Über die moderne Kunst

Paul Klee

Wenn ich in der Nähe meiner Arbeiten, die eigentlich ihre selbständige Sprache reden sollten, nun das Wort ergreife, so wird mir zunächst ein wenig bang, ob auch ausreichende Gründe beisammen sind, und ob ich es auch in der rechten Art tun werde.

Denn: sosehr ich mich als Maler im Besitze meiner Mittel fühle, andere dahin in Bewegung zu setzen, wohin es mich selber treibt, mit derselben Sicherheit durch das Wort solche Wege zu weisen, das fühle ich mir nicht gegeben.

Aber ich beruhige mich damit, daß meine Rede nicht als solche isoliert sich an Sie wendet, sondern daß sie nur ergänzend den von meinen Bildern her empfangenen Eindrücken das vielleicht noch mangelnde bestimmte Gepräge zu geben hat.

Wenn mir das bei Ihnen einigermaßen gelingen sollte, so will ich froh sein und den Sinn meiner Aufgabe, vor Ihnen zu sprechen, für gegeben erachten.

Um dem Odium des Wortes »bilde Künstler, rede nicht«, des weiteren auszuweichen, möchte ich von mir aus hauptsächlich diejenigen Teile des schöpferischen Vorganges zur Betrachtung heranziehen, welche sich während des Formens einer Arbeit mehr im Unterbewußtsein vollziehen. Das wäre mir ganz subjektiv die eigentliche Rechtfertigung des Redens eines Bildners: den Schwerpunkt durch die Betrachtung mit neuen Mitteln zu verlegen. Die bewußterweise überlastete formale Seite durch die neue Art der Anschauung etwas zu entlasten. Mehr Nachdruck nach der inhaltlichen Seite hin auszuüben.

Solch ein Ausgleich würde mich reizen und vermöchte mir eine wortbegriffliche Auseinandersetzung sehr nahe zu bringen. Dabei dächte ich aber zu sehr an mich selber und vergäße, daß die meisten unter Ihnen gerade auf der inhaltlichen Seite heimischer sind als auf der formalen. Und so werde ich nicht umhin können, Ihnen auch von diesen formalen Dingen einiges zu sagen.

Ich verhelfe Ihnen zu einem Blick in die Malerwerkstatt, und im übrigen werden wir uns dann schon verständigen können.

Irgendein gemeinsames Gebiet muß es zwischen Laien und Künstlern doch geben, auf dem ein gegenseitiges Entgegenkommen möglich ist, und von wo aus Ihnen der Künstler gar nicht mehr als abseitige Angelegenheit zu erscheinen braucht. Sondern als ein Wesen, das wie Sie ungefragt in eine vielgestaltige Welt gesetzt wurde, und das wie Sie sich wohl oder übel darin zurechtfinden muß.

Das sich von Ihnen nur darin unterscheidet, daß es mit seinen spezifischen Mitteln sich aus der Affäre zieht und damit manchmal vielleicht glücklicher ist als der Unschöpferische, zu keiner erlösenden realen Gestaltung Gelangende.

Diesen relativen Vorteil müssen Sie dem Künstler schon gerne zugestehn, weil er es in anderer Hinsicht wieder schwer genug hat.

Lassen Sie mich ein Gleichnis gebrauchen, das Gleichnis vom Baum. Der Künstler hat sich mit dieser vielgestaltigen Welt befaßt, und er hat sich, so wollen wir annehmen, in ihr einigermaßen zurechtgefunden; in aller Stille. Er ist so gut orientiert, daß er die Flucht der Erscheinungen und der Erfahrungen zu ordnen vermag. Die Orientierung in den Dingen der Natur und des Lebens, diese vielverästelte und verzweigte Ordnung möchte ich dem Wurzelwerk des Baumes vergleichen.

Von daher strömen dem Künstler die Säfte zu, um durch ihn und durch sein Auge hindurchzugehn.

So steht er an der Stelle des Stammes. Bedrängt und bewegt von der Macht jenes Strömens, leitet er Erschautes weiter ins Werk.

Wie die Baumkrone sich zeitlich und räumlich nach allen Seiten hin sichtbar entfaltet, so geht es auch mit dem Werk.

Es wird niemand einfallen, vom Baum zu verlangen, daß er die Krone genau so bilde wie die Wurzel. Jeder wird verstehn, daß kein exaktes Spiegelverhältnis zwischen unten und oben sein kann. Es ist klar, daß die verschiedenen Funktionen in verschiedenen Elementarbereichen lebhafte Abweichungen zeitigen müssen. Aber gerade dem Künstler will man zuweilen diese schon bildnerisch notwendigen Abweichungen von den Vorbildern verwehren. Man ging sogar im Eifer so weit, ihn der Ohnmacht und der absichtlichen Fälschung zu zeihn.

