Was ich noch zu sagen hätte ...

Das Blogsurrogatextrakt XI

Andreas Mertin

Chance / 02.04.2015

Zum zweiten Mal lese ich innerhalb von wenigen Tagen die Ansicht eines Protestanten, der Massenmord an den Bordinsassen des Germanwingsfluges von Barcelona nach Düsseldorf sei eine „Chance“ gewesen, die Kreuzestheologie zu verkündigen. Genauer: es wird beklagt, dass die EKD die Chance nicht genutzt habe, angesichts der Ereignisse die Kreuzestheologie zu verkündigen. Mich stören an dieser Ansicht zwei Dinge: Zum einen die Wortwahl. Das Wort Chance bezeichnet eine günstige Gelegenheit oder einen Glücksfall. Sofort wird einem die vollständige Unangemessenheit des Wortes „Chance“ deutlich. Weder ein Massenmord noch ein Flugzeugabsturz sind ein Glücksfall oder eine günstige Gelegenheit zu was auch immer. Das wäre durch und durch zynisch. Nicht einmal als trauriger Anlass sollten sie „dienen“. Jedes funktionalistische Denken im Sinne von Mission verbietet sich hier. Sonst landet man schlussendlich bei einem Denken des „Whatever is, is right“, der bedingungslosen Verklärung des Faktischen. Was immer ist und geschieht, wäre dann ein Anlass zur Mission. Das andere, was mich stört, ist die Theologie und das Bild von Christentum, das so kommuniziert wird. Sie erinnert mich in fataler Weise an manche Beerdigungspredigten, bei denen den Trauernden über den Verstorbenen gesagt wird, dieser könne – wenn auch nach einem gewissen Aufenthalt im Fegefeuer – schließlich in den Himmel kommen. Hier wird Sinn konstruiert, wo Sinnlosigkeit herrscht. Sinn zu konstruieren, wo allenfalls Angehörige in solchen Situationen von Sinn und Sinnlosigkeit sprechen können, ist pervers. Vielleicht sollte man, wie es ja auch die EKD gemacht hat, zunächst einmal mit den Angehörigen schweigen und trauern. Dass das Entsetzen über dieses Geschehen die eifrigen Missionare nicht zum Verstummen bringt, spricht mehr gegen sie, als sie denken.

Die dunkle Seite der Macht / 02.04.2015

Der Bergsteiger Reinhold Messner hat sein Unbehagen angesichts der Tatsache geäußert, dass auf Berggipfeln oftmals Kreuze platziert seien. Nun ist das Gipfelkreuzaufstellen eine kulturelle Tradition, die genau so plausibel ist wie der Wille von Menschen, unbedingt auf derartige Berge heraufkraxeln zu wollen. Ich vermute einmal, die Verhunzung der Berge durch Bergsteiger übertrifft die durch Gipfelkreuze um ein Vielfaches. Und Messner Ansicht, die Christen hätten –anders als Hindus – Berge nie verehrt, ist zwar zutreffend, besagt aber noch nicht, dass Berge für Christen keine Bedeutung hätten. Als ob Verehrung der rechte Umgang mit Bergen sei, ist doch Gott der Schöpfer des Himmels und der Erde. Aber wichtige Berge in der Geschichte der jüdisch-christlichen Überlieferung gibt es durchaus: positive wie negative. Jedem Christen fallen gleich mehrere bedeutungsvolle Berge ein. Psalm 89, 13 nennt den Hermon und Thabor als das Land beherrschende Berge, zentral natürlich der Sinai / Horeb, aber dann auch der Tempelberg; ebenso herausragend der Ararat, der Nebo, der Karmel, der Ebal und der Garizim. Und neutestamentlich selbstverständlich der Ölberg. Wenn man einmal damit anfängt, kommt man aus der Aufzählung biblisch bedeutsamer Berge kaum heraus. Nur die Anbetung der Berge und der Kultstätten auf den Bergen ist untersagt.

Aber Reinhold Messner hat natürlich ein verbrieftes Recht, derartige Ansichten zu äußern – auch und gerade im Gespräch mit einer christlichen Zeitschrift. Dieser Ansicht sind offenbar nicht alle protestantischen Funktionäre. Die evangelikale Nachrichtenseite idea meldet, der Vorsitzende des Ausschusses Weltmission und Ökumene in der bayerischen Landessynode, Fritz Schroth, habe große Probleme mit der Publikation der Ansichten von Messner in einer evangelischen Zeitschrift. Es mache ihn „ratlos“, so der Synodale, dass gerade das vornehmlich von der EKD finanzierte Magazin „chrismon“ „den seltsamen religionsvermischenden Gedanken Messners Raum gibt“.

