Menschensohn

Eine biblische Wortverbindung, ins Gespräch gebracht mit Sigmar Polkes Glasfenster „Der Menschensohn“ oder: Warum mehr als eine Verstehensmöglichkeit „schriftgemäß“ ist.

Jürgen Ebach

Was meint das biblische Wort bzw. die Wortverbindung „Menschensohn“? Diese Frage mit ihren vielfachen sprachlichen, literarischen und theologischen Aspekten bewegt die biblische Exegese immer wieder und immer neu.[1] Unstrittig ist dabei eine Verbindung zwischen hebräischem ben adam[2], aramäischem bar enasch und griechischem ho hyios tou anthrōpou. Doch die im Griechischen eigentümliche doppelt determinierte Wendung („der [ho] Sohn des [tou] Menschen“) zeigt eine Entlehnung, aber keine genaue Wiedergabe der hebräischen bzw. aramäischen Wendung. Zur Diskussion steht ferner, ob, und wenn ja, wo und in wie weit die im Neuen Testament auf den Messias Jesus bezogene Bezeichnung ho hyios tou anthrōpou über die alttestamentlichen Belege von ben adam und bar enasch hinausgeht[3] und zu so einem (Hoheits-)Titel[4] geworden ist.

Ob Jesus die Bezeichnung in diesem Sinne und ob er sie überhaupt für sich selbst verwendet habe oder ob sie erst eine nachösterlicher Begriffsbildung sei, ist ein weiterer Diskussionsgegenstand der neutestamentlichen Exegese.[5] Ergiebiger jedoch als der Versuch, hier zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen[6], scheint mir eine biblisch-kanonische Lektüre, welche die mit der Wortbildung „Menschensohn“ verbundenen Bedeutungen unterscheidet, aber nicht scheidet und so zu mehr als nur einer Lektüremöglichkeit anregt.

Der Beitrag zielt darum nicht auf eine ausführliche oder gar umfassende Behandlung des biblischen Redens vom „Menschensohn“. Es soll zudem weniger um eine Lösung der strittigen Probleme zu tun sein als um die Frage nach einem angemessenen Umgehen mit den biblischen Belegen für die Rede vom „Menschensohn“ in der Wahrnehmung der ihnen selbst innewohnenden Mehrdeutigkeit und womöglich so auch Mehrdeutlichkeit. Das Augenmerk gilt darum vor allem einigen Stellen, an denen eine Bandbreite von Verstehensmöglichkeiten aufscheint. Was kann in einer solchen Wahrnehmung ins Bild kommen? Dazu möchte ich die im ersten Teil des Beitrag zur Diskussion gestellten exegetischen und hermeneutischen Beobachtungen und Erwägungen im zweiten Teil mit einem realen Bild ins Gespräch bringen, nämlich mit Sigmar Polkes Glasfenster „Der Menschensohn“ im Zürcher Grossmünster.

1. Biblische Wortbildungen und ihre Kontexte
„Mensch“

Ein alttestamentlich-literarischer Schwerpunkt der Rede von einem „Menschensohn“ liegt im Ezechielbuch. Fast hundert Mal redet Gott den Propheten mit den Worten: „Und du, Mensch“ (w´atta ben adam) an (Ez 2,6.8; 3,25; 4,1; 12,3 u.v.ö.). Das Wort ben mit der Grundbedeutung „Sohn“ erscheint hier in einer seiner Bedeutungen, indem es die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv bezeichnet. So sind b´ne jisra´el diejenigen, welche dem Volk Israel angehören, also die Israelitinnen und Israeliten; ben bakar ist in diesem Sinne ein Tier, welches der Gattung „Rind“ (bakar) angehört.[7] In dieser Linie bezeichnet die Anrede ben adam den Propheten als einen einzelnen der Gattung „Mensch“ (adam); die Wortverbindung meint somit schlicht „Mensch“.[8] Wenn Ezechiel von Gott so angesprochen und in Anspruch genommen wird, ist betont, dass der Prophet der Lebenswelt der Menschen in all ihrer Schwäche und nicht der göttlichen Sphäre zugehört. Auch an anderen Stellen steht ben adam für die Menschheit als Kollektiv (etwa in Num 23,19; Jes 51,2; Ps 80,18; Hi 35,8). Dass in Gottes Blick das doch so kleine „Menschenkind“ (ben adam) wichtig ist, wird in Ps 8,5 dankbar bestaunt (und so in Hebr 2,6 aufgenommen); ben adam steht hier im Parallelismus zu enosch – „Mensch“ (entsprechend in Hebr 2,6 antrōpos parallel zu hyios anthrōpou). Das Kollektiv „Mensch(heit)“ meinen auch die sprachlichen Varianten ben enosch in Ps 144,3 sowie der Plural b´ne adam z.B. in Gen 11,5; 2Sam 7,14 sowie die aramäische Wendung b´ne anascha in Dan 2,38; 5,21 sowie das griechische Pendant hyios anthrōpou in Jdt 8,16; Sir 17,30. Eine solche kollektive Bedeutung hat die Wendung im Neuen Testament außerhalb der Evangelien, nämlich im schon genannten Zitat von Ps 8,5 in Hebr 2,6 sowie in der Pluralform tois hyiois tou anthrōpou in Eph 3,5.

Gerade die Ezechielstellen mit der immer wiederkehrenden Anrede w´atta ben adam - „Und du, Mensch!“ stehen jedoch auch dafür, dass es in diesem Kollektiv „Mensch(heit)“ um einen bestimmten Menschen gehen kann, dem eine bestimmte Aufgabe zukommt[9], z.B. die, sich eine Buchrolle buchstäblich einzuverleiben.[10]

„So etwas wie ein Mensch“

„und gerade am ‚Menschensohn‘ muß es uns wichtig sein, die Sprache des Ungefähr nicht zu zwingen.“
                                         (Friedrich-Wilhelm Marquardt[11])

Eine entscheidende Rolle für die Füllung jener Wortverbindung und ihrer Aufnahme in Neuen Testament spielt Dan 7,13. Dan 7 nimmt in der Form einer Vision von schrecklichen Tieren die Abfolge von vier Weltreichen in den Blick, deren letztes ihr schlimmstes ist. In ihm manifestiert sich die Diadochenherrschaft und in ihr – als elftes Horn des vierten Tieres – die Herrschaft des Seleukiden Antiochus IV. Epiphanes, der u.a. die Sabbatfeier untersagte und den Jerusalemer Tempel zum Verehrungsort des Zeus Olympios weihen ließ. Seine Regierungszeit ist die Gegenwart des Danielbuches in seiner Endgestalt, in der es als apokalyptische Kampfschrift im Umfeld des Makkabäeraufstands verfasst wurde.[12] Von dieser in der literarischen Verkleidung einer alten Prophetie Daniels in Szene gesetzten Gegenwart her kommt dann die Zukunft in den Blick. In Dan 7,9 beginnt eine Schilderung der Beendigung jener bestialischen Reiche. Throne wurden aufgestellt, eine hochbetagte Figur (ein „Alter an Tagen“ [attik jomin]) nimmt Platz, eine Gerichtssitzung beginnt und jenen Tieren wird die Macht genommen. Und dann heißt es in 7,13f. (in der Übersetzung von Martin Leutzsch in der Bibel in gerechter Sprache):

„Ich schaute in nächtlichen Visionen: Da! mit Himmelswolken kam etwas wie ein Mensch (k´bar enasch), näherte sich der hoch betagten Gestalt (attik jomin) und wurde zu ihr gebracht. Ihm wurde Macht, Ehre und Königsherrschaft verliehen. Alle Völker, Stämme und Sprachgemeinschaften dienten ihm. Seine Macht ist ewige Macht, die nicht vergeht. Seine Königsherrschaft wird nicht zerstört.“

Jener attik jomin, die „hochbetagte Gestalt“ ist transparent auf Gott. Aber was für eine Figur ist diejenige, der die Königsherrschaft verliehen wird und von der Dan 7,13 sagt, sie sei „wie ein Mensch“ (k´bar enasch) – in der griechischen Fassung des Danielbuchs in der Septuaginta wie bei Theodotion „hōs hyios anthrōpou[13]? Verkörpert sich in ihr das Volk Israel? In der Fortsetzung in Dan 7,17.22 wird die Macht von jenem „Hochbetagten“ den „Heiligen des Höchsten“ (l´kaddische eljonin) übergeben werden, in 7,27 „dem Volk der Heiligen des Höchsten“ (l´am kaddische eljonin). Von diesen Heiligen (kaddischin) heißt es in V. 22, jenes „Horn“ habe zuvor gegen sie Krieg geführt und sie besiegt. In diesen Heiligen bzw. diesem Volk der Heiligen wird man Israel erkennen oder doch die in Israel, die sich der Fremdherrschaft entgegenstellen und am Ende gerettet werden.

Manifestiert sich dieses wahre Israel in der Figur, die „wie ein Mensch (k´bar enasch)“ ist? Oder ist es eine Figur, die einer besonderen Weise dafür sorgt, dass die Macht jenem „Volk der Heiligen des Höchsten“ zukommt? Dann ginge es um eine einzelne Figur, die k´bar enasch/ hōs hyios anthrōpou ist. Aber auch dann gibt es mehr als nur eine Verstehensmöglichkeit. Es könnte sich um eine messianische Retterfigur handeln; in dieser Linie ist das Motiv in verschiedenen sprachlichen Varianten im 1. Henochbuch aufgenommen[14], aber auch in 4Esra 13,1-13.25-52. In der Gestalt von Dan 7,13 könnte aber auch ein Engel verkörpert sein. Dahinter stünde dann die Auffassung, jedes Volk werde von einem bestimmten Engel geleitet. Hier ginge es um einen Engel, der die ganze Völkerwelt heilvoll regiert.[15]

Und dann gibt es noch eine weitere Verstehensweise. Womöglich geht es gar nicht um eine einzelne Figur und auch nicht um das in ihr repräsentierte Volk Israel, sondern um die gewisse Erwartung, dass an die Stelle der bestialischen Reiche endlich ein menschliches trete. „In der Bilderwelt von Dan 7“, so Rainer Albertz, „repräsentiert ‚der Menschengestaltige‘ zunächst nur das Menschliche gegenüber den unmenschlichen Bestien.“[16]

Wie bezieht sich die neutestamentliche Rede vom „Menschensohn“ auf Dan 7,13 und seine vorneutestamentlichen Rezeptionen? In den Evangelien fällt auf, dass hier das k´ bzw. hōs („wie“) wegfällt und zwar auch an Stellen, in denen Dan 7 im Hintergrund stehen dürfte wie in Mk 13,26; 14,62. Heißt das, dass sich jene nur annähernd deutliche Figur aus Dan 7 im Messias Jesus vereindeutigt? Oder heißt es, dass sich auch im hyios tou anthrōpou der Evangelien die vielfachen Leseweisen von Dan 7,13 wiederholen? Danach wäre der hyios tou anthrōpou der Evangelien eine Figur, in der sich Israel verkörpert, er wäre eine Retter- und Richtergestalt, deren Eingreifen zugunsten Israels sehnsüchtig erwartet wird, und er wäre der eine ganz besondere Mensch, in dem sich zeigt, was Mensch-Sein, was Menschlichkeit ist.

Die Vielfalt der möglichen Füllungen des Ausdrucks sehe ich nicht als einen Mangel an, sondern als einen Reichtum. „Schriftgemäß“ wäre eine Lektüre, die hier – und nicht nur hier – mehr als nur eine Verstehensmöglichkeit wahr nimmt.