Und er tut an der ihm zugewiesenen Stelle beim Stamme doch gar nichts anderes, als aus der Tiefe Kommendes zu sammeln und weiterzuleiten. Weder dienen noch herrschen, nur vermitteln.

Er nimmt also eine wahrhaft bescheidene Position ein. Und die Schönheit der Krone ist nicht er selber, sie ist nur durch ihn gegangen.

Bevor ich mit der Klärung der Gebiete beginne, die ich mit Krone und Wurzel verglich, muß ich wieder einiges Bedenken vorausschicken.

Es ist nicht leicht, sich in einem Ganzen zurechtzufinden, das sich aus Gliedern zusammensetzt, welche verschiedenen Dimensionen angehören. Und solch ein Ganzes ist sowohl die Natur als auch ihr umgeformtes Abbild, die Kunst.

Es ist schwer, ein solches Ganzes, sei es Natur oder Kunst, zu übersehen, und noch schwerer ist es, einem andern zum Überblick zu verhelfen.

Das liegt an den alleingegebenen zeitlich-getrennten Methoden, ein räumliches Gebilde so zu verhandeln, daß eine plastisch-klare Vorstellung sich einstellt. Das liegt an der Mangelhaftigkeit des Zeitlichen in der Sprache.

Denn es fehlt uns hier an den Mitteln, eine mehrdimensionale Gleichzeitigkeit synthetisch zu diskutieren.

Wir müssen trotz aller Mangelhaftigkeit uns eingehend mit den Teilen befassen.

Aber bei jedem Teil sollen wir, so mancherlei es auch da schon zu erwägen gibt, uns der Teilhandlung als solcher bewußt bleiben, um nicht bange zu werden, wenn dann neue Teilhandlungen nach einer ganz andern Richtung, in andere Dimensionen, in ein Abseits führen, wo die Erinnerung an vorher behandelte Dimensionen leicht verblassen kann.

Zu jeder zeitlich verrinnenden Dimension sollen wir sagen: »Du wirst jetzt Vergangenheit«; aber vielleicht stoßen wir auf der neuen Dimension dereinst auf eine kritische, vielleicht glückliche Stelle, die deine Gegenwart wiederherstellt.

Und wenn es uns bei mehr und mehr Dimensionen immer schwerer fallen mag, uns die verschiedenen Teile dieses Gefüges gleichzeitig zu vergegenwärtigen, so heißt es, sehr viel Geduld zu haben.

Was den sogenannten räumlichen Künsten längst gelang, was auch die zeitliche Kunst der Musik mit klingender Prägnanz in der Polyphonie schuf, dieses simultane mehrdimensionale Phänomen, das dem Drama zu seinen Höhepunkten verhilft, kennen wir auf dem wörtlich-didaktischen Gebiet leider nicht.

Der Kontakt der Dimensionen muß hier außerhalb eintreten; nachträglich.

Und vielleicht kann ich mich doch so weit verständlich machen, daß das Phänomen des mehrdimensionalen Kontaktes dann an dem einen oder andern Werke leichter und eher erlebt werden kann.

Als bescheidener Mittler, der sich mit der Krone nicht identifiziert, darf ich Ihnen wohl ein reich ausstrahlendes Licht in Aussicht stellen.

Nun zur Sache, zu den Dimensionen des Bildes.

Vorhin sprach ich vom Verhältnis der Krone zur Wurzel, von Werk zu Natur, und erklärte den Unterschied mit den zweierlei Bereichen der Erde und der Luft, und mit den entsprechenden unterschiedlichen Funktionen der Tiefe und der Höhe.

Beim Kunstwerk, das der Krone verglichen wurde, handelt es sich um die deformatorische Notwendigkeit durch den Eintritt in die spezifischen Dimensionen des Bildnerischen. Denn dahin erstreckt sich die Wiedergeburt der Natur.

Welches sind also diese spezifischen Dimensionen?

Da gibt es zunächst mehr oder weniger begrenzte formale Dinge, wie Linie, Helldunkeltöne und Farbe.

Am meisten begrenzt ist die Linie, als eine Angelegenheit des Maßes allein. Es handelt sich bei ihrem Gebaren um längere oder kürzere Strecken, um stumpfere oder spitzere Winkel, um Radienlängen, um Brennpunktdistanzen. Immer wieder um Meßbares!

