In stiller Nacht

Ein Volkslied entschlüsselt als Trauergesang Christi im Garten Gethsemane

Hans-Jürgen Benedict

„In stiller Nacht,
zur ersten Wacht,
ein Stimm begunnt zu klagen
der nächtge Wind hat süß und lind
zu mir den Klang getragen.
Vor Herzeleid und Traurigkeit
ist mir mein Herz zerflossen. 
Die Blümelein mit Tränen rein 
hab ich sie all begossen.“

So beginnt ein Volkslied, das von Brahms in „Deutsche Volkslieder für gemischten Chor“ 1864 vertont wurde (und dann noch mal für Sopranstimme und Klavier, wobei die Klavierstimme sich so eigenständig neben dem Gesang entfaltet, als wollte sie diese Welt verlassen). Eine langsame Melodie, schmerzlich süß und schön, eine Stimme, die sich elegisch aufschwingt und zurück in Trauer sinkt. Wer klagt und weint da? Und wer redet die Gestirne an und zieht sie mit in seine Trauer? Ein melancholischer Wanderer in stiller Nacht? Ein Romantiker, der sich nicht ganz heimisch in der Welt fühlt?

„Der schöne Mond will untergahn
für Leid nicht mehr mag scheinen
Die Sterne lan ihr Glitzen stahn
mit mir sie wollen weinen
kein Vogelsang noch Freudenklang man höret in den Lüften
die wilden Tier traurn auch mit mir
in Steinen und in Klüften.“[1]

Mit wem weinen da die Sterne, wer hat sogar die wilden Tiere zu Trauergenossen?

„In stiller Nacht“ war bzw. ist ein bei Chören früher ungemein beliebtes Lied, oft ohne dass diese wussten, was sie da eigentlich sangen. Hier singt kein einsamer Wanderer in stiller Nacht, kein weltverlorener Romantiker, nein - dieser Nachtgesang ist ursprünglich gar kein Volkslied, sondern die erste und die letzte Strophe von Friedrich von Spees ergreifendem „Traur­gesang von der Not Christi am Ölberg.“

Friedrich von Spee, geboren 1591 in Kayserswerth, war Jesuit, seit 1623 Professor für katholische Moraltheologie in Paderborn, Köln und Trier. Mutig bekämpfte er das Unwesen der Hexenprozesse. Seine geistlichen Lieder, darunter das bekannte „O Heiland reiß die Himmel auf“ (EG 7, s. auch EG 32, 80,110) haben die Barockdichtung nachhaltig beeinflusst; er starb mit nur 44 Jahren 1635 in Trier. Bezeichnend für ihn ist, wie er das Heilsgeschehen mit kühnen Naturvergleichen verbindet. „O Erd, herfür dies Blümlein bring, o Heiland aus der Erden spring.“ Spee ist für mich der größte katholische Lieddichter im Evangelischen Gesangbuch (wie umgekehrt Paul Gerhardt der größte evangelische im katholischen Gesangbuch „Gotteslob“).

Der Dichter hört die „klagende Stimme und nimmt in Acht“, was sie sagt.

„Ein junges Blut von Sitten gut
alleinig ohn Gefährten
in großer Not fast halber tot
im Garten lag auf Erden.“

Und dann wird die Geschichte erzählt - der „liebe Gottessohn“ im Dialog mit Gottvater, allein gelassen von den schlafenden Jüngern, im verzweifelten Ruf zur Mutter. Weder Gottvater noch Mutter antworten.

„Zu Gott ich hab gerufen zwar
aus tiefen Todesbanden
dennoch ich bleib verlassen gar
ist Hilf noch Trost vorhanden.“

Und dann kommt, was im Volkslied steht.

„Der schöne Mond will untergohn
vor Leid nit mehr mag scheinen[...].[2]

Allein die Natur trauert mit dem verlassenen Gottessohn (ähnlich wie bei der zum Tod bestimmten Tochter Jephtahs in dem Oratorium von Carissimi, einem italienischen Barockkomponisten, in chromatisch gefärbtem Schmerz).