„Jemand Menschenähnliches“

Die Aufnahme der Figur aus Dan 7, die k´bar enasch – „wie ein Mensch“ ist, findet sich an zwei Stellen der Johannesoffenbarung (1,13; 14,14). Hier erblickt der Seher eine an Dan 7,13 erinnernde Gestalt, in der sich der erhöhte Christus manifestiert[17]. Er sieht: „homoion hyion anthrōpou“. Während im ho hyios tou anthrōpou der Evangelien das „wie“ aus Dan 7 wegfällt, ist es in Offb 1,3; 14,14 im homoion aufgenommen. Es gibt da aber eine sprachliche Auffälligkeit. Die Wiedergabe der Worte „homoion hyion anthrōpou“ in deutschsprachigen Übersetzungen lautet etwa: „einem Menschensohn gleich“ bzw. „wie ein Menschensohn“ (Neue Zürcher Bibel in Offb 1,13 bzw. 14,14), oder (Luther ’84 an den beiden Stellen) „einen, der war einem Menschensohn gleich“ bzw. „der gleich war einem Menschensohn“. Hermann Lichtenberger verdeutscht in Offb 1,13; 14,14: „gleich einem Menschensohn“ und fügt in der Übersetzung von 1,13 in Klammern hinzu: „einer, der einem Menschen gleicht“. In der Auslegung bezieht er sich ausdrücklich auf das „hebräische und aramäische ke (LXX: hōs; vgl. Dan 7,13)“.[18] Ulrich B. Müller kommentiert zu Offb 1,13: „Die visionäre Beschreibung der Christusgestalt zeichnet diesen in engem Anschluss an Dan 7,13: ‚(einen) gleich einem Menschensohn‘“ und fährt fort: „Der Verfasser gebraucht im Gegensatz zum Menschensohntitel für Jesus in den Evangelien die apokalyptische Umschreibung ‚wie, gleich‘ aus Dan 7,13.“[19]

Ob die Rede von einem Menschensohntitel für die Evangelien zutrifft, wird noch zu diskutieren sein; für die Relation zwischen Dan 7,13 und Offb 1,13; 14,14 ist jedoch zunächst eine sprachliche Disproportionalität wahr zu nehmen. Die beiden Offb-Stellen nehmen das „wie“ aus Dan 7,13 auf, geben es aber nicht – wie die Septuaginta und auch Theodotion – mit hōs wieder, sondern mit homoion. Gewicht bekommt diese Variante in Verbindung mit einer weiteren Eigentümlichkeit in Offb 1,13 und 14,14, nämlich einem grammatischen Regelverstoß. Denn das griechische homoion verlangt bei einem nominalen Vergleich (wie das deutsche „gleich“) einen folgenden Dativ[20], hier aber folgt ein Akkusativ (hyion anthrōpou). Handelt es sich um eine sprachliche Fehlleistung eines Autors, der im Griechischen nicht ganz zu Hause war[21], oder um eine „einfache grobe Nachlässigkeit“[22]? Oder handelt es sich – mit Klaus Wengst, dessen Beobachtungen und Argumente ich hier aufnehme[23] – um eine bewusste ungewöhnliche Formulierung eines Autors, der, wie eine Fülle weiterer Stellen zeigt, sehr wohl weiß, dass ein vergleichendes homoion einen Dativ verlangt, der jedoch in diesem Fall das homoion hyion anthrōpou als einen einzigen Ausdruck bietet, mithin in seiner Vision – so Wengst – „den Menschensohngleichen“ sieht. Fasst man das bar enasch aus Dan 7,13 noch stärker als Ausdruck „des Menschen“ auf, so zeigt die Übersetzung der Wendung in Offb 14,14 in der Bibel in gerechter Sprache ihre Triftigkeit. Ihr Übersetzer der Johannesoffenbarung, Martin Leutzsch, gibt in Offb 14,14 die eigentümliche griechische Wendung homoion hyion anthrōpou im Deutschen ebenso ungewöhnlich und gerade so womöglich treffend mit „jemand Menschenähnliches“ wieder.[24]

Wie auf andere Weise in den Evangelien ist mithin auch in der Johannesapokalypse die Danielstelle dahin gehend vereindeutigt, dass „sich ihr vergleichendes Reden zu einer bestimmten Gestalt verdichtet hat.“[25] Zugleich aber wird das vergleichende und darin gerade nicht definitorische Reden dadurch noch verstärkt, dass jenes homoion zu einem konstitutiven Bestandteil der Bezeichnung jener Figur selbst wird. Sie ist gleichsam in ihrem Wesenskern nicht festgestellt; das homoion, das Wie ist ihr selbst eingeschrieben.

Eben dieses Zugleich von Verdichtung und Offenheit, das in Offb 1,13; 14,14 in gezielt eigentümlicher Sprachform ins Bild kommt, zeigt sich auch im Blick auf mehrere Passagen der Evangelien.

Ein Mensch, dieser eine Mensch oder/ und ein Mensch?

Das Gegenüber und das Zugleich der Möglichkeiten, die in den Evangelien im Munde Jesu erscheinende Wortverbindung ho hyios tou anthrōpou zu verstehen, zeigt sich plastisch in Mk 2,28. Der resümierende Schluss-Satz der Sequenz über das „Ährenausraufen am Sabbat“ und den dabei aufscheinenden Konflikt mit den Pharisäern lautet in Luthers Übersetzung (1545):

In der revidierten Fassung (Luther ‘84) heißt es – hier durch Fettdruck hervorgehoben und ohne Luthers Nachahmung des griechischen Genitivs („des Menschen Son“) sowie seiner Schreibweise „HERR“, die eine göttliche Sphäre anzeigen soll[26] –: „So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat.“ Die unmittelbar vorausgehende Sentenz: to sabbaton dia ton anthrōpon egeneto kai ouch ho anthrōpos dia ton sabbaton – „Der Schabbat wurde um des Menschen willen und nicht der Mensch um des Schabbats willen“[27] – bezieht sich in schöpfungstheologischer Perspektive auf den Menschen, d.h. auf jeden Menschen. Von daher kommt auch für die dann folgende Rede vom hyios tou anthrōpou[28] ein Verstehen als „Menschenkind/ Mensch“ in Betracht.[29] Jesus hält den Gegnern[30] einen Text der „Schrift“ vor Augen, nämlich die – in Mk 2,25f. mit deutlich eigenen Akzenten aufgerufene[31] – Geschichte aus 1Sam 21,1-7, nach der David und die Seinen in Not und Hunger die Schaubrote verzehrten, d.h. etwas an und für sich Verbotenes taten.

Indem Jesus die „Schrift“ zitiert, bezieht er sich auf die ihm und den Gegnern gemeinsame Basis. Aber was besagt die Berufung auf jenen Präzedenzfall? Eine Möglichkeit ist, hier so etwas wie einen Schluss a minore ad maius zu hören. Peter Dschulnnig folgert: „Jesus, der David an Würde überragt, kann deshalb analog umso mehr ein Vergehen seiner Begleiter erlauben, auch wenn es von anderen als am Schabbat unerlaubte Handlung betrachtet wird.“[32] Eine solche Schlussfolgerung, welche die Auslegungshoheit des Gebots ins Zentrum rückt, kann jedoch allenfalls implizit mitgehört werden. Möglicher Weise steht jene Davidgeschichte vielmehr dafür, dass es in Not und Hunger selbst einem gleichsam Heiligen erlaubt ist, das Leben über die Gesetzesobservanz zu stellen. So gelesen könnte es, bezogen auf die, welche Jesus begleiten und die Ähren abreißen, geradezu ein Schluss a maiore ad minus sein. Im Blick sind hier Arme und Hungernde, für die es ganz elementar darum geht: „Der Schabbat soll dem Leben dienen und es nicht schädigen.“[33] In diesem Sinne geht es um die Menschenfreundlichkeit, die Menschlichkeit des Sabbats.[34]

Je nachdem, wie man die gesamte Argumentation Jesu verstehen will, ergeben sich für die Auffassung der Rede vom hyios tou anthrōpou mehrere Verstehensmöglichkeiten: Herr über den Sabbat“ ist dieser eine, dieser ganz besondere Mensch. – Oder aber: Herr über den Sabbat ist ein Mensch in einer ganz besonderen Lage. Oder auch: Herr über den Sabbat ist jedes Menschenkind, ist der Mensch. Womöglich müssen diese Möglichkeiten nicht alternativ bleiben, wenn der Fokus darauf gerichtet ist, dass es an dieser Stelle der eine, der ganz besondere Mensch ist, der in seinem Verstehen der „Schrift“ zeigt, was menschlich ist und was damit Menschen frommt, d.h. was ihnen zugutekommt. Ebenso wenig alternativ zeigt sich die Frage, ob der hier Sprechende sich selbst oder einen anderen meine. Wiederum stellt sich diese Frage sachgemäß nicht historisch-biographisch, sondern literarisch-theologisch. Hilfreich ist hier Friedrich-Wilhelm Marquardts Hinweis auf die Verbindung von Identität und Nicht-Identität – u.a. mit dem Hinweis auf die Selbstbeschreibung des Paulus in Gal 2,20: zō de ouketi egō, zē de en emoi Christos (in Luthers Übersetzung: „Jch lebe aber/ doch nu nicht ich / sondern Christus lebet in mir“).[35]

Einer wie Jakob

Die im Johannesevangelium erste Nennung der Wendung hyios tou anthrōpou begegnet in Joh 1,51. Mit einer erneuten Redeeinleitung („Und er sagte zu ihm“) beschließt der Vers das Gespräch Jesu mit Natanael, der ihn (V. 49) als „Gottes Sohn“ (hyios tou theou) und Israels König (basileus … tou Israēl) erkannt und bekannt hat. Doch das, was er dann ihm sagt, sagt er „ihnen“ (d.h. den ihm Nachfolgenden und auf der literarischen Ebene denen, die das Evangelium lesen): „Amen, Amen, ich sage euch“:

„Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Boten (Engel) Gottes hinaufsteigen und herabsteigen auf ton hyion tou anthrōpou.“

Diese Verheißung nimmt eine Szene der hebräischen Bibel auf, nämlich Jakobs in Gen 28,12 ins Bild gesetzten Traum-Blick in den Himmel.[36] Auf der Flucht vor Esau sieht Jakob in Betel eine Leiter (das hebräische sullam bezeichnet eher so etwas wie einen Aufgang, eine Stufenrampe), auf der Gottes Boten hinauf- und herabsteigen. Jakob erkennt darin Gottes Gegenwart (jesch adonaj [V. 16]) an diesem Ort, der sich ihm als „Haus Gottes“ (bet elohim [V. 17]) und als „Tor des Himmels“ (scha´ar ha-schamajim [ebd.]) zeigt.

Für die Aufnahme dieser Himmels-Schlüssel-Szene in Joh 1,51 wichtig wird eine Doppeldeutigkeit des letzten Wortes in Gen 28,12. Jene Boten Gottes, jene „Engel“, steigen herab „bo“, d.h. „auf ihn“. Das hebräische sullam ist ein Maskulinum, naheliegend wäre mithin die Beziehung jenes bo auf eben den Aufgang, die Stufenrampe, die Leiter[37], auf der sie herabsteigen. Es ist aber auch möglich, das bo auf Jakob zu beziehen, auf den sie herabkommen.[38] Die Rabbinen halten im Diskurs über Gen 12,28 beide Möglichkeiten fest[39], Joh 1,51 bezieht sich auf Gen 28,12 (vereindeutigend und zudem übrigens gegen die Septuaginta-Fassung) auf die Lesart, nach der jene Boten mit ihrer himmlischen Kraft auf Jakob herabkommen, und nimmt das so auf, dass sie in vergleichbarer Weise auf den hyios tou anthrōpou herabkommen werden. In dieser Verheißung kommt die konstitutive Verbindung jenes „Menschen“ mit dem Himmel ins Bild. Die Beziehung auf Jakob, der den Namen Israel bekommen wird (in Gen 32,29 als Ankündigung, in Gen 35,10 als deren Einlösung) und der an vielen alttestamentlichen Textstellen für ganz Israel steht (Num 24,17; Jes 14,1; 44,1.2; Am 7,2; 9,8; Ps 53,7 u.v.m.), lässt zudem den in Joh 1,51 Sprechenden als einen Menschen erkennen, in dem sich Israel manifestiert.[40]

Gleichwohl bleibt die Rede vom hyios tou anthrōpou an dieser ersten sie nennenden Stelle des Johannesevangeliums unvermittelt und sperrig. Sie ist „ein Rätselwort“[41], welches etwas ebenso eröffnet wie verbirgt. Es erschließt sich erst denen, die das Evangelium nicht zum ersten Mal lesen.[42] Wer in der Lektüre des ganzen Evangeliums auf den Zusammenhang zwischen dieser Bezeichnung und dem auf die Kreuzigung bezogenen Motiv der Erhöhung und Verherrlichung Jesu aufmerksam wurde (so etwa in Joh 3,14; 8,28), wird beim erneuten Lesen des Johannesevangeliums bereits am Ende des ersten Kapitels diesen Zusammenhang wahrnehmen. Für jene erste Stelle kennzeichnend bleibt die Konfiguration Jakob – Jesus und somit der beiden, in denen auf je ihre Weise Israel ins Bild kommt. Die Rede vom „Menschensohn“ ist hier daher ebenso exklusiv wie inklusiv.[43]

Kein Ort, das Haupt hinzulegen

Da kam einer zu ihm, ein Toragelehrter, und sagte ihm: „Lehrer, ich will dir überallhin nachfolgen, wo du hingehst.“ Jesus sagte ihm: „Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels haben Nester. Aber ho hyios tou anthrōpou hat nicht, wo er seinen Kopf hinlegen kann.“ (Mt 8,19f., vgl. Lk 9,57f.[44])

Das Wort Jesu vom hyios tou anthrōpou – die erste Erwähnung jener Bezeichnung im Matthäusevangelium – richtet sich an einen Toragelehrten, der ein Schüler Jesu werden will und dazu bereit ist, dem Lehrer an jeden Ort zu folgen. Die Reaktion Jesu auf diese Bereitschaft verweist auf das, was mit einer solchen Nachfolge verbunden ist, nämlich auf eine Ortlosigkeit des hyios tou anthrōpou. Was besagt diese Wendung? Ist sie allein eine Aussage über den gewünschten Lehrer? Meint sie: ‚Ich habe nicht, wo ich meinen Kopf hinlegen kann‘? Oder bezieht sie die ein, die ihm nachfolgen? Meint sie: ‚Wenn du mir folgen wirst, wohin immer ich gehe, bedeutet das für dich, dass auch du nicht haben wirst, wo du deinen Kopf hinlegen kannst‘? Oder ist es eine Aussage über den Menschen, der – im Gegensatz zu den Füchsen und den Vögeln – keinen festen Ort hat?