Das Maß ist das Kennzeichen dieses Elementes, und wo die Meßbarkeit fraglich wird, ist man mit der Linie nicht in absolut reiner Weise umgegangen.

Etwas anderer Natur sind die Tonalitäten, oder wie man sie auch nennt: die Helldunkeltöne, die vielen Abstufungen zwischen Schwarz und Weiß. Bei diesem zweiten Element handelt es sich um Gewichtsfragen. Der eine Grad ist dichter oder lockerer an weißer Energie, ein anderer Grad ist mehr oder weniger schwarzbeschwert. Die Grade sind unter sich wägbar. Außerdem sind es die schwarzen in bezug auf eine weiße Norm (auf weißem Grund), die weißen in bezug auf eine schwarze Norm (auf der Wandtafel) oder beide zusammen in bezug auf eine mittlere graue Norm.

Drittens die Farben, welche offenbar wieder andere Charakteristika aufweisen. Denn man kommt ihnen weder mit Messen noch mit Wägen ganz bei: Da, wo mit Maßstab und mit Waage keine Unterschiede mehr festzustellen sind, z. B. von einer rein gelben zu einer rein roten Fläche von gleicher Ausdehnung und gleichem Helligkeitswert, bleibt immer noch die eine wesentliche Verschiedenheit bestehen, die wir mit den Worten gelb und rot bezeichnen.

So wie man Salz und Zucker vergleichen kann bis auf ihr Salziges und ihr Süßes. Ich möchte daher die Farben Qualitäten nennen.

Wir haben demnach formale Mittel des Maßes, des Gewichtes und der Qualität, die trotz grundsätzlicher Verschiedenheit gewisse Beziehungen zueinander unterhalten.

Die Art ihrer Zusammengehörigkeit geht aus der folgenden kurzen Untersuchung hervor.

Die Farbe ist erstens Qualität. Zweitens ist sie Gewicht, denn sie hat nicht nur einen Farbwert, sondern auch einen Helligkeitswert. Drittens ist sie auch noch Maß, denn sie hat außer den vorigen Werten noch ihre Grenzen, ihren Umfang, ihre Ausdehnung, ihr Meßbares.

Das Helldunkel ist erstens Gewicht, und in seiner Ausdehnung bzw. Begrenzung ist es zweitens Maß.

Die Linie aber ist nur Maß.

So haben wir nach drei Richtlinien beurteilt, die sich auf dem Gebiet der rein kultivierten Farbe alle schneiden, von denen sich im reinen Helldunkel nur noch zwei schneiden und von denen auf das Gebiet der reinen Linie nur noch eine sich erstreckt.

Die drei Richtlinien bezeichnen je nach ihrer Beteiligung: drei sozusagen ineinander verschachtelte Gebiete. Die größte Schachtel enthält drei Richtlinien, die mittlere zwei und die kleinste nur eine. (Von hier aus ist vielleicht das Wort Liebermanns, daß Zeichnen die Kunst des Weglassens sei, am besten zu verstehen.) Es ist ein sehr eigenes Sichineinanderfügen feststellbar, und in diesem Sinne ist es nur logisch, dieselbe Sauberkeit im Umgang mit diesen formalen Mitteln zu wahren. Die Kombinationsmöglichkeiten sind ja reich genug.

Mit Trübungen wäre also nur nach besonderem inneren Bedarf zu operieren, aus dem heraus man die Anwendung von farbigen Linien oder von sehr blassen Linien verstehen könnte, ebenso wie die Anwendung weiterer Trübungen, wie leicht vom Gelblichen ins Bläuliche schillernde Graustufungen.

Das Ordnungssymbol vom Wesen der reinen Linie ist der lineare Maßstab mit seinen verschiedensten Längen.

Das Symbol vom Wesen des reinen Helldunkel ist die Gewichtsskala mit ihren verschiedenen Stufen zwischen Weiß und Schwarz.

Welche Ordnung ist nun dem Wesen der reinen Farbe eigen? In welcher Ordnung drückt sich ihr Wesen am besten aus?

In der durchkonstruierten Kreisfläche, welche Form am besten fähig ist, über die gegenseitigen Beziehungen der Farben Wesentliches auszusagen.

Sein klares Zentrum, die Einteilungsfähigkeit seiner Peripherie in sechs Radienlängen, das Bild der drei durch diese sechs Schnittpunkte gelegten Durchmesser: damit sind die besonderen Örtlichkeiten auf dem Schauplatz der farbigen Beziehungen gegeben.

