Meine Kirche mal anders?

Kirche und Internet - Diagnosen und Therapien im Vergleich

Andreas Mertin

Vor knapp 20 Jahren habe ich gemeinsam mit Jörg Herrmann einen Text verfasst, in dem wir die sich abzeichnenden Kommunikationsformen im Internet beschrieben haben und mögliche Konsequenzen für die kirchliche Praxis vorschlugen (Mertin/Herrmann [1996]: Im Wettstreit mit Gott. Das Internet als Impuls für die Theologie. In: Evangelische Kommentare 29, S. 481-484). Die Diagnose lautete:

Die religiösen Diskussionen im Internet entstehen ..., weil die Menschen zur institutionalisierten Religion auf Distanz gegangen sind, weil sie nicht mehr möchten, dass die Kirche ihnen als Missionarin und Alleinvertreterin von Religion entgegentritt. Die mit dem Internet entwickelte Religiosität hat ihre Spitze gerade darin, dass sie sich an die von der Kirche verbreitete Etikette nicht halten will, sondern die Beteiligten selbst als Produzenten von Theologie auftreten.

Seinerzeit gab es eine schier unüberschaubare Fülle von Plattformen, die es genossen, einmal nicht reglementiert alle möglichen Fragen zu erörtern – gerade auch im Bereich der Religion. Viele dieser Diskussionsforen sind inzwischen im digitalen Hades gelandet und allenfalls auf dem Friedhof der Internetkultur – genannt Wayback-Machine – als Zombies zum Sprechen zu bringen.

Aber der Sache nach stimmte die damalige Diagnose: die Menschen wollen über Religion sprechen, sie wollen über Gott und die Welt sprechen und sie wollen das jenseits jener Diskursformen tun, die wir Theologie oder Dogmatik nennen. Unser seinerzeitiger Therapievorschlag war interessanter Weise, nicht die Netzkultur zu therapieren (sprich in kirchliche Bahnen zu lenken), sondern sich selbst als therapiebedürftig zu begreifen und deshalb den Menschen im Netz zuzuhören, wie sie über Religion reden:

Genau aus diesem Grunde ist es wiederum für die Kirche wichtig, sich mit den Entwicklungen des Internet zu beschäftigen, nicht um Einfluss auszuüben oder ein Marktsegment zu besetzen, sondern um teilzunehmen am Kommunikationsgeschehen einer Vergemeinschaftungsform, die die Kirche von jeher propagiert hat und die im Internet ganz unabhängig von kirchlichen Interessen realisiert wird.

Wenn heute, knapp 20 Jahre später in kirchlichen Papieren immer noch dasselbe oder wenigstens doch Ähnliches gefordert wird, muss irgendetwas gewaltig schief gelaufen sein. Entweder hat die Kirche unsere damaligen Einwände schlicht nicht wahrgenommen oder unsere Therapievorschläge waren falsch. Das Erstere glaube ich nicht. Die Evangelische Kirche hat Millionen in die Internetkultur gesteckt, Suchmaschinen kirchlicher Prägung entwickeln lassen, nach deren Untergang dann kirchlich inspirierte Plattformen aufgesetzt, Twitterwettbewerbe ausgeschrieben und darüber hinaus so ziemlich jeden Unsinn veranstaltet, den man im Netz nur machen kann. Geholfen hat es offenkundig nicht. Auch das qualitativ herausgehobene Angebot, wie etwa die Internetseelsorge, dümpelt eher vor sich hin.

Vielleicht ist aber gar nicht die Diagnose falsch, sondern die Therapie. Vielleicht geht es gar nicht darum, die religiöse Kommunikation im Netz als Konkurrenz oder Alternative zu begreifen, der begegnet werden muss, vielleicht handelt es sich um eine Art religiöse Körperextension, eine kommunikative Erweiterung unseres religiösen Sensoriums, das auch und gerade neben der Kirche funktioniert und trotzdem in einem gewissen Sinne auf diese bezogen bleibt. Wieso kommen wir überhaupt auf die Idee, wir müssten als religiöse Institution im Internet präsent sein und uns an der Kommunikation mit den sich als religiös outenden Wesen beteiligen?