Es gibt Oder-Fragen, auf welche nach meiner Überzeugung die gezielt regelwidrige Antwort „Ja“ noch die beste ist. Womöglich gehören die an die knappe Sequenz Mt 8,19f. zu richtenden dazu. Deutlich ist, dass es sich um eine Charakterisierung der irdischen Existenz Jesu in Armut und permanenter Wanderschaft handelt.[45] Aber deutlich ist auch, dass diese Existenz ebenso die betrifft, die sich diesen Wanderrabbi zum Lehrer wählen. „So lebt Jesus, und darin muß sein Jünger ihm gleichförmig werden.“[46] Allerdings wird eine solche Lebensweise an dieser Stelle nicht der anderer Menschen oder in Sonderheit der an einem bestimmen Ort angesiedelten Lehrer und ihrer Schülerkreise gegenüber gestellt, sondern derjenigen der Füchse und Vögel. Geht es also doch auch um eine Gegenüberstellung von Tieren und dem Menschen? Ist das Unbehauste, das nicht Festgestellte ein Merkmal des Menschen? Dass eine solche Lesart mit neuzeitlichen anthropologischen Entwürfen trefflich zusammen geht, ist ebenso reizvoll wie eines sträflichen Anachronismus verdächtig.[47]

Die Rede vom hyios tou anthrōpou wäre an dieser Stelle allemal unterbestimmt, würde man sie als bloßes Äquivalent eines „Ich“ lesen. Geht es um den ebenso eigentümlichen wie kennzeichnenden Umstand, dass gerade der, der als kommender „Mensch“ der Richter der Welt sein wird, sein irdisches Leben in Armut und Ortslosigkeit verbringen muss – mithin um ein doppeltes „Ich“? So mag es sein, aber auch dann scheint damit auf, dass ein solches Leben auch denen zukommt, die jenem besonderen Menschen nachfolgen[48] und damit womöglich in allereinfachster – und allerschwerster Weise nichts als Mensch sind. Gezielt anachronistisch dazu eine Bemerkung Leo Löwenthals, des Literaturtheoretikers der „Frankfurter Schule“: „... wenn wir eine wirklich menschenwürdige Gesellschaft auf der Welt hätten, würden wir vielleicht zum erstenmal erfahren können, wie schwer es ist, ein Mensch zu sein.“[49]

Eine Reaktion des zur Nachfolge Bereiten auf das, was Jesus ihm warnend sagt, wird ebenso wenig mitgeteilt wie eine des in V. 21f. ins Bild Kommenden aus dem Kreis der Jüngerinnen und Jünger, dem Jesus nicht gestattet, vor der Nachfolge noch seinen Vater zu bestatten. Die zweifache „Leerstelle zwingt die Leser zur eigenen Reaktion“[50]. Zu eigenen Reaktion sind die Lesenden auch von jener opaken, d.h. ebenso durchscheinenden wie undurchsichtigen Wortbildung ho hyios tou anthrōpou aufgefordert. Wie ist sie an dieser Stelle zu lesen, wie im Kontext des ganzen Matthäus- bzw. des Lukasevangeliums und wie im Kanon des Neuen Testaments und dem der ganzen Bibel? „Schriftgemäß“ wäre – es sei wiederholt – eine Bibelauslegung, welche wahr nimmt, dass es hier – und nicht nur hier – mehr als eine Lektüremöglichkeit gibt. „Schriftgemäß“ ist die verbindliche Vielfalt im Kanon der „Schrift“ selbst, eine Vielfalt, die sich im Neben-, Gegen- und zuletzt Miteinander mehrerer biblischer Worte und Antworten zeigt, aber nicht selten auch im Neben-, Gegen- und zuletzt Miteinander der Verstehensmöglichkeiten in ein und demselben biblischen Wort.

‚Ich, der hyios tou anthrōpou‘ – ‚Ich und entsprechend dann der hyios tou anthrōpou‘?

„Und ihr: Seid vorbereitet! Denn der hyios tou anthrōpou kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet.“
                                                             (Lukas 12,40)

Ein mit Varianten bei Markus und Lukas und dann mit einer im Zusammenhang der Frage nach dem hyios tou anthrōpou bemerkenswerten Differenz bei Matthäus überliefertes Jesuswort setzt den Redenden in eine Beziehung zum hyios tou anthrōpou. In Lk 12,8f. lautet es:

„Wer immer sich zu mir bekennt vor den Menschen, zu denen wird sich auch der hyios tou anthrōpou bekennen vor Gottes Engeln. Die mich aber verleugnen vor den Menschen, die werden verleugnet werden vor Gottes Engeln.“

In Mk 8,38 heißt es:

„Wer sich nämlich meiner und meiner Worte schämt in dieser fremd gehenden und sündhaften Generation, dessen wird sich der hyios tou anthrōpou schämen, wenn er kommt im Lichtschein seines Vaters mit den heiligen Engeln.“

In diesen beiden Fassungen stellt sich die Frage, wie sich das Ich („zu mir“/ „mich“ bzw. „meiner und meiner Worte“) zum kommenden hyios tou anthrōpou verhält. Die Fassung in Mt 10,32f. hebt die Differenz auf, indem sie auf die Wendung hyios tou anthrōpou verzichtet und in dieser Sequenz durchgehend von einem Ich spricht:

„Denn zu allen, die sich zu mir bekennen vor den Menschen, werde auch ich mich bekennen vor meinem Vater im Himmel. Aber die mich verleugnen vor den Menschen, werde auch ich verleugnen vor meinem Vater im Himmel.“

Die Mt-Fassung kann als eine Möglichkeit gelesen werden, die bei Mk und Lk nicht klare Relation des Sprechenden zu dem im Himmel Verorteten zu vereindeutigen, nämlich im Sinne einer Identität. Für Mk und Lk ist das keineswegs so eindeutig. Es kann dieselbe Figur – in der auch sprachlich ausgedrückten Differenz zwischen Präsens und Futur – sein, aber es ist auch möglich, im Verweis auf den kommenden hyios tou anthrōpou eine Gestalt zu sehen, in welcher der irdische Jesus sich nicht selbst sieht, zu der er jedoch in größter Nähe steht, gleichsam als dessen „irdisches Pendant“[51].

In der Lektüre der Evangelien legt sich den Lesenden der kommende hyios tou anthrōpou als der in neuer Gestalt Wiederkommende nahe. Aber auch dann bleibt die Differenz zwischen Präsens und Futur – für heute Lesende nicht zuletzt darum, weil das Futur noch immer ein Futur ist, eine gewisse Erwartung, die nicht fest zu stellen ist: „Und ihr: Seid vorbereitet! Denn der hyios tou anthrōpou kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet“ (Lk 12,40).

Die entsprechende Frage nach der Relation des sprechenden Ich zum hyios tou anthrōpou gilt der in Lk 6,22 und Mt 5,11f. formulierte Seligpreisung. Es geht um jüdische Menschen, die Jesus als den Messias ansahen und darum innerhalb des Judentums zu einer angefeindeten Minderheit wurden und Schmähung und Ausgrenzung erfuhren. Abermals ist gegenüber der Lk-Fassung („wenn man euch schmäht und verfolgt … wegen des hyios tou anthrōpou“) die Mt-Fassung vereindeutigt („… um meinetwillen“).

Abermals geht es um Differenz und Identität und abermals geht es um die Wahrnehmung der Relation zwischen Differenz und Identität. Und auch sie trifft auf das Opake der Rede vom hyios tou anthrōpou, das zugleich Durchscheinende wie verborgen Bleibende.

Wegmarken

Blickt man auf die Wendung ho hyios tou anthrōpou in den Evangelien insgesamt, so sind sie „dadurch gekennzeichnet, dass sie den gesamten Weg Jesu beschreiben.“[52] Es geht um Sündenvergebung und Schriftauslegung, um Unbehaustheit und Ablehnung, um die Hingabe des Lebens, um Verrat, Leiden und Tod des irdischen Menschen Jesus, aber dann ebenso um die Auferstehung und um die Wiederkunft des Auferstandenen und um das Gericht. Jeder dieser Stationen lassen sich in den Evangelien mehrere Worte über den hyios tou anthrōpou zuordnen.[53] Es geht darum, wie sich in diesem einzelnen und einen Menschen eine konstitutive und einzigartige Verbindung mit Gott erwies, erweist und erweisen wird. Dabei kommen aber konstitutiv auch die mit ins Bild, die diesem Menschen nachfolgten, ihm je heute nachfolgen und die ihn erwarten. In der Geschichte dieses einen und einzelnen Menschen scheint auf, was Mensch-Sein und Menschlichkeit heißt.[54]

Die menschliche Natur?

„Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“
                                                             (Franz Kafka[55])

In der Schriftlektüre der Kirchenväter wird im Kontext der Zwei-Naturen-Lehre – Jesus als wahrer Mensch und wahrer Gott – die Wendung ho hyios tou anthrōpou zum Kennzeichen der Menschennatur Jesu Christi. Sie wird dabei genealogisch verstanden, d.h. auf die Abstammung Jesu von (einem) Menschen fokussiert. Das kann sich dann sowohl (mit den Genealogien in Mt 1 und Lk 3) auf die Vorfahren Jesu beziehen als auch und besonders auf die Mutter Maria.[56] Dagegen wird die Wendung hyios tou theou auf die göttliche Natur Christi bezogen.

Gewiss wird hier eine Fragestellung der frühen Kirche zum Leitfaden der Schriftlektüre. Aber trifft für diese Rezeption das Urteil von Dieter Zeller zu: „Griechisch gebildete christliche Autoren sahen“ in der Wendung hyios tou anthrōpou „irrtümlich die Menschlichkeit Jesu – im Gegensatz zu seiner Gottessohnschaft“[57]? Nur „irrtümlich“? Gerade dann, wenn das Wort „Menschlichkeit“ nicht allein auf eine gleichsam physische Natur bezogen bleibt, sondern mindestens ebenso ein Verhalten, eine in Leid und Hoffnung solidarische Lebensweise bezeichnet, trifft es das biblische Reden vom ben adam, vom bar enasch und vom hyios tou anthrōpou in all seinen Facetten und in dem, was es in verbindlicher Vielfalt verbindet.


2. Sigmar Polkes Menschensohnfenster

„Dem Betrachter bleibt viel zu tun.“
                                       (Gottfried Boehm[58])

Sigmar Polke arbeitete seit 2007 am Zyklus seiner Fenster für das Zürcher Grossmünster; das Werk war 2009 abgeschlossen.[59] Der schon von schwerer Krankheit gezeichnete Künstler konnte bei der Einweihung der Fenster in einem feierlichen Gottesdienst am 18. Oktober 2009 noch teilnehmen; er starb am 10. Juni 2010 im Alter von 69 Jahren in Köln.[60] Einem der Fenster gab Sigmar Polke den Titel „Der Menschensohn“. Allein um dieses Fenster soll es jetzt zu tun sein.

Beim Versuch, Polkes Zürcher „Menschensohnfenster“ mit den im ersten Teil des Beitrags zur Diskussion gestellten exegetischen Beobachtungen und hermeneutischen Erwägungen ins Gespräch zu bringen, geht es – darin der Lektüre der biblischen Texten vergleichbar – nicht um die Rekonstruktion der intentio auctoris[61] bzw. in diesem Fall der intentio pictoris, d.h. nicht um das, was der Autor bzw. der Künstler wirklich gemeint habe und damit habe sagen wollen. Dazu könnte ich im Blick auf das „Menschensohnfenster“ nur sagen: „Ich weiß es nicht.“ Aber selbst wenn wir es wüssten, wäre das nicht der gültige Rahmen der erlaubten Interpretationen. Aber geht es dann allein um die intentio spectatoris oder contemplatoris, um das, was die jeweiligen Betrachterinnen und Betrachter in diesem Kunstwerk erblicken und erblicken wollen und was dann neben tendenziell unendlich vielen anderen Blickweisen sein je subjektives Recht beanspruchen darf? In dieser Linie steht, wenn ich es recht verstehe, das Urteil Gottfried Boehms, der zum „Menschensohnfenster“ ausführt: „Was aber veranlasste Polke, die optische Kippfigur mit dem Namen des biblischen Menschensohns zu belegen? Die Antwort liegt weder in der Beschreibung der verwendeten Figur, noch viel weniger in externen Bezügen, welcher Art auch immer. Sie liegt allein in der visuellen Erfahrung, die jeder Betrachter, wenn er es nur will, machen kann.“[62]

Im behutsamen Widerspruch zu dieser Sicht – jedenfalls zum Wort „allein“ – frage ich, ob nicht eben der Titel „Der Menschensohn“ und dann umso mehr die Gestaltung des Fensters und vollends sein Ort in dieser Zürcher Kirche Dimensionen aufruft und ins Bild bringt, die über die je subjektiven Betrachtungsmöglichkeiten hinaus und ihnen voraus gehen. Zu tun ist es dann – abermals wie bei den biblisch-exegetischen Beobachtungen und Intuitionen – um die intentio operis, d.h. um das, was sich im Werk selbst zeigt – selbst da, wo sich da etwas zeigen mag, was dem Au(k)tor womöglich selbst so nicht vor Augen war.