Diese Beziehungen sind erstens diametrale, und so, wie es hier drei Diameter gibt, sind auch an diametralen Beziehungen hauptsächlich drei zu erwähnen, welche heißen:

Rot Grün    Gelb Violett    und   Blau Orange (oder die wichtigsten komplementären Farbpaare).

Der Peripherie entlang wechselt je eine Haupt- oder Primärfarbe mit einer der wichtigsten Misch- oder Sekundärfarben ab, wobei diese Mischfarben (drei an der Zahl) zwischen ihre zugehörigen Komponenten oder Hauptfarben zu liegen kommen; Grün zwischen Gelb und Blau, Violett zwischen Rot und Blau und Orange zwischen Gelb und Rot.

Die mit den Durchmessern verbundenen komplementären Paare zerstören sich farbig, wenn sie sich nach der diametralen Richtung zu Grau mischen. Daß das für alle drei gilt, besagt der allen drei Durchmessern gemeinsame Schnittpunkt und Halbierungspunkt, das graue Zentrum des Farbkreises.

Dann kann durch die Punkte der drei Hauptfarben Gelb, Rot und Blau ein Dreieck gelegt werden, dessen Spitzen diese Hauptfarben selber sind, dessen Seiten aber die Mischung aus den zwei an den Spitzen liegenden Hauptfarben vorstellen, so daß auf diesem Dreieck dem roten Punkt die grüne Seite gegenüberliegt, dem gelben Punkt die violette und dem blauen Punkt die orange Seite.

Es gibt demnach: drei Hauptfarben und drei hauptsächliche Nebenfarben, oder sechs hauptsächliche Nachbarfarben, oder dreimal zwei verwandte Farben (Farbpaare).

Dieses elementar-formale Gebiet verlassend, komme ich nun zu den ersten Konstruktionen mit den eben aufgezählten Elementen dreier Kategorien. Hier liegt der Schwerpunkt unseres bewußten Schaffens.

Hier verdichtet sich unser professionelles Tun.

Hier ist es kritisch.

Von hier aus ist bei vorhandener Beherrschung dieser Mittel die Gewähr gegeben, die Dinge so tragfähig zu gestalten, daß sie auch in weitere, dem bewußten Umgang entlegenere Dimensionen zu reichen vermögen.

Die gleiche kritische Bedeutung kommt diesem Gestaltungsstadium im negativen Sinne zu: hier ist auch der Ort, die größten und gewichtigsten Inhalte nicht zu erreichen und trotz schönster seelischer Beanlagung nach dorthin zu scheitern. Weil es eben an der Orientierung auf der formalen Ebene fehlt. -

Soweit ich nun nach meiner eigenen Erfahrung zu sagen vermag, kommt es einer gelegentlichen Disposition des Schaffenden zu, anzuregen, welche von den vielen Elementen aus ihrer allgemeinen Ordnung, aus ihrer wohlbestallten Lagerung heraustreten sollen, um sich miteinander zu einer neuen Ordnung zu erheben. Um miteinander ein Gebilde zu konstruieren, welches man Gestalt oder Gegenstand zu nennen pflegt.

Diese Wahl der formalen Elemente und die Art ihrer gegenseitigen Bindung ist, in ein knappes Ausmaß begrenzt, der analoge Fall zum musikalischen Gedanken zwischen Motiv und Thema.

Wenn ein solches Gebilde sich vor unsern Augen nach und nach erweitert, so tritt leicht eine Assoziation hinzu, welche die Rolle des Versuchers zu einer gegenständlichen Deutung spielt. Denn jedes Gebilde von höherer Gliederung ist geeignet, mit einiger Phantasie zu bekannten Gebilden der Natur in ein Vergleichs-Verhältnis gebracht zu werden.

Die assoziativen Eigenschaften dieses Baues, der, einmal gedeutet und benannt, schon nicht mehr ganz dem direkten Willen des Künstlers entspricht (jedenfalls nicht mehr der intensivsten Stelle dieses Wollens), diese assoziativen Eigenschaften sind der Ursprung zu leidenschaftlichen Mißverständnissen zwischen Künstler-und Laientum geworden.

