt das ewige Wort in neue Akkorde.

So handelt jede selbständige, jede originale Kunst. Sie ist im Anfange immer wie neuer Wein. Den mag nicht jeder; man sagt, der alte sei milder. Aber wir dürfen nie vergessen: die alten Lieder, die wir lieben, weil sie uns anheimeln, waren auch einmal neue Lieder, waren auch einmal neuer Wein und haben in ihrer Zeit dieselbe Gärung hervorgerufen, wie die moderne Kunst in unserer Zeit. Jugendkraft bleibt der Kunst nur da, wo sie sich mit ihrer Gegenwart vermählt. Sie muss mit derselben einen innigen Bund schließen. Unsere Künstler schaffen nicht für die Menschen des 18. oder gar des 15. Jahrhunderts, sondern für die lebensdurstigen, heilsbedürftigen Seelen des 20. Jahrhunderts. Und „nicht gebieten werd’ ich dem Sänger“.[57] Das ist ein großes Wort unseres Schiller, das wir auch auf die heutige Kunst anwenden müssen. Jede Kunst muss persönlich sein, wenn sie lebendig sein soll, so wie auch alle Religion ursprünglich sein muß, wenn sie den Bedürfnissen des Lebenden befriedigend entgegenkommen soll. Das Wort „modern“ ist also an sich kein Tadel, es ist eher ein Lob. Es bezeichnet das persönliche Ergriffensein, die innere Wahrhaftigkeit, die wohltuende Wärme. Es bezeichnet das helle Auge, welches in die Gegenwart hineinschaut, ohne sich vor ihren erschreckenden Erscheinungen zu fürchten. Es bezeichnet den hoch gesinnten Mut, welcher bereit ist, das gegenwärtige Weltübel zu überwinden und der Mitwelt helfend zu dienen.

Welche Aufgabe hat nun diese moderne Kunst für unsere Gegenwart? Die Reformation hat das bekannte Wort vom „allgemeinen Priestertum“ geprägt. Unsere Zeit möchte daneben ein „allgemeines Künstlertum“ stellen. Nicht in dem Verstand, daß alle Leute studierte, ausübende Künstler werden, ebensowenig wie Luther bei seinem allgemeinen Priestertum daran dachte, daß jeder in der Kirche und am Altar des priesterlichen Amtes walten sollte - sondern in einem viel weiteren und höheren Sinn. „Jeder Mensch ein Künstler!“[58] Das ist ein Lieblingsgedanke Schillers gewesen. Er ruft den Künstlern zu:

„Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben;
Bewahret sie!
Sie sinkt mit Euch!
Mit Euch wird sie sich heben!“
[59]

Sollen nun wir, wir Tausende und Millionen, diese ganze künstlerische Tätigkeit den wenigen überlassen, die dazu durch Anlage und Ausbildung befähigt sind? Nimmermehr! Die Kunst sei ein Mittel der Volkserziehung![60] Das ist ein viel versprechendes Programm, eine Forderung, welche vor hundert und mehr Jahren unsere großen Klassiker gestellt haben, die aber bis heute ihre Erfüllung noch nicht gefunden hat.

Und wie denken wir uns das? Die Berufskünstler müssen natürlich vorangehen. Die müssen uns, die wir die Kunst genießen und durch sie uns erziehen lassen wollen, Führer werden; ihnen müssen wir vertrauensvoll die Hände reichen, müssen uns Mühe geben, sie zu verstehen, so wie wir erwarten, daß sie uns verstehen werden. Darum sage ich: Nicht Kunst für eine bestimmte Menschenklasse, nicht Kunst für die Gebildeten, nicht Kunst für die Reichen - nein, Kunst für alle.