Dabei sind freilich – ein weiteres Mal wie beim Versuch, die biblischen Texte vom „Menschensohn“ zu verstehen – die Ebenen, die intentiones zu unterscheiden, doch nicht zu scheiden. In einer gewissen Gemengelage zwischen dem, was der Künstler darstellen wollte, dem, was die jeweiligen Betrachterinnen und Betrachter darin sehen wollen, und dem, was das Werk selbst an Motiven und Querbezügen ins Bild setzt, kann sich so ein Prozess des Verstehens ereignen.

Das Menschensohnfenster im Ensemble der Fenster

Die Bedeutung der Fenster gerade in einer alten und ehrwürdigen evangelisch-reformierten Kirche wie dem Zürcher Grossmünster resultiert nicht zuletzt daraus, dass sie von Bilderkritik und Bildersturm[63] ausgenommen waren. Anders als Heiligenbilder und -figuren galt den Glasfenstern und ihren Darstellungen niemals eine Verehrung der Gläubigen[64] und darum konnte und kann gerade in ihnen das Bedürfnis nach einer ästhetischen und künstlerischen Gestaltung des Kirchenraums mit dem theologisch ernst genommenen Bilderverbot der Bibel zusammengehen.

In dieser Linie steht im Chor des Zürcher Grossmünsters das große Weihnachtsfenster von Augusto Giacometti[65] und dann auch der Zyklus der Glasfenster[66] Sigmar Polkes. Er umfasst – mit Einschluss der Lünette über dem Nord- und der Rosette über dem Südportal sieben – Achatfenster[67] und fünf figürliche Fenster, die jeweils alttestamentliche Gestalten, Geschichten und Bezeichnungen aufnehmen.

Im Ensemble der fünf einander in Form und Abmessungen sehr ähnlichen figürlichen Fenster[68] nimmt „Der Menschensohn“ in mehrfacher Hinsicht eine Sonderrolle ein. Anders als die vier weiteren Figurenfenster – Elijas Himmelfahrt, König David, Isaaks Opferung, Der Sündenbock – bezieht es sich nicht auf eine konkrete biblische Erzählfigur, sondern auf ein schillerndes Wort. Weiterhin anders als bei jenen vier „zitiert“ Polke bei diesem Fenster auch keine Motive aus Evangeliaren und Buchmalereien aus dem 12. Jahrhundert, d.h. der Zeit der romanischen Architektur des Grossmünsters.

Eine weitere Besonderheit des Menschensohnfensters, nämlich sein Schwarz-Weiß in der Form der Schwarzlot-Technik[69], macht in seinen Variationen und Schattierungen, seinen Überstrahlungseffekten bei Lichteinfall von außen und seinen Anamorphosen, d.h. Elementen, die nur unter einem bestimmten Blickwinkel sichtbar werden[70], das Nicht-fest-Gestellte des „Menschensohns“ sinnfällig. Womöglich steht gerade diese Technik, in der das Helle erscheint, wenn das Dunkle entfernt wird, auch für das „Es werde Licht!“ (j´hi or, lat. fiat lux) der biblischen Schöpfungsgeschichte in Gen 1,3.[71]

Mit den anderen vier figürlichen Fenstern verbindet jedoch „Der Menschensohn“, dass es in ihm um eine alttestamentliche Bezeichnung bzw. eine Wortverbindung geht, welche dann auch auf das Neue Testament hin transparent ist.[72] Damit scheinen in dieser Figuration zunächst die Redeweisen der hebräischen Bibel vom „Menschensohn“ auf, in denen er als Gattungswesen „Mensch“ ins Bild kommt oder als „du, Mensch“ von Gott angeredet wird. Ob und wie dieser „Menschensohn“ im Neuen Testament eine neue Füllung erfährt, ist ebenso eine Frage an die biblischen Texte wie an Polkes „Menschensohnfenster“ selbst.

Kipp-Bilder

Ein zentrales Gestaltungsmotiv des Menschensohnfensters ist das der Kippbilder, in denen sich je nach Blickweise entweder Kelche zeigen oder einander im Profil zugewandte menschliche Gesichter. Zugrunde liegt dem die auf den dänischen Psychologen Edgar J. Rubin (1886-1951) zurückgeführte sogenannte Rubinfigur, die sich als Vase oder als zwei Profile von Gesichtern sehen lässt und in einer einfachen Form etwa wie die hier abgebildete aussieht. Dabei erscheinen eine Vase, ein Kelch oder aber zwei Profile auf einer Fläche wechselweise als Figur oder als Grund. Beide Wahrnehmungen sind möglich, das Auge der Betrachterin kann sich auch darin einüben, beide im raschen Wechsel zu sehen; doch es ist niemals möglich, beide gleichzeitig wahrzunehmen. Das Motiv solcher Kippfiguren spielt bei Ludwig Wittgenstein eine Rolle, der es aus einem Aufsatz des amerikanischen Psychologen Joseph Jastrow (1863-1944) kannte. Am Ende von Jastrows 1899 erschienener Abhandlung[73] erscheint ein Kippbild, in dem sich entweder ein Hase oder eine Ente zeigt. Wittgenstein, interessierte vor allem der Aspektwechsel in der Wahrnehmung, das Umschlagen, das Fluktuieren, die Verwandlung.[74]

Ein wieder anderes Kippbild mit dem Titel „Blüthe und Verwesung“ lässt entweder ein junges Paar oder einen Totenkopf sichtbar werden. Detlef Dieckmann stellt es seiner Studie über das Buch Kohelet voran und visualisiert so seine These, dass diesem alttestamentlichen Buch, das sich z.B. sowohl als Einsicht in die Vergeblichkeit allen Tuns wie als Plädoyer für die Lebensfreude lesen lässt, wie einem Vexierbild mehr als eine Rezeption und mehr als eine Auslegung nicht nur im Diskurs der ExegetInnen zugeschrieben wird, sondern ihm selbst eingeschrieben ist.[75] Dass die Mehrdeutigkeit zur Mehrdeutlichkeit werden kann, wollte ich in einem meiner Bände „Theologische(r) Reden“ durch ein einfaches Modell der Rubinvase als dessen Coverbild zum Ausdruck bringen.[76] Ihre Mehrdeutigkeit oder Mehrdeutlichkeit macht solche Kippbilder geradezu zu einem hermeneutischen Modell.[77]

„Der Menschensohn“ als Kippbild

Sigmar Polke hat im Menschensohnfenster das Motiv der Rubinvase aufgenommen und in vielfacher Weise variiert und eindrücklich vertieft. Die Mehrdeutigkeit wird dadurch verstärkt, dass die Grenzlinie zwischen Figur und Grund – und so zwischen den wechselweise sichtbar werdenden Gesichtern und Kelchen – bald scharf, bald abschattend bzw. überblendend verläuft. Diese Unschärfen und Blendwirkungen erwecken – zumal in einem bestimmten Lichteinfall von außen – den Eindruck, jene Gesichter seien in Bewegung.

Der Hauptteil des Fensters zeigt acht Kelche, die sich teils stark, teils geringfügig voneinander unterscheiden. Im Halbrund des Fensterkopfs erscheint ein weiterer Kelch, der sich – in reziprokem Gegenüber zu den acht – dunkel von einem hellen Grund abhebt. Die acht Kelche des hochgestellten Rechtecks haben unterschiedliche Formen; Katharina Schmidt beschreibt sie als „die elegant ziselierte Tazza oben, die stattlichen Pokale in der Mitte, unten das dünne, leicht missglückte schiefe Exemplar, eine Art Ausschussware.“[78] Einander sehr ähnlich und doch nicht gleich erscheinen die vier „Pokale“ in der Mitte, die einer Hin-Sicht chiastisch angeordnet sind.

Nimmt man in jenen acht Kelchen von unten nach oben „eine emporzüngelnde Stufenleiter“[79], so führt die Fragilität der Gesamtfigur zur bangen Frage, ob jene kleinen und schiefen Kelche ganz unten die Last der großen mittleren zu tragen vermöchten. Ähnlich instabil erscheint auch die Relation der beiden schmalen Tazze oben zum Gewicht des Fensterkopfs. Auf irritierende Weise strahlt dieses Fenster Ruhe aus und wirkt zugleich fragil und instabil.

Eine eigene Rolle kommt dem – im Gegensatz zu den acht darunter – dunklen Kelch vor hellem Grund im Fensterkopf zu. Sein Fuß wirkt wie nach unten noch einmal heruntergeklappt, von ihm gehen sich ausbreitende Schraffuren aus.[80]

Kann man da eine Anmutung der in alten Bildern und auch in Kirchenfenstern nicht seltenen Figur der den Heiligen Geist verkörpernden Taube sehen, von der Strahlen ausgehen oder deren Federn in den zarten Schraffuren sichtbar werden wie etwa in einem franziskanischen Stundenbuch und Missale von 1380 (Nationalbibliothek Paris) [rechts] oder in Gian Lorenzo Berninis „Alabastertaube“ über der von ihm um 1666 geschaffenen Cathedra Petri im Petersdom in Rom [links]?

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Berninis Taube ist bei von außen durchscheinenden hellen Licht nur unscharf zu sehen. Zu diesem Blendungseffekt und seinem philosophisch-theologischen Hintergrund in der ‚negativen Theologie‘ des Nikolaus von Kues formuliert Hole Rößler: „Die Gewissheit der Unmöglichkeit von Erkenntnis wird anhand der Erfahrung einer visuellen Störung veranschaulicht.“[81] Auch wenn die Anmutung einer solchen Taube im Fensterkopf in Polkes „Der Menschensohn“ weit hergeholt sein mag, weil Kelch und Taube nicht so ohne Weiteres in eins gesehen werden dürften, so bekommt es jedenfalls der zitierte Satz Rößlers über Berninis Taube mit den visuellen Störungen zu tun, die das Menschensohnfenster in seinen Kippfiguren und Überblendungen den Betrachtenden zumutet und zutraut. Abermals mit Gottfried Boehm: „Dem Betrachter bleibt viel zu tun.“

Menschengesichter

Den unterschiedlichen Kelchen korrespondieren die in den Kippfiguren alternativ sichtbar werdenden lebensgroß erscheinenden, faktisch aber überlebensgroßen Menschengesichterprofile in ihren Ähnlichkeiten und ihren Unterschieden. Selbst die vier mittleren entsprechend den Kelchen als ihr Hintergrund chiastisch angeordneten sehr ähnlichen Profile erscheinen durch Schatten und Überblendungen wiederum unterschiedlich.

Johannes Stückelberger sieht in diesen Gesichtern „eine sinnreiche Anspielung auf Zürich als Vaterstadt Lavaters, der hier seine ‚Physiognomischen Fragmente‘ veröffentlichte“.[82] Johann Caspar Lavater hatte sich u.a. eine große Menge von Silhouetten berühmter Menschen angelegt. Als Beispiel hier jedoch „Neun erdichtete Silhouetten zur Prüfung des physiognomischen Genies“ aus dem 6. Kapitel seines Werks, Dritter Abschnitt „Von dem Nutzen der Physiognomik“.

Im Gegensatz zu Lavaters (pseudo)objektiver (und im Blick auf die spätere Typisierung von Verbrechern anhand ihrer Körpermerkmale bei Cesare Lombroso und vollends die „Rassenlehren“ fatal gewordener) „Physiognomik“, mit welcher er den Charakter eines Menschen im Erscheinungsbild seines Gesichts feststellen wollte, erscheinen die Menschengesichterprofile in Polkes Menschensohnfenster gerade nicht fest gestellt. Sie zeigen sich zudem nicht an und für sich und auch nicht aufgereiht, sondern einander zugewandt – wie in einem Dialog einander gleichender, doch nicht gleicher Menschen. Stellt das Fenster somit den Menschen dar? Es tut es in eben der Widersprüchlichkeit, in der die Rede von dem Menschen ebenso falsch wie notwendig ist.