Während der Künstler noch ganz Bestreben ist, die formalen Elemente so rein und so logisch zueinander zu gruppieren, daß jedes an seinem Platze notwendig ist und keines dem andern Abbruch tut, spricht irgendein Laie, von hinten zuschauend, schon die verheerenden Worte: »Der Onkel ist aber noch sehr unähnlich!« Der Maler denkt sich, wenn er disziplinierte Nerven hat: »Onkel hin, Onkel her! ich muß nun weiterbauen ... Dieser neue Baustein«, sagt er sich, »ist zunächst wohl etwas schwer und zieht mir die Geschichte zu sehr nach links; ich werde rechts ein nicht unbedeutendes Gegengewicht anbringen müssen, um das Gleichgewicht herzustellen.«

Und er setzt hüben und drüben abwechselnd so lange etwas hinzu, bis die Waage nach oben züngelt.

Und ist dabei heilfroh, wenn er die rein begonnene Konstruktion einiger guter Elemente nur so weit zu erschüttern brauchte, als Widersprüche als Kontraste in ein lebensvolles Gebilde einmal hineingehören.

Aber: früher oder später kann sich bei ihm auch ohne die Zwischenbemerkung eines Laien jene Assoziation einstellen, und nichts hindert ihn dann mehr, sie zu akzeptieren, wenn sie sich unter einem sehr zutreffenden Namen vorstellt.

Dies gegenständliche Jawort bringt dann etwa noch die Anregung zu dieser oder jener Zutat, die zum einmal formulierten Gegenstand in zwangsläufiger Beziehung steht. Zu gegenständlichen Attributen, die, wenn der Künstler Glück hat, sich gerade an einer formal noch leicht bedürftigen Stelle anbringen lassen, als ob sie von jeher dahin gehört hätten.

Der Streit dreht sich demnach weniger um die Frage der Existenz des Gegenstandes als um das jeweilige Aussehen dieses Gegenstandes, um seine Art.

Ich will hoffen, daß der Laie, welcher in Bildern nach einem von ihm besonders geliebten Gegenstand Jagd macht, im Bereich meiner Umgebung allmählich ausstirbt und mir von nun an höchstens als ein Gespenst begegnet, das nichts dafür kann. Denn man kennt doch nur seine eigenen gegenständlichen Passionen. Und man freut sich zugestandenermaßen unter Umständen sehr, wenn wie von selber im Gebilde ein uns vertrautes Gesicht auftaucht.

Die gegenständlichen Bilder blicken uns an, heiter oder streng, mehr oder weniger gespannt, trostreich oder furchtbar, leidend oder lächelnd.

In allen Gegensätzen auf der psychisch-physiognomischen Dimension blicken sie uns an, die sich bis auf die Tragik und die Komik erstrecken können.

Aber damit hört es noch lange nicht auf!

Die Gestalten, wie ich diese gegenständlichen Gebilde nun des öftern bezeichnete, haben auch noch ihre bestimmte Haltung, welche aus der Art resultiert, wie man die ausgehobenen Elementargruppen in Bewegung setzt.

Ist eine ruhige und in sich gefestigte Haltung erreicht worden, dann war die Konstruktion bestrebt, entweder gar keinen Aufbau, sondern nur Lagerungen auf breiten Horizontalen zu gestalten, oder bei höherem Aufbau die Vertikale sichtlich und durchgehend zu berücksichtigen.

Diese feste Haltung kann sich, ihre Ruhe bewahrend, auch etwas lockerer gebärden.

Das ganze Gebaren kann in ein Zwischenreich wie Wasser oder Atmosphäre verlegt werden, wo keine Vertikale mehr vorherrscht (wie beim Schwimmen oder beim Schweben).

Zwischenreich sage ich im Gegensatz zur ersten ganz irdischen Haltung.

Im folgenden Falle tritt eine neue Haltung auf, deren Gebärde äußerst bewegt ist und die Haltung aus sich herauszutreten veranlaßt.

Warum nicht?

Ich habe die Berechtigung des gegenständlichen Begriffes im Bilde zugegeben und damit eine neue Dimension erhalten. Ich habe die formalen Elemente einzeln und in ihrem eigenartigen Zusammenhang genannt.

Ich habe ihr Heraustreten aus dieser Lagerung klarzumachen versucht.

Ich versuchte klarzumachen: ihr Antreten als Gruppen und ihr zunächst begrenztes, dann ein wenig erweitertes Zusammenwirken zu Gebilden.

Zu Gebilden, die abstrakt Konstruktionen heißen mögen, konkret je nach der Richtung der herangelockten vergleichenden Assoziation Namen wie Stern, Vase, Pflanze, Tier, Kopf oder Mensch annehmen mögen.

Das entsprach einmal den Dimensionen der bildnerischen Elementarmittel, wie Linie, Helldunkel und Farbe. Und dann entsprach das erste konstruktive Zusammenwirken solcher Mittel der Dimension der Gestalt oder, wenn man will, der Dimension des Gegenstandes.