Man kennt diese Sprache – es ist die Sprache der Macht, um nicht zu sagen: der dunklen Seite der Macht. Und diese Macht verkündet eine doppelte Botschaft: man soll so etwas nicht sagen – und man soll so etwas nicht publizieren. Beide Botschaften sind in sich böse. Man hätte ja auch einfach sagen können: ich bin anderer Ansicht – hätte das dann aber auch begründen müssen. Aber man droht dem einen damit, ihn nicht zu publizieren, wenn er weiter so etwas sagt, und dem anderen, ihn nicht weiter zu finanzieren, wenn er so etwas publiziert. Drohung mit der Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit nennt man so etwas wohl. Die religionsvermischenden Gedanken freilich, das sollte ein Alttestamentler Fritz Schroth einmal beibringen, sind in der alttestamentlichen Überlieferung näher, als er vermutlich denkt. Sie reichen immerhin bis in deuteronomische Textschichten.

Bier am Sonntag / 20.05.2015

Klaus Kelle, offenkundig ein Spezialist für unreflektierte Kommentare zum kirchlichen Zeitgeschehen (sein katholischer Blog heißt ausgerechnet Denken erwünscht), polemisiert gegen Überlegungen der westfälischen Präses, die Zeiten der Gottesdienste auf das in einer wissenschaftlichen Studie dokumentierte geänderte Freizeitverhalten der Menschen abzustimmen. Kelle hat dafür nur Verachtung übrig – nicht zuletzt weil er vom differenten Gottesdienstverständnis der evangelischen Kirche überhaupt keine Ahnung (mehr) hat und völlig unüberlegt sein (neugewonnenes) katholisches zugrunde legt. Kann man machen, macht nur nicht viel Sinn.

Kelle wendet zunächst gegen die Präses ein, wenn man sich am Verhalten der Menschen orientiere, werde die Wahl des Zeitpunktes nicht leichter. Denn wenn am Morgen das Ausschlafen störe, dann am Nachmittag der Fußball und am Abend der Tatort. Wann also ist der geeignete Zeitpunkt zum Gottesdienst? Das ist eben die Frage. Man müsste es ausprobieren. Kelle aber tut so, als ob der Gottesdienst am frühen Sonntagmorgen biblisch vorgegeben sei – das ist er nun gerade nicht. Jesus als „Fresser und Weinsäufer“ (laut Matthäus 11, 19 eine vox ipsissima des Herrn) dürfte kaum zu früher Stunde im Tempel gewesen sein.

Das Zweite, was Kelle gegen die Präses vorzubringen hat, ist, das man sich überhaupt nicht an den Bedürfnissen der Menschen orientieren dürfe. Sonst wollten diese noch Fußballübertragungen im Gottesdienst oder gar ein Bier auf dem Weg zum Gesangbuchständer. Wie schrecklich – ein Alptraum für einen neugläubigen Katholiken! Hinterher bringen die auch noch Katzen und Hunde mit zur Abendmahlsfeier und werfen ihnen vom Passah-Mahl die Knochen zu, wie hier auf einen Bild von Stefano d'Antonio di Vanni von 1434, der noch wusste, wie ein Mahl unter Freunden – und sei es zum Abschied – abzulaufen hat, wenn es auch sicher historisch nicht korrekt rekonstruiert ist:

Wäre eine derartige Abweichung vom theologisch Tradierten so schrecklich? Schauen wir doch mal nach. Im Amtsgebiet der westfälischen Präses liegt die schöne alte Stadt Soest. Dort gibt es die berühmte Wiesenkirche, genauer die Kirche St. Maria zur Wiese. 1313 erbaut, ist sie eine „formvollendete westfälische Hallenkirche“. Wer diese Kirche betritt, stößt notwendig auf ein Kirchenfenster über dem Nordportal mit einer Darstellung vom Letzten Mahl des Herrn. Es ist ein klassisches Abendmahl, das Jesus mit den zwölf Jüngern zeigt. Von Leonardos Neukomposition der Abendmahlsdarstellung hat der Künstler noch nichts mitbekommen, Judas wird noch immer frontal vor dem Tisch dargestellt. Der unbekannte Künstler hat nun einen für die damalige künstlerische Darstellung fast normalen Schritt gemacht: er hat das Abendmahl Jesu in die westfälische Heimat verlegt. Solche Inkulturationen sind uns aus der Kunstgeschichte nur allzu vertraut. Selten sehen Jesus und seine Jünger aus wie Juden des 1. Jahrhunderts nach Christus, in aller Regel kommt die Kunst den Menschen und ihren Wahrnehmungsgewohnheiten entgegen und verlagert das biblische Geschehen in einen Kontext, der der jeweiligen Zeitgeschichte besser entspricht. Dieses Entgegenkommen an den Betrachter und Kirchenbesucher liegt auch hier vor:

Aber der Künstler ist noch einen Schritt weiter gegangen: „Anstelle von ungesäuertem Brot und Wein gibt es die Spezialitäten der Soester Heimat. Auf dem Tisch steht links ein Schweinskopf (sic!), rechts ein Schinken. Der sechste Apostel von links hat einen Bierkrug mit Deckel in der Hand, am rechten Bildrand trinkt gerade ein Apostel aus einem Bierkrug. Neben dem Schinken stehen auch Schnapsgläser. Unter dem Tisch steht ein Korb mit westfälischem Brot, ganz rechts am Bildrand hat einer ein Stück Brot in der Hand.“ (Wikipedia)

Typisch, könnte Klaus Kelle nun sagen, wenn man einmal den Menschen in ihren Freizeitgewohnheiten entgegenkommt, dann ist einem nicht einmal mehr das Letzte Mahl des Herrn heilig. Das Problem ist nur, dass es sich hier keinesfalls um ein evangelisches, sondern um ein „katholisches“ Abendmahlsbild handelt, das um 1500, also vorreformatorisch, sicher nicht ohne Zustimmung des seit ewigen Zeiten gut katholischen Paderborner Bischofs dort eingebaut wurde. Man muss sich diesen ungeheuerlichen Vorgang einmal vorstellen: während die westfälische Präses nur überlegt, die Zeiten des Gottesdienstes zu variieren, um den Menschen entgegenzukommen, arbeitete die katholische Kirche um 1500 schon daran, das Abendmahl in Gestalt von Bier und westfälischem Brot zu reichen, denn auf dem ganzen Tisch des Herrn findet sich nicht einmal eine Andeutung von Rotwein! Und wie soll die Gemeinde die Eucharistie begreifen, wenn ihnen visuell eine ganz andere Form vor Augen geführt wird? Wenn wir diese sozusagen urkatholisch-westfälische Inkulturation ernstnehmen, dann bleiben für die eucharistische Feier nur reines westfälisches Bier und kräftiges westfälisches Brot. Beim protestantischen Abendmahl gibt es viele Variationen, vom Traubensaft bis zum Ökobrot. Aber Bier, Schnaps, Schweinskopf, Schinken und westfälisches Brot – das hat meines Wissens bisher noch keiner gewagt. Und das Jahrhunderte vor dem Zweiten Vatikanum, das für konservative Katholiken doch sonst für alle Übel in der Welt verantwortlich ist – wenn es nicht gerade die Protestanten sind. Da bin ich aber mal gespannt, wie Kelle aus dieser westfälischen Abweichung von Tradition und Lehre herauskommt. Man sollte eben nur polemisieren, wenn man nicht selbst Leichen im Keller hat. Aber wie schreibt Kelle so schön unlyrisch: „Der Anpassung nach unten sind heutzutage keine Grenzen mehr gesetzt …“ Das gilt wohl auch für seinen Kommentar. Wenn ich einen Tipp abgeben sollte: verantwortlich war für den damaligen Schlamassel wahrscheinlich entweder das ZDK oder der BKJ – wer sonst käme sonst für die unselige Anpassung an den regionalen Zeitgeist infrage. Es kann doch nicht der die katholische Lehre repräsentierende Bischof gewesen sein – oder etwa doch? Luther war‘s jedenfalls nicht.