Gegenüber allen, die zu wissen vorgeben, wie der Mensch sei, bedarf es des Einspruchs. Denn den Menschen gibt es nicht, es gibt nur Menschen in ihrer jeweiligen Individualität und auch ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Stellung: Alte und Junge, Kranke und Gesunde, Frauen und Männer, Reiche und Arme, Herrschende und Unterdrückte, Gläubige und AgnostikerInnen, Hoffnungsfrohe und Verzweifelte und noch viele weitere Unterscheidungen und mancherlei Zwischenformen und Schattierungen. Gegen jeden Versuch aber, Menschen ein Mehr oder Weniger des Menschseins und der Menschenwürde zuzubilligen, bedarf es der Rede von dem Menschen. Der Mensch, männlich und weiblich, ist nach Gen 1,27 als Bild Gottes erschaffen. In Gen 5,1, wo die Erschaffung des Menschen als Gottes Bild aufgenommen und in die reale Lebenswelt „jenseits von Eden“ überführt ist, sah Ben Asai im Gegensatz zu Rabbi Akiva und der Mehrheit der Rabbinen (und auch zu jenem Rabbi aus Nazaret [vgl. Lk 10,27f.]) das Hauptgebot (k´lal gadol) – noch über das Gebot der Nächstenliebe hinaus.[83] Denn während die Nächstenliebe, will sie sich in konkretem Tun verwirklichen, zwischen ganz nahen, nahen, ferneren, fernen und ganz fernen Nächsten wird unterscheiden müssen, ist in Gen 1,27; 5,1 das Prädikat „Bild Gottes“ und damit die unteilbare und unzerstörbare Würde einem und einer jeden eingeschrieben, die Menschenantlitz tragen. Das deutsche Wort „Antlitz“ enthält die Vorsilbe „ant-“, die – wie in „Antwort“ oder „sich verantworten“ – eine wechselseitige Beziehung markiert.

Das Menschensohnfenster setzt eben diese Dialektik ins Bild: Dargestellt ist der Mensch und den Menschen gibt es allein in den bald größeren, bald kleineren Unterschiedenheiten der je einzelnen Menschen und in ihren wechselseitigen Beziehungen. In eben diesem Sinn manifestiert sich in den einander zugewandten Menschengesichterprofilen das Profil dessen, welcher „Der Menschensohn“ ist, das Profil und die Signatur des Menschen.

Kelche

Im fluktuierenden, hin und her springenden Blick auf die Kelche und die Gesichter zeigt sich Eindruck von Trennung und Verbindung. Je schmaler der Kelch, desto näher beieinander stehen die Gesichter und desto schärfer sind deren Profile konturiert. Bei dem Kelch im Fenster unten rechts, der sich mit der oben zitierten Beschreibung von Katharina Schmidt wie eine „Ausschussware“ ausmacht, sind die ihn gleichsam rahmenden Profile der Gesichter zu beachten. Das Profil links scheint keinen ausgeprägten Mund zu haben. Dokumentiert das ein Defizit oder ein ‚beredtes Schweigen‘? Menschen sind unterschiedlich profiliert und haben unterschiedliche Ausdrucksformen. Doch bei Menschen gibt es keine „Ausschussware“!

Bei den großen Kelchen in der Mitte überstrahlen die im Chiasmus ihrer Anordnung im „Chi“ (X) links oben und rechts unten platzierten die Gesichter. Geht es bei all dem allein um den visuellen Eindruck einer so variierten und vertieften „Rubinvase“? Gewiss ist es bereits eine Interpretation, in diesen Gefäßen „Kelche“ zu sehen. Der Anblick einer klassischen Rubinfigur wird schwerlich auf eine solche implikationsreiche Deutung führen und der eines gedachten Glasbildes, welches allein jenen „Turm“ aus je vier in zwei senkrechten Reihen angeordneten übereinander stehenden Gefäß-Gesichter-Kippbildern darstellte, wird auch kaum an Kelche denken lassen. Wer jedoch das neunte Gefäß im Fensterkopf mit hinzunimmt und mehr noch, wer vor diesem Bild an seinem Ort in Kirchenraum des Zürcher Grossmünster steht, für das es geschaffen und mit dem Titel „Der Menschensohn“ versehen wurde, wird eine biblische Konnotation für ein Element der intentio operis ansehen und es so wahr nehmen.

Steht „Der Menschensohn“ im Ensemble der figürlich gestalteten Fenster für eine alttestamentliche Figur, so verweist das Motiv der Kelche auf eine vor allem neutestamentliche Perspektive. Doch abermals erweist sich das Motiv als nicht eindeutig, vielmehr ist es im Neuen Testament mit zwei nicht zu scheidenden, doch zu unterscheidenden Kontexten verknüpft.

Da ist auf der einen Seite der Kelch des Abendmahls, von dem in den Evangelien in Mt 26,27; Mk 14,23, Lk 22,17.20 und in den Briefen in 1Kor 11,25-28 die Rede ist. An der Frage, ob dieser Kelch bzw. der in ihn gefüllte Wein das Blut Jesu Christi ist (est) oder bezeichnet (signifikat) scheiterte im Marburger Religionsgespräch 1529 der Einigungsversuch zwischen Martin Luther und Huldrych Zwingli. Die im Menschensohnfenster im Zürcher Grossmünster, d.h. in der Kirche Zwinglis und dann der Heinrich Bullingers, aufleuchtenden gerade nicht statuarischen, sondern sehr unterschiedlich gestalteten und im visuellen Eindruck oszillierenden Kelche stehen dem „significat“ deutlich näher.

Jenseits der zwischen Luther und Zwingli strittig bleibenden Frage findet sich bei Paulus in 1Kor 10,16a die Betonung der „Gemeinschaft durch Teilhabe“ (koinōnia). „Der Kelch des Segens, über den wir den Lobpreis sprechen, ist er nicht Teilhabe am Blut Christi?“, übersetzt die Neue Zürcher Bibel; etwas anders akzentuiert verdeutscht Luise Schottroff in der Bibel in gerechter Sprache: „Der Becher des Segens, bringt er uns nicht in die Gemeinschaft mit dem Blut Christi, indem wir Gott segnen?“

Kippt das Bild der Kelche oder Becher im Menschensohnfenster in das der einander zugewandten Gesichter um, wird eine solche koinōnia sinnfällig.[84]

Nicht ohne eine innere Beziehung zum Kelchwort des Abendmahls und doch in einer eigenen Symbolik ist an mehreren Stellen im Neuen Testament von einem Trinken des Kelchs oder Bechers (potērion) die Rede, das für die Hinnahme des Leidens steht. In diese Linie gehört Jesu Wort an die Mutter der Söhne des Zebedäus, die mit diesen zu Jesus kommt und für sie Ehrenplätze in Jesu Königsherrschaft (basileia) erbittet. Jesus antwortet:

„Ihr wisst nicht, worum ihr bittet. Könnt ihr den Becher trinken, den ich trinken muss?“ Sie antworten ihm: „Ja, wir können es.“ Er sagt zu ihnen: „Meinen Becher werdet ihr trinken. Doch es ist nicht in meiner Macht, zu vergeben, wer zu meiner Rechten und Linken sitzen wird. Das wird jenen zukommen, denen es von Gott, Vater und Mutter für mich, gegeben wird.“ (Mt 20,22f. in Luise Schottroffs Übersetzung in der Bibel in gerechter Sprache, vgl. Mk 10,38f.)

In entsprechender Bedeutung spricht Jesus vom potērion in Getsemane in seiner Bitte an Gott:

„... wenn es möglich ist, soll dieser Becher an mir vorübergehen. Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ (Mt 26,39, dazu V.42 und Lk 22,42; Mk 14,36, dazu auch Joh 18,11)

Eine doppelte Symbolik des Kelches erscheint auch im Alten Testament. So spricht Ps 116,13 vom „Kelch des Heils“ bzw. vom „Becher der Rettungen“ (kos j´schuot) und Jes 51,17 vom „Kelch des Grimms“ bzw. vom „Becher des göttlichen Zorns“ (kos ha-tar´ela).

Kelch und Menschensohn

Die Kippbilder machen zwei Aspekte sichtbar, die nahe zusammen kommen, doch nicht gleichzeitig gesehen werden können. Ich möchte dem eine Beobachtung an den neutestamentlichen Passagen an die Seite stellen, in denen vom potērion, vom „Kelch“ oder „Becher“ und vom hyios tou anthrōpou, vom „Menschen“ die Rede ist. Beide Wendungen tauchen an keiner Stelle in unmittelbarer Nähe, etwa in einem Vers auf. Doch findet sich an mehreren Stellen die Rede vom „Kelch“, auf die dann fünf oder sechs und einmal zwölf Verse später und noch im selben Zusammenhang der hyios tou anthrōpou genannt wird. Es handelt sich um Mt 20,22f. und dann V. 28, um Mk 10,32f. und dann V. 45, um Mt 26,39 und dann V. 45 und um Mk 14,36 und dann V. 41. An all diesen Stellen kommt etwas zusammen, das durch einen Übersprung, eine Überblendung im Lesen als Zusammengehöriges sichtbar wird. Das Verbindende wird im Getrennten sichtbar – in Sigmar Polkes Fenster „Der Menschensohn“ und in den biblischen Texten.

Kein Fazit

„Wir Maler nehmen uns gewisse Freiheiten heraus wie die Dichter und die Narren [...]“
                                                   (Paolo Veronese[85])

„Hier scheint es mir daher folgerichtig, daß das Gespräch, das wir sind, ein nie endendes Gespräch ist.“
                                             (Hans-Georg Gadamer[86])

Nichts, dünkt mich, wäre beim Versuch, Sigmar Polkes Fenster „Der Menschensohn“ mit der biblischen Rede vom ben adam, bar enasch und hyios tou anthrōpou in ein Gespräch zu bringen, verfehlter, als ein abschließendes Fazit zu ziehen. Das würde dem Kunstwerk ebenso wenig gerecht wie den biblischen Texten. Gemeinsam ist in beiden Fällen das Ungefähre, das Nicht-Festgestellte, das Oszillierende mit seinen Schatten und seinen Überblendungen. Im Menschensohnfenster erscheint der Mensch in seinen (und ihren) vielfachen Profilen, bald klar konturiert, bald verschwimmend. Eben das ist kein Gegensatz zur biblischen Rede vom ben adam, bar enasch und hyios tou anthrōpou. Vielmehr zeigen gerade die biblischen Texte auf je ihre Weise das Nicht-Festgestellte, indem es in ihnen um einen bestimmten Menschen und um den Menschen geht und auch um das, was – in biblischer Erinnerung, in Erfahrung und in hoffnungsvoll-gewisser Erwartung – Menschsein heißt und Menschlichkeit ist.

Dabei vermag Sigmar Polkes Fenster „Der Menschensohn“ womöglich mehr zum Verstehen der biblischen Wortverbindungen und dem, worauf sie hinweisen, beitragen als alle Versuche, seine vielfältigen und oszillierenden alt- und neutestamentlichen Verwendungen in getrennte Schubladen zu versorgen. Polkes Glasfenster „Der Menschensohn“ kann als ein Sinn-Bild des Menschen und des Menschen gesehen werden, wie er in der „Schrift“ als ben adam, bar enasch und als ho hyios tou anthrōpou in unterschiedlichen Aspekten und Fokussierungen und doch in einem biblisch-kanonischen Zusammenhang benannt, erfahren und erwartet wird.

Was ist da zu lesen? – Wie ist da zu lesen? Was ist da zu sehen? – Wie ist da zu sehen? Im Gespräch mit einem anderen jüdischen Toralehrer in Lk 10 fragt Jesus diesen – so die Lutherbibel in der Revision von 1984 in V. 26 – „Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?“ Ganz ähnlich die Neue Zürcher Bibel: „Was liest du da?“ und die katholische Einheitsübersetzung: „Was liest du dort?“ Ein genauerer Blick auf den griechischen Text führt jedoch auf die Wiedergabe: „In der Tora – Was steht da geschrieben? Wie liest du sie (pōs anaginōskeis)?“ – wie auch genauer bei Luther selbst (1545): „Wie liesestu?“, in der (alten) Zürcher Bibel: „Wie liesest du?“ und der Bibel in gerechter Sprache: „Wie liest du?“

Es geht neben dem „Was“ des zu Lesenden immer auch um ein „Wie“. In entsprechender Weise stellt sich die Frage nach der Betrachtung eines Bildes wie des „Menschensohnfensters“. Nicht, jedenfalls nicht allein: „Was siehst du?“, sondern auch und womöglich mehr noch: „Wie siehst du es?“ Eine Antwort lautet für mich: „Jedenfalls nicht immer gleich.“ Auch das gilt für die biblischen Texte wie für Sigmar Polkes Bild vom „Menschensohn“. Darum noch ein weiteres Mal im Anschluss an Gottfried Boehm: Dem Leser, der Leserin, der Betrachterin, dem Betrachter bleibt viel zu tun.