An diese Dimensionen schließt sich nun eine weitere Dimension, nach der sich die Fragen des Inhaltes abspielen.

Gewisse Maßverhältnisse der Linien, die Zusammenstellung gewisser Töne aus der Helldunkel-Skala, gewisse farbige Zusammenklänge bringen jeweils ganz bestimmte und ganz besondere Arten des Ausdruckes mit sich.

Die Maßverhältnisse auf dem linearen Gebiet können sich z. B. auf die Winkel beziehen: Steilwinklige Zickzackbewegungen im Gegensatz zu einem mehr horizontalen linearen Verlauf rufen die entsprechenden konträren Ausdrucksresonanzen hervor.

Ebenso verschieden wirken nach dieser ideellen Seite hin zwei Fälle linearer Gestaltung, wo einerseits ein festes Zusammenhängen, andererseits ein lockeres Dahinstreuen zu sehen ist.

Gegensätzliche Fälle des Ausdruckes auf dem Gebiet des Helldunkels sind: Weitgespannte Verwendung sämtlicher Töne von Schwarz nach Weiß, was Kraft besagt und volles Ein- und Ausatmen, oder begrenzte Verwendung der oberen hellen Skalenhälfte, oder der unteren tiefen und dunklen Hälfte, oder der mittleren Teile derselben um Grau herum, was Schwäche durch zu viel oder zu wenig Licht besagt, oder zaghaftes Dämmern um die Mitte herum. Das sind wieder große Inhaltskontraste.

Und was für Möglichkeiten der inhaltlichen Variierung bieten erst die farbigen Zusammenstellungen!

Farbe als Helldunkel z. B.: Rot in Rot, d. h. die ganze Skala vom Rotmangel bis zum Rotüberfluß, weitgespannt, oder diese Skala begrenzt.

Dann dasselbe in Gelb (etwas ganz anderes),

dasselbe in Blau, was für Gegensätze!

Oder: Farbe diametral, das sind Gänge von Rot zu Grün, von Gelb zu Violett, von Blau zu Orange:

Stückwelten des Inhaltes.

Oder: Farbgänge in der Richtung von Kreissegmenten, nicht die graue Mitte treffend, sondern in wärmerem oder kühlerem Grau sich begegnend:

Welch feine Nuancen zu den vorigen Kontrasten!

Oder: Farbgänge in der Richtung der Peripherie des Kreises, von Gelb über Orange zu Rot, oder von Rot über Violett zu Blau, oder weitgespannt über den ganzen Umfang:

Was für Stufungen vom kleinsten Schritt bis zum reichblühenden farbigen Vielklang. Welche Perspektiven nach der inhaltlichen Dimension!

Oder endlich gar Gänge durch die Totalität der Farbordnung mit Einschluß des diametralen Graus und zuletzt noch verbunden mit der Skala von Schwarz nach Weiß!

Über diese letzten Möglichkeiten hinaus gelangt man nur auf neuer Dimension. So könnte jetzt noch in Betracht kommen, welcher Platz den sortierten Klängen angewiesen wird. Jedes Sortiment hat ja seine Kombinationsmöglichkeiten.

Und jede Gestaltung, jede Kombination wird ihren besonderen konstruktiven Ausdruck haben, jede Gestalt ihr Gesicht, ihre Physiognomie.

Solche drangvolle Gebärde weist besonders deutlich nach der Dimension des Stils. Hier erwacht die Romantik in ihre besonders krasse pathetische Phase. Diese Gebärde will in Stößen von der Erde weg, die nächste erhebt sich in Wirklichkeit über sie. Sie erhebt sich über sie unter dem Diktat von Schwungkräften, welche über die Schwerkräfte triumphieren.

Lasse ich endlich diese erdfeindlichen Kräfte besonders weit schwingen, bis hin zum großen Kreislauf, so gelange ich über den pathetisch-drangvollen Stil hinaus, zu jener Romantik, die im All aufgeht. Es decken sich also die statischen und die dynamischen Teile der bildnerischen Mechanik ganz schön mit dem klassisch-romantischen Gegensatz.

Unser Gebilde hat in der beschriebenen Weise nachgerade so viele und importante Dimensionen durchlaufen, daß es unbillig wäre, jetzt noch Konstruktion zu ihm zu sagen. Wir wollen ihm von nun an den tönenden Namen Komposition gerne zu-gestehn.

Was die Dimensionen betrifft aber wollen wir uns mit dieser reichen Perspektive begnügen!