Dasjenige, was jedes Menschenherz bewegt, die allerhöchste Freude und der allertiefste Schmerz, die allen erfahrbaren Probleme von Schuld und Sühne, von Gebundenheit und Freiheit, von Glauben und Wissen, die in jeder Menschenseele einen Widerhall finden, - das alles muß Gegenstand einer großen, als Segenspenderin sich fühlenden Kunst werden. Die Kunst muß daher in das Leben hineingreifen, wie es Goethe getan und geraten hat:

„Greif nur hinein ins volle Menschenleben,
Und wo Du’s packst, da ist‘s interessant“
[61]

Aus den Tiefen des Lebens muss uns dann aber die Kunst emportragen zu den Höhen des Geistes, der Weltüberwindung der Menschenliebe, zu den Höhen eines echten Patriotismus, eines freien, aus Wissen und Gewissen gebotenen Glaubens. Wenn die Kunst diesen Weg geht, dann wird sie uns Führerin werden, Gehilfin und Lehrerin im Ringen um sittliche Kraft und lebendigen Glauben. Einst, zu den Zeiten unserer großen Klassiker, war sie sich dieser hohen Aufgabe bewußt, und auch das heutige Künstlergeschlecht steht derselben nicht fern. Möchten alle ohne Ausnahme ihre edle Kraft in den Dienst dieses Gedankens stellen![62]

Dabei muss freilich der Künstler auch Arbeit tun, die manchem nicht gefällt. Wer ins Leben hinuntersteigt, lernt auch der Menschheit ganzen Jammer kennen, und von ihm angefaßt[63], wird er ihn auch darstellen. Aber sollten wir uns denn vor seinem Anblick fürchten? Wollen wir ängstlich den Wirklichkeiten ausweichen? Dürfen wir träumend durchs Leben gehen? Die Augen schließen vor den klaffenden Wunden der Zeit?[64] Diese Wunden zu zeigen, - zu zeigen, daß sie bluten, - ist zweifellos eine Aufgabe des Künstlers. Erfüllt er sie im Drang der Wahrhaftigkeit und Menschenliebe, so dürfen wir ihm nicht in den Arm fallen, auch wenn er aus den Tiefen des Lebens den Schmerz und die Schuld vor unser Auge ruft. Er weiß, warum er es tut. Er will damit die Menschenherzen rühren, er will unser Mitgefühl erwecken, er will unsere Liebe begeistern, daß wir uns nicht mehr schämen, selbst hinunterzusteigen und den Elenden aus dem Staub zu ziehen. O wahrlich, eine hohe, eine heilige Aufgabe der Kunst!

Darum verlangen wir weiter nachdrückliche Pflege und Sorge für die Kunst von seiten des Staates. Warum gibt man nur die Predigt des Glaubens umsonst? Warum nicht auch die Predigt der Schönheit? Warum werden unsere Schauspielhäuser keine Staatsanstalten, damit sie aufhören, gefährlichen Interessen zu dienen, und allein um der Kunst willen arbeiten? Nur das Beste ist gut genug für unser Volk, nur das Gediegenste darf dargeboten werden, wo das Volksempfinden geläutert, die Begeisterung für das Würdige und Schöne vereinfacht werden soll. Wir müssen die Bühne als eine „moralische Anstalt“[65] auffassen lernen, als eine uneigennützige Erzieherin der Gesellschaft. Dazu reicht die Macht des einzelnen nicht aus, da muß die Gesamtheit eintreten. Der Staat und die Städte müssen die Pflege der Kunst mit demselben Nachdruck in die Hand nehmen, wie die Pflege der Schule und die Erziehung der Jugend.

Dann würde auch der Kunstsinn, die Liebe zur Kunst, in weiteren Kreisen erwachen und damit das Verständnis sich vertiefen. Das große Kunsterbe von den Vätern her würde aus seinem Schlummer aufgeweckt und fruchtbar gemacht werden für sittliche und religiöse Charakterbildung. Millionen sind davon noch unberührt. Nun bedarf der Mensch nach des Tages Last und Hitze einer Erholung. Und wo sucht er sie? Da, wo er seine niedrigen Anforderungen an Lebensgenuß befriedigt findet, wo man ihm Sinnenkitzel[66] bietet: in den Singspielhallen, in den Theatern niedrigster Gattung. Viel versäumt ist auf diesem Arbeitsfeld. Hier liegt eine hohe Kulturaufgabe vor, die der Lösung harrt.