Anmerkungen

[1]    Einige Hinweise auf Wörterbuchartikel und Sammelbände zum Thema: Carsten Colpe, Art. ὁ ὑιὸς τοῦ ἀνθρώπου, ThWNT VIII, 1969, 403-481; Rudolf Pesch/ Rudolf Schnackenburg (Hg.), Jesus und der Menschensohn (FS Anton Vögtle), Freiburg u.a. 1975; Dieter Sänger (Hg.), Gottessohn und Menschensohn (BThSt 67), Neukirchen-Vluyn 2004; Anton Vögtle, Art. Menschensohn, NBL II, 1995, 766-772, sowie der ausführliche Art. „Menschensohn von Dieter Zeller im WiBiLex (verfasst im Januar 2011), dazu auch der ebenso knappe wie umsichtige Glossarartikel „ben adam“ von Martin Leutzsch in der Bibel in gerechter Sprache (4. Aufl., Taschenausgabe, Gütersloh 2011, 1787f.), der die in dieser Übersetzung unterschiedlichen Wiedergaben der hebräischen, aramäischen und griechischen Wortverbindung(en) nennt und und abwägend ihr jeweiliges Recht begründet.

[2]    Hebräische, aramäische und griechische Wörter sind hier und im Folgenden in einer stark vereinfachten Umschrift und auch ohne Markierung des hebr. Wortverbindungszeichens (Maqqef) wiedergegeben.

[3]    Jedenfalls für die synoptischen Evangelien plädiert Carsten Jochum-Bortfeld, „Denn der Mensch ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern, um zu dienen“ (Mk 10,45) – zur theologischen Bedeutung des hyios tou anthropou, in: Marlene Crüsemann/ ders. (Hg.), Christus und seine Geschwister. Christologie im Umfeld der Bibel in gerechter Sprache, Gütersloh 2009, 159-172, gegen die Auffassung der Wendung als Hoheitstitel und für die Bedeutung „Mensch“. Es geht für Jochum-Bortfeld gerade nicht um Hoheit, sondern – dafür steht v.a. das Titelzitat seines Aufsatzes – um zutiefst menschliche Erfahrungen von Solidarität und Befreiung, aber auch von Verfolgung, Leiden und Tod. Die hervorhebende Schreibweise „MENSCH“ in seinem Beitrag zeigt zugleich an, dass es sich beim hyios tou anthrōpou um eine „literarische[.] Figur“ handelt, in der diese „menschliche(n) Erfahrungen zur Sprache“ kommen (ebd. 170). In dieser Linie auch Luise Schottroff, Heilungsgemeinschaften. Christus und seine Geschwister nach dem Matthäusevangelium, im selben Band, 23-44, zum hyios tou anthrōpou bes. 26-28. Gern nehme ich auch C. Jochum-Bortfelds Hinweis (ebd. 170) auf den Roman von Augusto Roa Bastos „Hijo de Hombre“ (Buenos Aires 1960, erw. Ausg. Madrid 1985), dt. „Menschensohn“, München/ Wien 1991 auf, dazu Karl-Josef Kuschel, Jesus im Spiegel der Weltliteratur. Eine Jahrhundertbilanz in Texten und Einführungen, Düsseldorf 1999, 519-537; ders., Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1987, 369-384.

[4]    Für diese Terminologie und Verstehenslinie prägend wurde Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel (FRLANT 82), Göttingen (1963) 51995, bes. 13-53. 454-459.

[5]    Zur Forschungsgeschichte Martin Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament (GNT 11), Göttingen 1998, 288-304, sowie die o. Anm. 1 genannte Literatur.

[6]    Die Möglichkeit der Re-Konstruktion der „echten“ Worte eines „historischen Jesus“ ist mir sehr fraglich geworden, dazu methodisch Dieter Schellong, „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Rückfragen zur Suche nach dem „historischen Jesus“, in: Friedrich-Wilhelm Marquardt u.a. (Hg.), Die Bibel gehört nicht uns (Einwürfe 6), München 1990, 2-47, sowie grundsätzlich und programmatisch Klaus Wengst, Der wirkliche Jesus? Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem „historischen“ Jesus, Stuttgart 2013.

[7]    Zahlreiche weitere Belege für diesen Sprachgebrauch im Art. „ben“ im ThWAT I, 668-682, hier bes. 673ff. (Herbert Haag).

[8]    Vgl. Art. „ben adam“, ThWAT I, 682-689, hier bes. 683f. (Herbert Haag).

[9]    Wenn Jochum-Bortfeld, Mensch, 160, im Blick auf die atl. Rede vom ben adam urteilt: „Von Individualität kann hier keine Rede sein“, greift das m.E. etwas zu kurz. Gewiss ist „Individualität“ eine eher neuzeitliche Kategorie, doch es ist etwas Anderes, ob die Wendung ein Kollektiv bezeichnet oder ob sie als Anrede an einen konkreten einzelnen Menschen – im Sinne eines „Du, Mensch“ erscheint.

[10]   Dazu J. Ebach, Ezechiel isst ein Buch – Ezechiel ist ein Buch, in ders., „Iss dieses Buch!“ Theologische Reden 8 (NF 2),Wittingen 2008, 11-24.

[11]   Fr.-W. Marquardt, Was dürfen wir hoffen, wenn wir hoffen dürften? Eine Eschatologie, Bd. 3, Gütersloh 1996, hier 76 – zum Thema in seinen verschiedenen Facetten 58-109.

[12]   Zur historischen Situation und literarischen Form der Danielapokalypse sowie seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Klaus Koch, Das Buch Daniel (EdF 144), Darmstadt 1980; ders., Europa, Rom und der Kaiser vor dem Hintergrund von zwei Jahrtausenden Rezeption des Buches Daniel (Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg, 15 [1997] Heft 1), Hamburg 1997; Othmar Keel/ Urs Staub, Hellenismus und Judentum. Vier Studien zu Daniel 7 und zur Religionsnot unter Antiochus IV. (OBO 178), Freiburg-Schweiz/ Göttingen 2000; John J. Collins/ Peter W. Flint (Hg.), The Book of Daniel. Composition and Reception, 2 Bde (VTS 83,1.2) Leiden u. a. 2001; Mariano Delgado u.a. (Hg.), Europa, tausendjähriges Reich und neue Welt. Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 1), Freiburg,-Schweiz/ Stuttgart 2003; Katharina Bracht/ David S. du Toit (Hg.), Die Geschichte der Daniel-Auslegung in Judentum, Christentum und Islam. Studien zur Kommentierung des Danielbuches in Literatur und Kunst (BZAW 371), Berlin u.a. 2007. – Überblicke zu Daniel finden sich in: Erich Zenger u.a., Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 82012, 610-621 (Herbert Nier), ferner in den großen theologischen Wörterbüchern: TRE 8, 325-349 (Jürgen-Christian Lebram), RGG4 II, 556-560 (John J. Collins/ Klaus Koch); eine gut lesbare Gesamtdarstellung bei Matthias Albani, Daniel. Traumdeuter und Endzeitprophet (BG 21), Leipzig 2010.

[13]   Zu beachten ist, dass LXX auch in der Rede vom „Hochbetagten“ über die aramäische Fassung hinaus in der Wiedergabe hōs palaios hēmerōn ein solches „wie“ (hōs) hat.

[14]   Dazu in befreiungstheologischer Perspektive Byung Hak Lee, Befreiungserfahrungen von der Schreckensherrschaft des Todes im äthiopischen Henochbuch (diss. theol. Bochum 1998), Waltrop 2005, bes. 259-271.

[15]   Dazu Klaus Koch, Der „Menschensohn“ in Daniel, ZAW 119 (2007) 369-385.

[16]   R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit 2 (GAT 8/2), Göttingen 1992, 662f.; in dieser Line auch Marquardt, Eschatologie 3, 76f., sowie J. Ebach, Apokalypse. Zum Ursprung einer Stimmung, in: Einwürfe (hg. v. Friedrich-Wilhelm Marquardt u.a.) Folge 2, München 1985, 5-61, hier bes. 33ff.; ders., Weltreiche und (k)ein Ende. Daniel – das Buch und seine Folgen, Referat bei der Tagung „Der antike Mittelmeerraum: ein pluriverses Universum, Bochum, Juli 2013) – der von Richard Faber und Achim Lichtenberger hg Tagungsband erscheint in München, voraussichtlich 2014.

[17]   Dazu und zum Folgenden Klaus Wengst, „Wie lange noch?“ Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, 110-118.

[18]   H. Lichtenberger, Die Apokalypse (ThKNT 23), Stuttgart 2014, 74f.

[19]   U.B. Müller, Die Offenbarung des Johannes (ÖTK 19), Gütersloh/ Würzburg 1984, 83.

[20]   Viele Handschriften korrigieren die Wortfolge entsprechend in ein hyiō, vgl. den Apparat im NT Graece (Nestle/ Aland27).

[21]   So der Sache nach Walter Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, 6. Aufl., bearb. v. Viktor Reichmann,. Berlin/ New York 1988, 1149, zum Stichwort homoios. Bauers Bezeichnung „Solözismus“ nimmt den antiken griechischen Begriff soloikismos für einen syntaktischen Fehler auf. Der bezieht sich wohl auf die Leute von Soloi in Kilikien, die ein so eigentümliches Griechisch gesprochen hätten, dass man sie kaum habe verstehen können. Es spricht viel dafür, dass die Muttersprache des Verfassers der Johannesapokalypse Hebräisch-Aramäisch war; ob seine Verstöße gegen Regeln der griechischen Grammatik jedoch einer mangelhafte Beherrschung des Griechischen geschuldet sind, oder ob es sich um bewusste theologische Pointierungen handelt, bleibt zu fragen (für die zweite Möglichkeit Klaus Wengst, Hebräisch für Neutestamentler, in: Kerstin Schiffner u.a. [Hg.], Fragmentarisches Wörterbuch. Beiträge zu biblischen Exegese und christlichen Theologie, FS Horst Balz, Stuttgart 2007, 177-187, hier bes. 178).

[22]   So Wilhelm Bousset, Die Offenbarung des Johannes (KEK 16), Neudruck der neubearbeiteten Aufl. 1906, Göttingen 1966, 160.

[23]   Wengst, „Wie lange noch?“, hier 112f.

[24]   In Offb 1,13 übersetzt er dieselbe Wendung traditionell mit „der einem Menschen ähnlich war“.

[25]   Wengst, „Wie lange noch?“, 113.

[26]   Zu Luthers Schreibweise(n) Heinrich Assel, Der Name Gottes bei Martin Luther. Trinität und Tetragramm – ausgehend von Luthers Auslegung des Fünften Psalms, EvTh 64 (2004) 363–378; Charlotte Methuen, HErr HERR. Zum Umgang mit dem Gottesnamen in der Lutherbibel, in: Chr. Gerber u.a. (Hg.), Gott heißt nicht nur Vater, Göttingen 2008, 130-144.

[27]   So die das bloße egeneto als Verb beachtende Übersetzung bei Peter Dschulnigg, Das Markusevangelium (ThKNT 1), Stuttgart 2007, 103.

[28]   Die Abfolge der Rede vom anthrōpos in V. 27 und vom hyios tou anthrōpou in V. 28 kann (mit Jochum-Bortfeld, Mensch, 165 Anm. 32) als Aufnahme von Ps 8,5 verstanden werden, wo die Wörter enosch (LXX anthrōpos) und ben adam (LXX hyios anthrōpou) einen Parallelismus bilden und keinen Bedeutungsunterschied anzeigen.

[29]   In dieser Linie Rudolf Pesch, Das Markusevangelium, Bd. 1 (HThK 2/1), Freiburg 1976 (²1980, Sonderausgabe 2001), 185f. (ganz anderes z.B. Joachim Gnilka, Das Evangelium nach Markus [EKK II/!), Zürich u.a./ Neukirchen-Vluyn 1978, 124); Irene Dannemanns Wiedergabe von V. 28 in der Bibel in gerechter Sprache („Die Menschen sind wichtiger als der Sabbat“) nimmt die Verstehensmöglichkeit als Mensch/ Menschenkind pointiert auf; sie ist aber wohl doch eher eine Paraphrase. Es geht nicht darum, ob die Menschen oder der Sabbat wichtiger sind; die Schöpfungsgeschichte in Gen 1,1-2,3 lässt mit guten Gründen gerade nicht den Menschen ‚Krone der Schöpfung‘ sein, sondern schließt mit dem Motiv des Ruhens (schabat) Gottes und der (sans phrase) auf den Schabbat blickenden Heiligung des siebenten Tages als Abschluss der Schöpfung. Wohl aber geht es um die Frage, welche Sabbatpraxis menschendienlich(er) ist.