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Ich mache einmal einen kleinen Exkurs in einen anderen Bereich unserer Lebenswelt und benutze zugleich die Massenmedien als Spiegel, um unserer Frage näher zu kommen. Die Episode 20 in der Staffel 4 der Ärzteserie Scrubs trägt den Titel Mein Chef mal anders. Und eines der immer parallel ablaufenden Themenfelder handelt von Dr. Kelso, dem Chef der Klinik, der in einen Streit mit seinem Oberarzt Dr. Cox gerät, ob er nach den vielen Jahren in der Leitung des Krankenhauses überhaupt noch weiß, was Patienten so umtreibt und worüber sie kommunizieren. Der Chefarzt meint nun, dass heute immer noch die gleichen Regeln und Verkehrsformen gelten, wie zu seiner Zeit als Stationsarzt und um das zu beweisen, kehrt er in den praktischen medizinischen Dienst zurück. Und er gerät dabei an eine übergewichtige Patientin, die ihn als Arzt für zu alt hält und meint, sich durch das Internet genauso gut selbst behandeln zu können. Und natürlich ist es ein Running Gag dieser Sequenz, dass, wann immer Dr. Kelso etwas zu bemerken hat, die Patientin mit dem Smartphone in der Hand die sozialen Netzwerke nach einer Antwort abgrast. Die Schwarmintelligenz ist schließlich schlauer als ein Chefarzt – oder nicht? Dr. Kelso muss erkennen, dass in Zeiten des Internets das Ansehen der Ärzte stark geschrumpft ist. Heute, so fasst es eine Serienbeschreibung zusammen „gelten sie nur noch als wandelnde, Rezepte ausschreibende Kunstfehlerprozesse, die weniger Ahnung haben als das Internet.“ Schnitt.

Das Problem kennen wir aus unserer eigenen Lebenswelt. Wenn wir gesundheitliche Probleme haben, googlen wir schnell mal die Symptome (und fühlen uns danach kränker als vorher – oder doch konkreter krank). Wenn wir vom Arzt zurückkommen, googlen wir, ob das denn stimmen kann, was er da diagnostiziert hat und ob es nicht noch alternative Behandlungsmöglichkeiten gibt. Das Phänomen ist so verbreitet, dass Scrubs nicht die einzige Arztserie ist, die dem eine Folge gewidmet hat. Aber, in aller Regel gehen wir dennoch zum Arzt. Und die Ärzteschaft ist bisher nur in geringem Umfang dazu übergegangen, eigene Plattformen und Diagnosezentren im Netz aufzubauen. Eher versuchen Pharmafirmen auf diese Weise, ihre Kunden an die eigene Marke zu binden. Schnitt.

In der konkreten Folge von Scrubs rät der Oberarzt Dr. Cox seinem Chef Dr. Kelso schließlich, Klartext mit seiner Patientin zu reden, sonst hätte er keine Chance zu ihr durchzudringen. Stell Deine Kompetenz heraus, lass Dich durch das Internet nicht in Frage stellen, Du verkörperst die bewährten Methoden und Du musst sie klar kommunizieren – so könnte man die Botschaft der Sendung zusammenfassen. Ende des Exkurses.

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Was besagt dieser Exkurs für unser Thema?

Wir können der Entwicklung der Technik nicht hinterherhecheln, als wenn das Heil von ihr abhinge. Sonst wird in 20 Jahren der gleiche Text mit neuerer Technik noch einmal publiziert – und in 40, 60, 80 oder 100 Jahren wieder.

Ja, hören müssen wir auf das, was an Religion sich im Netz artikuliert – ebenso wie auf das, was an Religion sich in der in dieser Frage höchst vitalen realen Lebenswelt jenseits der digitalen Datenströme artikuliert. Aber wir sollten die Leute ihre religiösen Diskussionen, so sie denn ein Bedürfnis danach haben, im Netz selber führen lassen.

Schreiben wir im Internet auf den Seiten der Kirchen gute, allgemein nachvollziehbare Darstellungen dessen, was wir für Religion und gute Theologie halten. Wenn wir Gutes schreiben, werden die Menschen sich in ihren Diskussionen darauf beziehen. Einzelne Artikel dieser Zeitschrift tauchen hundertfach in den wilden Debatten des Netzes auf, sie werden in der Wikipedia verlinkt und wuchern von dort in die subkutanen Diskurse zurück. Wenn sie das nicht tun, sind sie eben nicht wirkungsmächtig und vielleicht nur für einen begrenzten Kreis von Spezialisten wichtig.