Ich möchte nun die Dimension des Gegenständlichen in einem neuen Sinne für sich betrachten und dabei zu zeigen versuchen, wieso der Künstler oft zu einer solchen scheinbar willkürlichen »Deformation« der natürlichen Erscheinungsform kommt.

Einmal mißt er diesen natürlichen Erscheinungsformen nicht die zwingende Bedeutung bei wie die vielen Kritik übenden Realisten. Er fühlt sich an diese Realitäten nicht so sehr gebunden, weil er an diesen Form-Enden nicht das Wesen des natürlichen Schöpfungsprozesses sieht. Denn ihm liegt mehr an den formenden Kräften als an den Form-Enden.

Er ist vielleicht, ohne es gerade zu wollen, Philosoph. Und wenn er nicht wie die Optimisten diese Welt für die beste aller Welten erklärt und auch nicht sagen will, diese uns umgebende Welt sei zu schlecht, als daß man sie sich zum Beispiel nehmen könne, so sagt er sich doch: In dieser ausgeformten Gestalt ist sie nicht die einzige aller Welten!

So besieht er sich die Dinge, die ihm die Natur geformt vor Augen führt, mit durchdringendem Blick.

Je tiefer er schaut, desto leichter vermag er Gesichtspunkte von heute nach gestern zu spannen. Desto mehr prägt sich ihm an der Stelle eines fertigen Naturbildes das allein wesentliche Bild der Schöpfung als Genesis ein.

Er erlaubt sich dann auch den Gedanken, daß die Schöpfung heute kaum schon abgeschlossen sein könne, und dehnt damit jenes weltschöpferische Tun von rückwärts nach vorwärts. Der Genesis Dauer verleihend.

Er geht noch weiter.

Er sagt sich, diesseits bleibend: es sah diese Welt anders aus, und es wird diese Welt anders aussehn.

Nach jenseits tendierend aber meint er: auf anderen Sternen kann es wieder zu ganz anderen Formen gekommen sein.

Solche Beweglichkeit auf den natürlichen Schöpfungswegen ist eine gute Formungsschule. Sie vermag den Schaffenden von Grund aus zu bewegen, und selber beweglich, wird er schon für die Freiheit der Entwicklung auf seinen eigenen Gestaltungswegen sorgen.

Aus dieser Einstellung heraus muß man ihm zugute halten, wenn er das gegenwärtige Stadium der ihn gerade betreffenden Erscheinungswelt für zufällig gehemmt, zeitlich und örtlich gehemmt erklärt. Für allzu begrenzt im Gegensatz zu seinem tiefer Erschauten und bewegter Erfühlten.

Und ist es nicht wahr, daß schon der relativ kleine Schritt des Blickes durch das Mikroskop Bilder vor Augen führt, die wir alle für phantastisch und verstiegen erklären würden, wenn wir sie, ohne den Witz zu begreifen, so ganz zufällig irgendwo sähen?

Herr X aber riefe, in einer sensationellen Zeitschrift auf eine solche Abbildung stoßend, entrüstet: das sollen Naturformen sein? das ist ja schlechtes Kunstgewerbe. Also befaßt sich denn der Künstler mit Mikroskopie? Historie? Paläontologie? Nur vergleichsweise, nur im Sinne der Beweglichkeit. Und nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Kontrollierbarkeit auf Naturtreue!

Nur im Sinne der Freiheit.

Im Sinne einer Freiheit, die nicht zu bestimmten Entwicklungsphasen führt, welche in der Natur einmal genau so waren oder sein werden, oder die auf andern Sternen (dereinst vielleicht einmal nachweisbar) genau so sein könnten, sondern im Sinne einer Freiheit, die lediglich ihr Recht fordert, ebenso beweglich zu sein, wie die große Natur beweglich ist. Vom Vorbildlichen zum Urbildlichen!

Anmaßend wird der Künstler, der dabei bald irgendwo steckenbleibt. Berufen aber sind die Künstler, die heute bis in einige Nähe jenes geheimen Grundes dringen, wo das Urgesetz die Entwicklungen speist. Da, wo das Zentralorgan aller zeitlich- räumlichen Bewegtheit, heiße es nun Hirn oder Herz der Schöpfung, alle Funktionen veranlaßt, wer möchte da als Künstler nicht wohnen?

Im Schöße der Natur, im Urgrund der Schöpfung, wo der geheime Schlüssel zu allem verwahrt liegt?

Aber nicht alle sollen dahin! Jeder soll sich da bewegen, wohin ihn der Schlag seines Herzens verweist.