[30]   Es handelt sich um einen innerjüdischen Konflikt um die Frage, was am Sabbat erlaubt ist und was nicht, dazu David Flusser, Jesus (Rowohlt Monographien), Reinbek bei Hamburg 211999, 48. Dass Jesus hier nicht gegen das Judentum argumentiert, zeigen rabbinische Aussagen, die der Auffassung Jesu entsprechen, z.B. bJoma 85b: „Der Schabbat ist euch gegeben und nicht ihr dem Schabbat“, ähnlich Mechilta zu Ex 31,12 (in der Ausgabe H.S. Horovitz-I.A. Rabin, Jerusalem ²1960, 341,3f.); zum Thema Berndt Schaller, Jesus und der Sabbat (Franz-Delitzsch-Vorlesung 1992), in: ders., Fundamenta Judaica. Studien zum antiken Judentum und zum Neuen Testament (StUNT 25), Göttingen 2001, 125-147.

[31]   Dazu Dschulnigg, Markusevangelium, 105.

[32]   Ebd.

[33]   Klaus Wengst, Jesus zwischen Juden und Christen. Re-Visionen im Verhältnis der Kirche zu Israel, Stuttgart ²2004, 55.

[34]   Marquardt, Eschatologie 3, 93.

[35]   Ebd. 86f. – Zu einem solchen „Ich“ auch Hans-Martin Gutmann, Ich bin’s nicht. Die Praktische Theologie vor der Frage nach dem Subjekt des Glaubens, Wuppertal/ Neukirchen-Vluyn 1999. Der Buchtitel rekurriert darauf, dass Luther bei seiner ersten Messe im Beisein der Oberen und der Mitbrüder, aber auch seines Vaters ausgerufen habe: „Ich bin’s nicht!“ (dazu und zu Erik H. Eriksons Deutung Gutmann, ebd., 7). Im Blick auf ein literarisches „Ich“ gehört in diesen Zusammenhang auch Arthur Rimbauds berühmtes Diktum "Je est un autre" („Ich ist ein anderer“) in einem Brief an Paul Demeny vom 15.5.1871 und dessen Rezeption bei Jacques Lacan.

[36]   Im Sinn der klassisch-antiken Unterscheidung von Träumen in Artemidor von Daldis‘ „Oneirokritikon“ aus dem 2. Jh. n. Chr. handelt es sich nicht um einen symbolischen Traum, welcher der Deutung bedarf, sondern um einen theorematischen, der einen Blick in eine Wirklichkeit öffnet, die dem Alltagsblick verschlossen bleibt.

[37]   So LXX, indem sie das im Hebräischen doppelt beziehbare bo mit ep‘ autēs wiedergibt, d.h. auf das griech. fem. Wort klimax als Wiedergabe des hebr. mask. sullam bezieht.

[38]   Jakob ist im Begriff, in ein fremdes Land zu gehen. Das Traumbild der hinauf- bzw. herabsteigenden Gottesboten dokumentiert so etwas wie eine Wachablösung; nun kommen diejenigen „Engel“ zu Jakob herunter, die ihn in der Fremde begleiten werden. So versteht es mit dem Midrasch Bereschit rabba Par 68, darauf bezogen auch RaSCHI z.St. Benno Jacob, Das erste Buch der Tora. Genesis (Berlin 1934), New York o.J. [1974], 580. Das wäre auch eine Erklärung dafür, dass in der Wendung olim w´jor´dim zuerst die Boten im Blick sind, die hinaufsteigen, weil ihre Aufgabe abgeschlossen ist, und dann die, die herabsteigen, um nun ihre Aufgabe zu übernehmen.

[39]   Dazu im Einzelnen Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 1. Teilbd.: Kapitel 1-10 (ThKNT 4.1), Stuttgart u.a. 2000, 95f.

[40]   Vgl. Wengst, ebd., 96. In dieser Linie erschließt sich Judith Hartensteins und Silke Petersens Wiedergabe des epi ton hyion tou anthrōpou in Joh 1,51 in der Bibel in gerechter Sprache mit „auf den erwählten Menschen“. Dabei wird aber auch ein Grundproblem des Übersetzens der Bibel deutlich, nämlich die Frage, ob man die Wendung hyios tou anthrōpou in Anbetracht ihres biblisch-kanonischen Zusammenhangs jeweils gleich wiedergeben soll oder ob sich eine der jeweiligen Stelle noch am ehesten angemessene Übersetzung empfiehlt. Ich habe hier keinen anderen Rat, als Beides zu versuchen und den Lesenden für ihre Lektüre Beides zu präsentieren.

[41]   So Friedrich Büchsel, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 41946, 43, m.E zutreffend zu dieser Stelle. Seine Lektüre des Jakob-Bezugs als Überbietung – was Jakob nur geträumt habe, werde bei Jesus Wirklichkeit (so z.B. auch Joseph Ratzinger, Jesus von Nazareth, 1. Teil, Freiburg 2007, 208) – ist dagegen weniger durch den Text gedeckt als durch eine bestimmte und als ganze fragwürdige christliche Hermeneutik. Jesus ist nicht „der wahre Jakob“ – als ob der von Gen 28 ein weniger wahrer wäre -, er ist wie jener ein wahrer Jakob. Nicht um die Erfüllung einer zuvor unerfüllten Verheißung geht es hier, sondern um eine weitere Füllung des in der „Schrift“ Grundgelegten.

[42]   Das gilt ebenso für die dann folgende Sequenz über die „Hochzeit zu Kana“, deren messianische und österliche Bezüge sich erst in der weiteren Lektüre des Evangeliums erschließen.

[43]   Zur Israelbezogenheit der Rede vom hyios tou anthrōpou insgesamt sei noch einmal auf Marquardt, Eschatologie 3, hier bes. 85-109, verwiesen.

[44]   Dazu Michael Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 372f., u.a. mit dem Hinweis auf eine gewisse Parallele in Plutarchs Biographie über Tiberius Gracchus (9,5), in der das Leben der Tiere, welche Gruben und Lager haben, dem derer entgegen gestellt wird, die für Italien kämpfen und außer Luft und Licht nichts haben, ohne Wohnsitz sind und nicht zu den Reichen gehören, für die es Altäre und Grabmäler gibt. Gracchus wendet sich mit diesen Worten an die Armen und kritisiert Unrecht und Verlogenheit – die Ortlosigkeit derer, die Jesus nachfolgen, ist dagegen eine selbst gewählte. Deutlich ist aber auch in Wolters Sicht, dass jene soziale Entwurzelung zum Leben in der Nachfolge gehört, mithin nicht auf eine einzelne herausgehobene Gestalt „Menschensohn“ beschränkt ist.

[45]   So betont bei Ulrich Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8-17) (EKK I/2), Zürich u.a./ Neukirchen-Vluyn 1990, 23f., zum „Menschensohn“ bei Mt insgesamt ebd., 497-503.

[46]   So zur Lukasstelle Helmut Gollwitzer, Die Freude Gottes. Einführung in das Lukasevangelium, Gelnhausen/ Freiburg i.Br. 91979, 132.

[47]   Man denke etwa an Egon Holthusens „Der unbehauste Mensch“ (1951), eine Beschreibung der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, aber bereits an die Selbstbeschreibung bei Goethes „Faust“ („Bin ich der Flüchtling nicht? der Unbehauste /Der Unmensch ohne Zweck und Ruh / Der wie ein Wassersturz von Fels zu Felsen brauste, / Begierig wütend nach dem Abgrund zu? [Faust I, 3348-51]). Kommt hier die Faustische Natur im Gegensatz zu dem ins Bild, was Menschen kennzeichnet, die in Leben und Welt zu Hause sind – in diesem Sinne das (inzwischen fatal gewordene) Wort „Unmensch“ –, so begegnet das Motiv des Unbehausten, Nicht-Festgestellten als Kennzeichen des Menschen – in sehr konträren Ausführungen – bei Heidegger, im Werk Sartres und Camus‘ wie in der Anthropologie bei Gehlen und Portmann.
In einer anderen Weise begegnet das Motiv des Unbehausten in Phil 3,20: „Denn unser Bürgerrecht, unsere Heimat“ (diese beiden Bedeutungen hat das hier stehende Wort politeuma) „ist in den Himmeln. Von dorther erwarten wir auch den Messias Jesus, den Herrn, als Retter.“ Heinrich Böll sagte einmal in einem Interview: Es ist eine Tatsache, dass wir alle eigentlich wissen – auch wenn wir es nicht zugeben –-, dass wir hier auf Erden nicht zu Hause sind, nicht ganz zu Hause sind. Dass wir also noch anderswo hingehören und von woanders herkommen“ (In: Karl-Josef Kuschel/ Hartmut Meesmann, Weil wir uns auf dieser Erde nicht ganz zu Hause fühlen. 12 Schriftsteller über Religion und Literatur, München 41987, hier 65.

[48]   Jochum-Bortfeld, Mensch, 167, formuliert: „Ziel der Nachfolge ist die Gemeinschaft um Jesus, in der menschliches Leben innerhalb solidarischer Bindungen erfahren werden kann.“ Mit Recht wendet er sich (ebd. 167 Anm. 42) gegen Hahn, Hoheitstitel, 44f., der in Lk 9,57f. die Betonung eines „unüberbrückbaren Gegensatzes zum Menschengeschlecht“ sieht.

[49]   Im Gespräch mit Matthias Greffrath, in: L. Löwenthal, Schriften 4, Frankfurt a.M. 1984, 303.

[50]   Hubert Frankemölle, Matthäus: Kommentar, Bd. I, Düsseldorf 1994, 307.

[51]   So zu dieser Stelle Jens Schröter, Jesus von Nazaret (BG 15), Leipzig 2006, 246.

[52]   Schröter, Jesus, 249.

[53]   Eine differenzierte Auflistung der Stellen nebst der in der Exegese jeweils vermuteten Zuweisung zu literarischen Quellen und Schichtungen bietet u.a. der o. Anm. 1 genannte Art. „Menschensohn“ von D. Zeller.

[54]   Das gilt, wie Jochum-Bortfeld, Mensch, bes. 166-169, ausführt, gerade auch für die menschlichen Erfahrung des Leidens und nicht weniger für die Erwartung des kommenden hyios tou anthrōpou, in der sich die Erwartung aus Dan 7 spiegelt, dass an die Stelle der bestialischen Reiche einmal eine wahrhaft menschliche Herrschaft treten wird.

[55]   Aus dem Diskurs über die „Türhüterlegende“ in F. Kafka, Der Prozeß, in: Gesammelte Werke, hg. v. Max Brod (Taschenbuchausgabe in sieben Bänden), München 1983, 185.

[56]   Colpe, ThWNT (s.o. Anm. 1), hier 477-481.

[57]   So zu Beginn seines Artikels (unter Berufung auf Colpe, ebd., 480f.).

[58]   So lautet der Schluss-Satz in G. Boehm, Geronnene Zeit, in: Sigmar Polke, Fenster / Windows, mit Beiträgen von Gottfried Boehm u.a., zweisprachige (dt. u. engl,) Fassung, Zürich/ New York o.J. (2010), 140-147. Die in den folgenden Anmerkungen stehenden Angaben zu einzelnen Beiträgen aus diesem Band beziehen sich jeweils auf deren deutsche Fassung.

[59]   Insgesamt zu den sieben Achatfenstern und den fünf Glasfenstern Käthi La Roche, „Kunstwerk“ Grossmünster. Ein theologischer Führer, Zürich 2009, 10-21 – K. La Roche war 1999-2011 Pfarrerin am Zürcher Grossmünster, sie hat den Prozess der Entstehung der Fenster von der Wahl der eingereichten Entwürfe und den Auftrag an Polke an bis zur Fertigstellung und Einweihung begleitet und immer wieder mit dem Künstler auch theologische Gespräche geführt – ; Johannes Stückelberger, Wie nehmen Kunstschaffende Kirche wahr? Aktuelle künstlerische Neugestaltungen von reformierten Kirchen in der Schweiz, in: Christoph Sigrist (Hg.), Kirchen Macht Raum. Beiträge zu einer kontroversen Debatte, Zürich 2010, 141-166, bes. 156; ders., Polkes Glasfenster im Grossmünster in Zürich, in: Kunst und Kirche 1/2010, 68-69, sowie je auf ihre Weise sehr instruktiven Abhandlungen im in der vorangehenden Anm. genannten umfangreichen Band: Polke, Fenster.

[60]   In Polke, Fenster, 204, findet sich eine Bibliographie zu Polkes Werken; erwähnt seien noch Klaus Staeck (Hg.), Sigmar Polke Rasterfahndung. Göttingen 2010 (zur Ausstellung Sigmar Polke – Eine Hommage, Akademie der Künste Berlin, 2011; Julia Gelshorn, Aneignung und Wiederholung. Bilddiskurse im Werk von Gerhard Richter und Sigmar Polke, München u.a. 2012, sowie die große (sechs Jahre lang vorbereitete) Ausstellung „Alibis: Sigmar Polke 1963 – 2010 im Museum of Modern Art in New York (April-August 2014), danach im Tate Modern, London (Oktober 2014-Februar 2015) und im Museum Ludwig Köln (März-Juli 2015), dazu der v. Kathy Halbreich u.a. hg. Ausstellungskatalog, New York 2014, sowie als erster kleiner Überblick Hanno Rautenberg, Liebt die Beliebigkeit!, in: DIE ZEIT vom 16.4.2014, 51.