Wenn erst einmal die Liebe zur Kunst die Menschenherzen weithin in ihren Bann gezogen hat, dann wird auch jeder einzelne in seinem Kreise, in seinem Hause der segenspendenden Freundin eine Stätte bereiten. Sie wird Euch werden, was sie unserm Schubert war. Der hat sich sein Leben lang mit Not und Sorge herumschlagen müssen. Aber er hatte seine holde Kunst. Die tat ihm den Himmel auf, wenn die Erde sich ihm verschloß; die spendete ihm die Schätze des Mutes und der Ergebung, des Trostes und der Hoffnung aus ihrem Füllhorn, und wie einer treuen Mutter singt er ihr das ergreifende Lied: „O holde Kunst, wie dank ich Dir dafür!“[67]

Eine solche Freundin und Trösterin möge auch Euch die Kunst werden, Ihr lieben Freunde! Nicht daß sie Euch die Religion ersetzen könnte! Aber sie vermag Euren Glauben zu tragen, zu vertiefen, und ihre Sprache kann Euch zum Glaubensbekenntnis werden.[68] Licht und Wärme, Frieden und Freiheit wird sie Euch bringen. Denn wo sie waltet, stoßen nicht hart im Raume sich die Sachen, da wohnen frei und leicht beieinander die Gedanken und Empfindungen, die höchsten wie die tiefsten, die strengen und die zarten, die starken und die milden. Sie offenbart Euch eine Welt, in welcher der Widerspruch zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden aufgehoben ist, eine leuchtende, weite, beseligende Gotteswelt.

Möchte darum auch die bevorstehende Gedächtnisfeier viele Herzen öffnen für die Liebe zu jener hohen Kunst, die unseren Schiller befreite, und möchte Gott das einst von ihm gesungene Lied mit neuer Kraft in unsere Seelen und mit neuen Zungen auf unsere Lippen legen!

„Die Kunst will nicht die Wirklichkeit erreichen,
Und doch noch mehr als diese offenbaren.
Sie redet in geheimnisvollen Zeichen,
Die alles Lebens Kern und Geist bewahren.
Die Wirklichkeit treibt alles zur Vernichtung,
Scheucht von des Lebens Gastmahl jeden fort;
Doch höh’res Leben bleibt in Kunst und Dichtung,
In Bild und Wort.“
[69]

Amen.


Anmerkungen

[1]    In Wirklichkeit starb Schiller erst am 9. Mai 1805.

[2]    Schiller, Schaubühne: „... bis sich Gelehrsamkeit und Geschmack, Wahrheit und Schönheit, als zwo versöhnte Geschwister umarmen.“

[3]    Hier bahnt sich schon die Redeform an, mit der dann später nicht nur Literatenb, sondern auch Politiker als Propheten im Dienste des deutschen Volkes bezeichnet werden konnten.

[4]    Wie die Synagoge und die Hauskirche in Dura Europos zeigen, ist Jathos Beschreibung bereits für den Anfang des 3. Jahrhunderts nicht mehr zutreffend. Beiude waren durchaus mit religiösen Bildern ausgestattet. Und was die Nutzung heidnischer Symbole betrifft, so pflegte das frühe Christentum einen durchaus luziden Umgang damit. Sofern diese Symbole nur hinreichend missverständlich waren, wurden sie durchaus in Gebrauch genommen. Vgl. Christus als Sol invictus; Christus in Destalt von Hermes dem Lammträger; Christus als Orpheus oder Guter Hirte.

[5]    Tertullian, Apologeticum   

[6]    Hier unterschlägt Jatho den byzantinischen Bilderstreit, die skeptische Haltung der Franken gegenüber religiöser Kunst und die zahlreichen asketischen Bewegungen, die sich gegen Bilder aussprachen, bis hin zu Bernhard von Clairvaux.

[7]    Faktisch war es eher die Zerstörung des Stftungsgedankens, die die Kunst zum Erliegen brachte. Vgl. Göttler, Christine; Jezler, Peter (1987): Das Erlöschen des Fegefeuers und der Zusammenbruch der Auftraggeberschaft für sakrale Kunst. In: Thomas Sternberg und Christoph Dohmen (Hg.): ... kein Bildnis machen. Kunst und Theologie im Gespräch. Würzburg: Echter, S. 119–148.