So hatten zu ihrer Zeit unsere gestrigen Antipoden, die Impressionisten, völlig recht, bei den Wurzelschößlingen, beim Bodengestrüpp der täglichen Erscheinungen zu wohnen.

Unser pochendes Herz aber treibt uns hinab, tief hinunter zum Urgrund.

Was dann aus diesem Treiben erwächst, möge es heißen, wie es mag, Traum, Idee, Phantasie, ist erst ganz ernst zu nehmen, wenn es sich mit den passenden bildnerischen Mitteln restlos zur Gestaltung verbindet.

Dann werden jene Kuriosa zu Realitäten, zu Realitäten der Kunst, welche das Leben etwas weiter machen, als es durchschnittlich scheint.

Weil sie nicht nur Gesehenes mehr oder weniger temperamentvoll wiedergeben, sondern geheim Erschautes sichtbar machen.

»Mit den passenden bildnerischen Mitteln«, sagte ich. Denn hier entscheidet es sich, ob Bilder geboren werden sollen oder etwas anderes. Hier entscheidet sich auch die Art der Bilder.

Unsere aufgeregte Zeit hat wohl viel Verwirrendes durcheinandergebracht, wenn wir nicht noch zu nah dran sind, um uns nicht zu täuschen.

Aber ein Bestreben scheint sich unter den Künstlern, auch unter den jüngsten, allmählich auszubreiten:

Die Kultur dieser bildnerischen Mittel, ihre reine Aufzucht und ihre reine Verwendung.

Die Sage von dem Infantilismus meiner Zeichnung muß ihren Ausgangspunkt bei jenen linearen Gebilden genommen haben, wo ich versuchte, eine gegenständliche Vorstellung, sagen wir einen Menschen, mit reiner Darstellung des linearen Elementes zu verbinden.

Wollte ich den Menschen geben, so »wie er ist«, dann brauchte ich zu dieser Gestaltung ein so verwirrendes Linien¬durcheinander, daß von einer reinen elementaren Darstellung nicht die Rede sein könnte, sondern eine Trübung bis zur Unendlichkeit einträte.

Außerdem will ich den Menschen auch gar nicht geben, wie er ist, sondern nur so, wie er auch sein könnte.

Und so kann mir eine Verbindung von Weltanschauung und reinlicher Kunstübung glücken.

Und so steht es auf dem ganzen Gebiet des Umganges mit den formalen Mitteln; überall, auch bei den Farben, ist jene ganze Trübung zu vermeiden.

Das ist dann die sogenannte unwahre Farbgebung in der neuen Kunst.

Wie Ihnen jenes »infantile« Beispiel sagt, gebe ich mich mit Teiloperationen ab: Ich bin auch Zeichner.

Ich versuchte die reine Zeichnung, ich versuchte die reine Helldunkelmalerei, und farbig versuchte ich alle Teiloperationen, zu denen mich die Orientierung auf dem Farbkreis veranlassen mochte. So daß ich die Typen der farbig belasteten Helldunkelmalerei, der farbig-komplementären Malerei, der bunten Malerei und der total farbigen Malerei ausarbeitete.

Jedesmal verbunden mit den mehr unterbewußten Bild-Dimensionen.

Dann versuchte ich alle möglichen Synthesen zweier Typen. Kombinierend und wieder kombinierend, und zwar immer unter möglicher Wahrung der Kultur des reinen Elementes.

Manchmal träume ich ein Werk von einer ganz großen Spannweite durch das ganze elementare, gegenständliche, inhaltliche und stilistische Gebiet.

Das wird sicher ein Traum bleiben, aber es ist gut, sich diese heute noch vage Möglichkeit ab und zu vorzustellen.

Es kann nichts überstürzt werden. Es muß wachsen, es soll hinauf wachsen, und wenn es dann einmal an der Zeit ist, jenes Werk, desto besser!

Wir müssen es noch suchen.

Wir fanden Teile dazu, aber noch nicht das Ganze.

Wir haben noch nicht diese letzte Kraft, denn: uns trägt kein Volk.

Aber wir suchen ein Volk, wir begannen damit, drüben am staatlichen Bauhaus. Wir begannen da mit einer Gemeinschaft, an die wir alles hingeben, was wir haben. Mehr können wir nicht tun.


Vortrag, gehalten anlässlich einer Ausstellung im Kunstverein Jena am 26. Januar 1924,
erstmals erschienen 1945 unter dem Titel:
Paul Klee, Über die moderne Kunst. Bern, Benteli Verlag.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/91/pk01.htm
© Paul Klee, 2014