[61]   Der Begriff intentio (dazu Paulus Engelhardt, Art. Intentio, HWP 4, 466-474) enthält sowohl den Aspekt der „Absicht“ des Autors, der Autorin (intentio auctoris) wie den des „Gehalts“ eines Werks (intentio operis). Dazu kommt die jeweilige LeserInnen-Perspektive (intentio lectoris), die in der Lektüre das Werk nicht nur interpretiert, sondern in bestimmter Hinsicht schafft. Zur Debatte über das Verhältnis dieser intentiones (vor allem in Beiträgen von und über Umberto Eco) einige Hinweise bei J. Ebach, Die Bibel beginnt mit „b“, in: ders., Gott im Wort, Neukirchen-Vluyn 1997, bes. 108ff.

[62]   In: Polke, Fenster, 147.

[63]   Zum theologischen Hintergrund Huldrych Zwingli, Kommentar über wahre und falsche Religion (1525), in: ders., Schriften. Bd. III, Zürich 1995, 31-452, bes. 436-444: Die Statuen und Bilder; zur Geschichte Peter Jezler, Der Bildersturm in Zürich 1523-1530, in: Bildersturm. Wahnsinn oder Gottes Wille? Ausstellungskatalog, hg. v. Cécile Dupeux u.a. Bern 2000 (Lizenzausgabe für Deutschland München 2000), 75-83; Jan Rohls, „… unsere Knie beugen wir doch nicht mehr“. Bilderverbot und bildende Kunst im Zeitalter der Reformation, ZThK 81 (1984) 322-351; zur Thematik auch Margarete Stirm, Die Bilderfrage in der Reformation (QFRG 45), Gütersloh 1977.

[64]   Zwingli schrieb 1525, ein Jahr nach dem Bildersturm in Zürich: „Demgemäß bin ich nicht dafür, Bilder, die als Fensterschmuck eingesetzt sind, zu zerstören, vorausgesetzt, dass sie nichts Unanständiges darstellen; denn niemand verehrt sie dort“ (Zwingli, Kommentar, 444). Ob es im Grossmünster in dieser Zeit überhaupt Werke der Glasmalerei gab, ist nicht gesichert, vgl. Ulrich Gerster/ Regine Helbling, Das Grossmünster, seine Geschichte und seine Fenster. Ein Streifzug durch zwölf Jahrhunderte, in: Polke, Fenster, 20-29, hier 24.

[65]   Dazu La Roche, Kunstwerk, 24f., sowie Gerster/ Helbling, Grossmünster, 26-28.

[66]   Zur technischen Verwirklichung Urs Rickenbach, Aus der Sicht der ausführenden Glasmacher, in: Polke, Fenster, 178-183, zum Menschensohnfenster ebd. 181.

[67]   Zu ihnen Marina Warner, „Algebra, Taumel und Ordnung“: Zeichen im Stein. Form ist niemals trivial oder gleichgültig; sie ist die Magie der Welt in: Polke, Fenster, 160-165; Jacqueline Burckhardt/ Bice Curiger, Illuminationen, in: Polke, Fenster, 46-56, bes. 48-50; Katharina Schmidt, Ein Weg zu Sigmar Polkes Kirchenfenstern. Bilder aus Stein, Glas und Licht, in: Polke, Fenster, 112-121, hier 114f.; zu Erfahrungen bei der Herstellung Rickenbach, Sicht, 178f.

[68]   Das Menschensohnfenster misst 281 x 92 cm; die Höhe und Breite der vier anderen differiert nur geringfügig. Gemeinsam sind allen fünf die Bleifassungen eines Kreises und zweier Halbkreise im Fensterkopf.

[69]   Dazu im Glossar des Bandes Polke, Fenster, 196f. zu den Stichwörtern Grisaille und Schwarzlot.

[70]   Zu diesen Aspekten Warner, Algebra, 165, sowie Rickenbach, Sicht, 181.

[71]   So u.a. Burckhardt/ Curiger, Illuminationen, 51. In Gen 1 wird die Welt nicht aus dem Nichts erschaffen (der Gedanke einer creatio ex nihilo begegnet erst in 2Makk 7,28), vielmehr schafft Gott eine geordnete, Leben ermöglichende Welt aus dem gleichsam chaotischen Zustand der Welt vor der Schöpfung. Das Erstrahlen des Lichts lässt die zuvor alles bestimmende Finsternis zurücktreten und auf einen begrenzten Raum (die Nacht) beschränkt sein. Freilich gilt gerade für die Konstellation des „Menschensohnfensters“ auch ein Satz des Sturm- und Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz (aus seiner Nachschrift in einem Brief Johann Gottfried Röderers an Johann Caspar Lavater vom 18.6.1774, in: Briefe von und an J.M.R. Lenz, hg. v. Karl Freye/ Wolfgang Stammler, Bd. 1, Leipzig 1918, 77). Er lautet: „… wo Licht hinfällt, tritt die rückweichende Nacht desto dichter zusammen.“

[72]   In Interpretationen dieser Fenster ist häufig von „Präfigurationen“ die Rede. Ich vermeide diesen Terminus, weil er eine bestimmte Sicht auf das Verhältnis von Altem und Neuem Testament impliziert, in der das Alte sich als bloße Vorstufe des Neuen darstellt, indem sie Elemente (typoi) enthält, die als Vorausschau auf den dann erst im Neuen Testament zu voller Entfaltung gelangenden, „wahren“, nämlich christologischen Sinn zu sehen sind. Obgleich diese „Sicht“ gerade in der Geschichte der christlichen Kunst eine zentrale Rolle spielt, ist sie im Verhältnis der Kirche zu Israel mehr als problematisch geworden, spricht sie doch im Kern Jüdinnen und Juden ab, ihre „Schrift“, die hebräische Bibel, das „Alte Testament“ verstehen und recht auslegen zu können. Für eine andere Sicht auf das Verhältnis zwischen dem Neuen und dem Alten Testament sei verwiesen auf J. Ebach, Hören auf das, was Israel gesagt ist – hören auf das, was in Israel gesagt ist. Perspektiven einer „Theologie des Alten Testaments“ im Angesicht Israels, EvTh 62 (2002) 37-53, und v.a. auf Frank Crüsemann, Das Alte Testament als Wahrheitsraum des Neuen, Gütersloh 2011. – Polkes figürliche Fenster setzen m.E. alttestamentliche Figuren, Geschichten und Begriffe ins Bild, die Perspektiven auf das Neue Testament ermöglichen, ohne das Alttestamentliche dabei zur bloßen Vorstufe, zur Präfiguration werden zu lassen.

[73]   J. Jastrow, The Mind’s Eye, in: Popular Science Monthly Vol. 54 Jan. 1899, 299-312.

[74]   Zu den betreffenden Stellen bei Wittgenstein und zum Thema insgesamt Eva Schümann, Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht, Frankfurt a.M. 2008, sowie David Lauer, Anamorphotische Aspekte. Wittgenstein über Techniken des Sehens, in: Markus Rautzenberg/ Kyung-Ho Cha (Hg.), Der entstellte Blick, München 2008, 230-244.

[75]   D. Dieckmann, „Worte von Weisen sind wie Stacheln“ (Koh 12,11). Eine rezeptionsorientierte Studie zu Koh 1-2 und zum Lexem דבר im Buch Kohelet (AThANT 103), Zürich 2012 (das Bild ebd. 11).

[76]   J. Ebach, Mehrdeutlichkeit. Theologische Reden 9 (NF 3), Uelzen 2011.

[77]   Zur Funktion von Kippbildern zum besseren Verstehen dramatischer, existenzieller und religiöser Dimensionen Luca di Blasi, Splitting Images. Understanding Irreversible Fractures Through Aspect Change, in: Christoph F. E. Holzhey (Hg.), Multistable Figures. On the Critical Potentials of Ir/Reversible Aspect-Seeing, Berlin/ Wien, 2014, 67-87.

[78]   Schmidt, Weg, 115.

[79]   So beschreibt Warner, Algebra, 165, eine mögliche Sichtweise.

[80]   Schmidt, Weg, 116, sieht in der angedeuteten Untersicht die „auratische Präsenz“ verstärkt.

[81]   H. Rößler, Die Kunst des Augenscheins. Praktiken der Evidenz im 17. Jahrhundert, Wien/ Berlin 2012, hier bes. 106-108 (das Zitat 106).

[82]   Stückelberger, Kunstschaffende, 156. Lavaters „Physiognomische Fragmente“ erschienen 1775-78; Die Physiognomik war bereits in seiner Zeit umstritten, u.a. Georg Christoph Lichtenberg kritisierte sie scharf in der 1778 erschienenen Streitschrift „Über Physiognomik; wider die Physiognomen“, in: ders., Schriften und Briefe, hg. v. Wolfgang Promies, Bd. III, München 1972, 236-295, und saukomisch satirisch im „Fragment von Schwänzen. Ein Beytrag zu den Physiognomischen Fragmenten“ (1783), ebd. 533-538. Zum Thema auch Daniela Bohde, Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft. Kritik einer Denkfigur der 1920er bis 1940er Jahre (Schriften zur modernen Kunsthistoriographie), Berlin 2012, hier bes. Kap. III „Lavaters visuelle Hermeneutik – eine Bildwissenschaft avant la lettre“ (ebd. 35-46).

[83]   Vgl. den Midrasch Bereschit rabba zu Gen 5,1; zur ausführlichen Darstellung und Interpretation der Debatte(n) Pierre Lenhardt/ Peter von der Osten-Sacken, Rabbi Akiva (ANTZ 1), Berlin 1987, 175-199.

[84] Stärker noch als beim Kelch bzw. dem Blut wird die Gemeinschaft durch Teilhabe in den neutestamentlichen Abendmahlstexten beim Brot und dem Leib. Im Satz Jesu „Dies ist mein Leib“ (touto estin to sōma mou [Mk 14,22 par]) kann sich das „dies“, das Neutrum touto, grammatisch schwerlich auf das „Brot“, das maskuline artos zurückbeziehen. Nimmt man hier keine sprachlich unkorrekte Ausdrucksweise an, ist es zumindest möglich, dass jenes „dies“ (touto) auf die bei diesem Pässachmahl versammelte Gemeinschaft hinweist. „Identifiziert wird damit nicht das Brot oder gar die fleischlose, entleibte Oblate“, notiert dazu Magdalene L. Frettlöh (mit dem Hinweis auf das grammatische Problem), ,,sondern die auf Erden den Leib des erhöhten Christus verkörpernde, lebendige Gemeinde, die sich um das eine Brot versammelt, es nimmt, Gott darüber segnet, das Brot bricht und untereinander teilt. Die liturgische Geste wäre dementsprechend bei diesem Satz nicht auf das Brot zu fokussieren, sondern mit einer ausladend-einladenden, alle einschließenden Armbewegung wäre die feiernde Gemeinde zu identifizieren“ (M.L. Frettlöh, „Gott ist im Fleische …“ Die Inkarnation Gottes in ihrer leibeigenen Dimension beim Wort genommen, in: J. Ebach u.a. [Hg.], „Dies ist mein Leib“. Leibliches, Leibeigenes und Leibhaftiges bei Gott und den Menschen, Jabboq, Bd. 6, Gütersloh 2006, 186-229, hier 193 mit Anm. 23, ebd. 224). So würde die Gemeinschaft durch Teilhabe signifikant. – Bei den Worten: „Dies ist mein Blut“ (touto estin to haima mou [Mk 14,24 par]) stellt sich jedenfalls das grammatische Problem nicht, indem an dieser Stelle das Neutrum touto auf das Neutrum potērion (Kelch, Becher) zurückbezogen werden kann.

[85]   Zitiert nach André Chastel, Chronik der italienischen Renaissancemalerei 1280-1580, Würzburg 1984, 217 – im italienischen Original: „Nui pittori si pigliamo licentia, che si pigliano i poeti et i matti [...]“, vgl. Emerich Schaffran, Der Inquisitionsprozeß gegen Paolo Veronese (Archiv für Kulturgeschichte, 42/1), Nendeln/ Liechtenstein 1971, 180).

[86]   H.-G. Gadamer, Dekomposition und Hermeneutik (1988), in: ders., Hermeneutik im Rückblick, Gesammelte Werke Band 10, Tübingen 1995, 138-147, das Zitat 140.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/91/je1.htm
© Jürgen Ebach, 2014