[8]    Der Ursprung des Zitats ist unklar.

[9]    Das ist zumindest innerkirchlich eine sehr frühe Anerkenntnis der „Autonomie der Kunst“

[10]   Vgl. dazu sehr viel später Hofmann, Werner (1983): Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion. In: Werner Hofmann (Hg.): Luther und die Folgen für die Kunst. Ausstellungskatalog. München: Prestel, S. 23–71.

[11]   1. Kor. 3, 22.

[12]   Friedrich Schiller: „Auch die Kunst ist Himmelsgabe, / Borgt sie gleich von irdscher Glut. / Ihrem Wirken freigegeben / Ist der Kräfte großes Reich; / Neues bildend aus dem Alten, / Stellt sie sich dem Schöpfer gleich.“

[13]   Das ist ganz interessant, läuft es doch der frühkirchlichen Bestimmung zuwider, Christus sei – in Aufnahme von Jesaja 53, ohne Schönheit und Gestalt gewesen. Allenfalls auf Origines kann sich Jatho hier beziehen. Aus Jesaja 53 schließt Origines, dass Jesus sich nur dem Volk nicht in herrlicher Gestalt gezeigt habe. Dazu führt er eine interessante Unterscheidung ein: die zwischen dem normalen und dem glaubenden Sehen. Er geht von zwei Erscheinungsarten Christi aus: Zwar galt für das Volk, dass er nicht Gestalt noch Schönheit hatte, aber für die ihn begleitenden Jünger war er herrlich, eindrucksvoll und bewundernswert. Bei Jatho aber wird deutlich, dass er mit dem Kreuz und der Niedrigkeit der Magd weniger anfangen kann, als mit der Perfektionierung, der Verklärung und der Vollendung.

[14]   Die Hervorhebung des „starken Willens“ scheint ein Spezifikum des frühen 20. Jahrhunderts zu sein, vielleicht ein später Reflex auf Schopenhauer.

[15]   Goethe zu Riemer, Juli 1810. Das vollständige Zitat lautet: „Die Menschen sind nur solange produktiv in Poesie und Kunst, wie sie noch religiös sind; dann werden sie bloß nachahmend und wiederholend.“

[16]   Das wird man heute nach dem aktuellen Forschungsstand nicht mehr aufrechterhalten können. Vgl. Wunn, Ina; Urban, Patrick; Klein, Constantin (2015): Götter - Gene - Genesis. Die Biologie der Religionsentstehung. Berlin: Springer Spektrum (Sachbuch).

[17]   Die erste enge Verbindung von Kunst und Religion datiert in die Zeit nach 12.000 vor Christus und entsteht damit knapp 30.000 Jahre nach(!) den ersten Bildern der Menschen.

[18]   Auch das kann man nur vertreten, wenn man alle Kunstformen in einen Topf wirft. Die Verfasser des biblischen Bilderverbots hatten ja gerade damit argumentiert, dass die Bilder eben eine uneindeutige religiöse Sprache darstellen würden.

[19]   Hier zeigt sich nicht nur die antijudaistische Tendenz zur Darstellung des Judentums als Gesetzesreligion, sondern auch eine Verachtung der jüdischen Religion, deren fortschrittliches Moment auf ihre Poesie reduziert wird. In der Sache dürfte er sich auf Herders „Vom Geist der Ebräischen Poesie. Eine Anleitung für die Liebhaber derselben, und der ältesten Geschichte des menschlichen Geistes“ beziehen.

[20]   In einem gewissen Sinne muss Jatho das Judentum für tot erklären, um es anschließend literastrisch beerben zu können.

[21]   Die Beerbung Ismaels im Koran lässt Jatho hier außen vor.

[22]   Auch das ist wieder eine Formel, die den in der Geschichte handelnden Gott des Volkes Israel für erledigt erklären muss, um die sich darum rankende Erzählwelt als literarische würdigen zu können.