Im Internet lernt man, dass es eine religiöse Frage gibt, dass es verschiedene Antworten auf diese Frage gibt und man lernt auch, dass es – wie die Ärzte für gesundheitliche Fragen – eine Institutionenform gibt, die sich seit 2000 Jahren mit religiösen Fragen beschäftigt.

Ob man die dann aufsucht, hängt davon ab, ob man zu Institutionen Vertrauen entwickeln kann. Ich kenne Menschen, die alles tun würden, nur nicht zum Arzt oder ins Krankenhaus gehen. Und ich kenne viel mehr Menschen, die vernünftig sind. Und auch in religiösen Fragen vertraue ich in aller Regel auf die Vernunft der Menschen. Sie sind doch eigentlich ziemlich pragmatisch. Mit Niels Bohr meinen sie: Man muss ja nicht an alles glauben, Hauptsache es hilft. Und erst wenn sie das Gefühl haben, ihnen wird nicht mehr geholfen, dann wenden sie sich ab.

Als ich mit Jörg Herrmann vor knapp 20 Jahren den ersten Text zum Thema schrieb, war ich noch voller Enthusiasmus darüber, was dieses Netz würde einmal leisten können. Wir hatten damals Hartmut Böhmes faszinierende Darstellung vom Internet als technischer Form Gottes gelesen und dachten (wie viele andere später auch), da müsste auch etwas für uns als Theologen drin sein.

Dieses Magazin zum Beispiel ist ein Ergebnis unserer damaligen Debatten. Nicht mehr die alten, von der EKD gesponserten und sich an deren Rahmensetzungen haltenden Publikationsformen wollten wir pflegen und vorantreiben, sondern eine netzbasierte, offene, widerständige, sozusagen religiös libertäre Kommunikation. Ob wir es noch einmal machen würden, wenn wir wüssten, wie viel unserer Lebensenergie dieses Projekt gefressen hat und weiter frisst? Ich weiß es nicht, die Frage stellt sich Gott sei Dank nicht.

Heute, nach den Enthüllungen über die NSA als neuer Form der gesellschaftlichen Inquisition, ist man vielleicht ernüchterter, man glaubt nicht mehr an den schrankenlosen Fortschritt im Netz, dass nun alle Menschen dieser Erde religiös produktiv miteinander kommunizieren.

Auf der anderen Seite ist mein Enthusiasmus ungebrochen zum Beispiel im Blick auf die Zugänglichkeit kultureller Artefakte. Kaum ein Tag vergeht, an dem ich mir nicht irgendein Kunstwerk hochauflösend im Netz anschaue, einen bedeutenden Text eines Zeitgenossen lese oder schnell mal auf das Wissen der Welt (und sei es in Gestalt von digitalisierten Büchern des 18. Jahrhunderts) zugreife. Auch das ist gelebte Religion – protestantische Existenz heute.

Ich gehe immer noch lieber ins Museum oder in die Ausstellung, lese immer noch lieber Bücher der Gutenberggalaxis und diskutiere lieber mit Freunden über Gott und die Welt. Aber das eine schließt das andere nicht aus.

Theologisch/kirchlich wünschte ich mir, es gäbe viel mehr Blogs wie das des katholischen Kollegen und Neutestamentlers Gerd Häfner mit dem Titel LECTIO BREVIOR (www.lectiobrevior.de/) – theologische und religiöse Aufklärung pur. Das ist wirklich Kirche mal anders, ohne dass eine Institution bzw. eine Kirche das in Regie genommen hätte.

Wenn also 72 Theologinnen und Theologen unterschiedlicher Fachbereiche (und bitte nicht: 72 prominente Protestantinnen und Protestanten) künftig ihre Sicht und Deutung der Welt in religiöser Perspektive in Blogs oder Magazinen niederlegen würden, könnte daraus eine schöne und lesenswerte digitale Septuaginta werden.

Das wäre dann konkret: Meine Kirche mal anders!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/94/am494.htm
© Andreas Mertin, 2015