Knie Beugen / 21.05.2015

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man mit den erzreaktionären katholischen Blogs einmal einer Meinung ist. Aber glücklicherweise kann das ja auch einfach nur Zufall sein. Worum geht es? Auf der Biennale in Venedig bestand der Beitrag des Landes Island darin, dass der für die Gestaltung des Beitrages berufene Schweizer Künstler Christoph Büchel in der ehemaligen katholischen Kirche Santa Maria della Misericordia eine Moschee errichtet hatte. Und er hatte nicht einfach in der Kirche den Schein einer Moschee entstehen lassen, sondern die muslimische Gemeinde von Venedig eingeladen, die ehemalige katholische Kirche als Moschee zu nutzen. Was diese auch sofort tatkräftig getan hat. Das heißt, die Reminiszenzen christlicher Kulturgeschichte wurden mit Koranversen verhängt, es wurde eine Gebetsnische eingerichtet und die frühere katholische Kirche, die aber kultisch nie aufgehoben war, wurde für den Kultus und Gebete genutzt. Wer das Gebäude betreten wollte, musste die Schuhe ausziehen und sich angemessen verhalten. Wer diese Geste verweigerte, durfte das Gebäude nicht betreten.

Das ist nun schon das zweite Mal, dass mir derartiges im Kunstbetrieb begegnet. Auf der Ausstellung Medium Religion gab es ebenfalls einen simulierten muslimischen Raum, der nur nach dem Ausziehen der Schuhe aufgesucht werden konnte. Als künstlerischen Brechungsgestus finde ich das ja eigentlich ganz lustig, als religiösen Unterwerfungsgestus im Kunstkontext unerträglich. Es spricht der künstlerischen Geschichte der Autonomiewerdung schlichtweg Hohn.

Am Vorgang in Venedig ist vieles höchst problematisch. Warum ein Land mit einer lutherischen Staatskirche einem Land mit eminent starker katholischer Tradition vorschreiben kann und will(!), in einem katholischen Kultusgebäude eine Moschee einzurichten, bleibt schlichtweg nicht nachvollziehbar. Man muss schon eine geradezu nihilistische Aggression gegen die katholische Religion verspüren, um das durchzuziehen. Wie man sich guten Gewissens auf die Kunstfreiheit meint berufen zu können, wenn man andererseits die Religionsfreiheit mit Füßen tritt, ist mir schleierhaft. Den Gestus insgesamt finde ich höchst pubertär und peinlich. Er dient weder der Entwicklung der Kunst, noch hilft er den Muslimen. Aber auch die Muslime in Venedig müssen sich fragen lassen, was sie wohl getrieben hat, sich auf dieses Spiel einzulassen. Nun muss ja wohl jedem noch so Blindem klar sein, wie rücksichtslos diese Gemeinde mit den religiösen Überzeugungen anderer umgeht. Das lässt sich auch nicht dadurch entkräften, dass die Stadt Venedig seit vielen Jahren den Muslimen eine eigene Moschee verweigert. Das ist eindeutig zu verurteilen, rechtfertigt aber nicht den jetzt eingeschlagenen Weg. Auch den Muslimen musste klar sein, dass der Katholizismus ein anderes Raumkonzept hat als der Islam, dass er m.a.W sakrale Räume kennt. Der Akt kann also nur als Usurpation, als bewusster Drohgestus verstanden werden. Ich glaube kaum, dass dies der interreligiösen Verständigung dient. Christoph Büchel kann sich jedenfalls auf sein Konto schreiben, einen kräftigen Beitrag zum Clash of Civilizations geleistet zu haben. Der Aufklärung und der Zivilisierung der Gesellschaft dient das alles sicher nicht – im Gegenteil, es ist höchst reaktionär. Christoph Büchel empfehle ich jedenfalls – in einem nur durch die Umstände zu rechtfertigenden reaktionären Gegengestus – sein Modell unter umgekehrten Vorzeichen einmal in Saudi-Arabien auszuprobieren. Anders als in Italien – wo es selbstverständlich Moscheen gibt – sind Kirchen nämlich in Saudi-Arabien grundsätzlich verboten. Das wäre doch eine Herausforderung. Aber wenn es ihm nicht um das Christentum geht – wie wäre es mit einer Synagoge? Einem buddhistischen oder wenigstem einem Hindu-Tempel in Saudi-Arabien? So aber kommt Büchel das merkwürdige Verdienst zu, im Namen eines Landes mit einer lutherischen Staatsreligion einer Religion zu ihrem scheinbaren Recht verholfen zu haben, die dort, wo sie selbst Staatsreligion ist, dies den anderen Religionen versagt.

Wie gesagt, es ist schon ein komisches Gefühl, wenn man mit reaktionären katholischen Seiten mal übereinstimmt. Aber das kann man sich nicht immer aussuchen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/95/am504.htm
© Andreas Mertin, 2015