[23]   Jatho zitiert hier aus dem Gedicht „Des Sängers Fluch“ von Ludwig Uhland: „Sie singen von Lenz und Liebe, von sel'ger goldner Zeit / Von Freiheit, Männerwürde, von Treu' und Heiligkeit, / Sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt, / Sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt.“

[24]   Psalm 18, 11. 2.Sam 22,11

[25]   Hohelied 8, 6f.

[26]   Ebd.

[27]   Genesis 2

[28]   Friedrich Schiller aus dem Gedicht: „Worte des Glaubens“: „Was kein Verstand der Verständigen sieht, / das übet in Einfalt ein kindlich Gemüt.“.

[29]   Friedrich Schiller, aus dem Gedicht „Die Götter Griechenlands“: „Da der Dichtung zauberische Hülle / Sich noch lieblich um die Wahrheit wand“

[30]   Friedrich Schiller in seiner Schrift vom Erhabenen über das verschleierte Bild von Sais: „„Ich bin alles, was ist, was gewesen ist und was sein wird. Kein sterblicher Mensch hat meinen Schleier aufgehoben.“

[31]   Jesaja 49,6

[32]   Lukas 18, 9-14.

[33]   Lukas 15, 8-10.

[34]   Lukas 15, 1-7.

[35]   Lukas 15, 11-32.

[36]   Lukas 11, 33 par.

[37]   Lukas 6, 47-49 par.

[38]   Lukas 13, 20-21 par.

[39]   Goethe, Faust, vermutlich nach Fontane zitiert.

[40]   Lukas 2

[41]   Lukas 2, 25-35.

[42]   Lukas 2, 36.

[43]   Lukas 4, 1-13 par.

[44]   Lukas 9, 28-36 par.

[45]   Lk 9,10–17 par.

[46]   Joh. 9, 1-41.

[47]   Joh 8, 12.

[48]   Joh 6, 1ff.

[49]   Joh 6, 35

[50]   Joh 11

[51]   Joh 11, 25

[52]   Jatho zitiert hier aus dem Gedicht „Trinklied“ von Ludwig Uhland: „So denken wir an den jüngsten Tag, / Und hören Posaunen schallen, / Die Gräber springen von Donnerschlag, / Die Sterne vom Himmel fallen. / Es braust die offne Höllenkluft / Mit wildem Flammenmeere, / Und oben in der goldnen Luft, / Da jauchzen die sel'gen Chöre.“

[53]   Hier spielt Jatho auf die Naturalismus-Debatte an, bei der sich die Theologen zum großen Teil gegen die naturalistischen Strömungen gestellt hatten.

[54]   Ob Jatho hier auf die berühmt-berüchtigte Rinnsteinrede von Wilhelm II. anspielt, ist nicht ganz klar. In der Sache würde es aber passen: Wilhelm II. vertrat die Ansicht, die künstlerische Moderne sei ‚in den Rinnstein‘ niedergestiegen, da sie das Elend noch scheußlicher hinstelle als es schon sei, er wandte sich gegen sogenannte moderne Richtungen und Strömungen. „Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, ist Fabrikat, ist Gewerbe, und das darf die Kunst nie werden. Mit dem viel mißbrauchten Wort Freiheit und unter seiner Flagge verfällt man gar oft in Grenzenlosigkeit, Schrankenlosigkeit und Selbstüberhebung. Wer sich aber von dem Gesetz der Schönheit und dem Gefühl für Ästhetik und Harmonie, die jedes Menschen Brust fühlt, ob er sie auch nicht ausdrücken kann, loslöst und in Gedanken in einer besonderen Richtung, einer bestimmten Lösung mehr technischer Aufgaben die Hauptsache erblickt, der versündigt sich an den Urquellen der Kunst. Aber mehr noch: Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten. Uns, dem deutschen Volke, sind die großen Ideale zu dauernden Gütern geworden, während sie anderen Völkern mehr oder weniger verloren gegangen sind. Es bleibt nur das deutsche Volk übrig, das an erster Stelle berufen ist, diese großen Ideen zu hüten, zu pflegen, fortzusetzen, und zu diesen Idealen gehört, daß wir den arbeitenden, sich abmühenden Klassen die Möglichkeit geben, sich an dem Schönen zu erheben und sich aus ihren sonstigen Gedankenkreisen heraus- und emporzuarbeiten. Wenn nun die Kunst, wie es jetzt vielfach geschieht, weiter nichts tut, als das Elend noch scheußlicher hinzustellen, wie es schon ist, dann versündigt sie sich damit am deutschen Volke.“

[55]   Psalm 40, 4; Psalm 98, Psalm 144, 9  u.ö.

[56]   Markus 16, 17

[57]   Jatho zitiert hier Schiller „Der Graf von Habsburg“: „Nicht gebieten werd ich dem Sänger“

[58]   Die anschließend von Jatho vorgenommene Rückführung dieser Idee auf Schiller scheint mir nicht zutreffend zu sein, sie dürfte eher frühromantischen Ursprungs sein. So heißt es bei Novalis in „Glauben und Liebe“: "Jeder Mensch sollte Künstler sein. Alles kann zur schönen Kunst werden."

[59]   Jatho zitiert hier Schiller „Die Künstler“: „Der Menschheit Würde ist in Eure Hand gegeben. Bewahret sie! Sie sinkt mit euch, mit euch wird sie sich heben.“

[60]   Eine Anspielung auf Schiller, Friedrich (1981): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. [Nachdr.]. Stuttgart: Reclam. Aber auch Kaiser Wilhelm II. hatte die tradierte Kunst in diesem Sinne in Anspruch genommen: „Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten.“

[61]   Wenn ich es recht sehe, zitiert hier Jatho Goethe nach Fontane. Letzterer schrieb 1853 in seinem Text „Was verstehen wir unter Realismus?“: Wohl ist das Motto des Realismus der Goethesche Zuruf: Greif nur hinein ins volle Menschenleben, Wo du es packst, da ist's interessant, aber freilich, die Hand, die diesen Griff tut, muss eine künstlerische sein.“ Bei Goethe heißt es in der Vorrede des Faust etwas anders: „Greift nur hinein ins volle Menschenleben! Ein jeder lebt's, nicht vielen ist's bekannt, und wo Ihr's packt, da ist's interessant.“

[62]   Hier wird deutlich, dass Jatho sich letztlich mit dem Gedanken der Autonomie der Kunst doch nicht anfreunden kann. Er bleibt vormodernen, klassischen Konzeptionen der Kunst als Beitrag zur sittlichen Vervollkommnung der Menschheit verbunden.

[63]   Goethe, Faust, Kapitel 28: „Mich faßt ein längst entwohnter Schauer, Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an“.

[64]   Vermutlich ein Zitat aus Eduard von Bauernfelds 1840 erschienenem „Der Selbstquäler: Charakter-Gemälde in drei Aufzügen und in Versen“: „Ein Tropfen Balsam heilt nicht die klaffenden Wunden der Zeit“

[65]   Friedrich Schiller, Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet.

[66]   Bei dem Biedermeier-Dichter Heinrich Leuthold heißt es in seinem Gedicht An Grillparzer: „Unterhaltung will von der leichtgeschürzten / Muse nur die Menge und Sinnenkitzel; / Doch für tiefen Ernst und gediegne Schönheit / Mangelt der Sinn ihr. / Wessen Geist aufsteigt zum Erhabnen, bleischwer / Zieht die Last der nüchternen Zeit zurück ihn; / Fast mit Spott begegnet die Welt dem ernsten, / Wirklichen Dichter.

[67]   „An die Musik“ Kunstlied von Franz Schubert.

[68]   Das ist vor dem Hintergrund, dass Jatho sich weigerte, den Gläubigen das Apostolikum zu vermitteln, hochinteressant. Hier ersetzt dann doch die Kunst den Glauben.

[69]   Einen Nachweis für dieses Gedicht habe ich nicht gefunden. Es soll sich aber um ein Zitat handeln. Bei Schiller gibt es die Formulierung „Der Schein soll nie die Wirklichkeit erreichen, Und siegt Natur, so muß die Kunst entweichen.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/95/cj1.htm
© Carl Jatho, 2015