Also: Dieses populäre Lied, das scheinbar eine Mondnacht besingt (Brahms entnahm viele der von ihm vertonten Lieder der bekannten Sammlung deutscher Volkslieder von Zuccalmaglio und Kretschmer 1838-40, dieses Lied dürfte er aber vom Liedersammler Friedrich Wilhelm Arnold bekommen haben[3]), bezieht sich auf eine andere Geschichte, man merkt es zunächst nicht, in der ein noch junger Mensch mit dem Vater um sein Leben ringt - Jesus im Garten Gethsemane, Jesus im flehentlichen Gebet, genauer in heftiger Auseinandersetzung mit Gott als dem Herrn über Leben und Tod.

„Es ergriff ihn Angst und Furcht und er sagte zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod. Bleibt hier und wachet. Und er ging ein wenig weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, daß, wenn es möglich wäre, die Stunde an ihm vorüberginge und sagte: Abba, mein Vater, alles ist dir möglich, lass diesen Kelch an mir vorübergehen.“ (Mk 14, 33-36)

Dieser Aufschrei ist der Bitte des jungen Mädchens aus Claudius Gedicht „Der Tod und das Mädchen“ seelenverwandt. „Vorüber, ach vorüber, geh wilder Knochenmann.“ Jesus möchte von Gott, den er vertrauensvoll als Vater anredet, die Zusage einer Verschonung. Für einen Moment rückt Gott wieder in das Zwielicht eines menschenverschlingenden Molochs, wie damals bei Abraham und Isaak. Und wiederum geht es um Gehorsam: „Doch nicht wie ich will, sondern wie du willst“, schließt das Gebet Jesu. Das Vaterunser klingt an. Diese Haltung entspricht dem Bild vom gehorsamen Gottessohn, der Gottes Heilsplan an sich geschehen lässt. Aber immerhin schildert der Evangelist Jesus so weit als Menschen, dass er sich gegen das Todesschicksal wehrt und aufbäumt. Einverständnis mit dem eigenen Tod also in den Schranken des Menschseins, das den Tod fürchtet und ihm entfliehen will. Aber selbst dieser Kampf Jesu ist schon den frühen Christen schwer fasslich gewesen. Bereits bei Matthäus und Lukas wird die Härte der Erzählung abgeschwächt; bei Johannes fehlt sie ganz. Auf der anderen Seite: Schon im 2. und 3. Jahrhundert nach Chr. haben Gegner des Christentums über diese Geschichte gespottet und Jesu Ringen höhnend mit Sokrates Gelassenheit verglichen, als er den Schierlingsbecher trank.

Hervorzuheben bleibt: Es ist tröstlich, dass Jesus an unserer Schwachheit, sprich unserer Todesfurcht Anteil hat. Diesen Moment hat Spee in seinem Trauergesang festgehalten, den hat Brahms mit schmerzlicher Süße vertont, der wandelte sich zum ‚Volkslied’ „In stiller Nacht“.

Eine Antwort Gottes auf Jesu Flehen wird im Evangelium nicht erwähnt. Gott schweigt. Die Erzählung wendet sich den schlafenden Jüngern zu, wird zur Jünger-Mahnung. Gefasst sagt Jesus schließlich: „Es ist genug. Die Stunde ist gekommen. [...] Steht auf und lasst uns gehen.“ (V. 41f) Ein junger Mann hat seinen ersten Kampf mit dem Todesgott bestanden. Das heißt nicht, dass er nicht am Kreuz erneut seine Gottverlassenheit herausschreien wird. Wir aber singen oder hören gerührt die von Brahms neu vertonte Klage „In stiller Nacht ein Stimm begunnt zu klagen“, die auch unsere Klage in einsamen verzweifelten Stunden ist.

Kann Gott weinen?

In der Matthäuspassion Bachs hat das doppelte „Warum“, einmal in der Ursprache und dann in der Übersetzung, als verzweifeltes Eindringen auf den Vater eine erschütternde Wirkung. Auf diese doppelte Gottesklage und den wortlosen Todesschrei, den Schreckensschrei, folgt als Antwort, die im Anschauen des Leidens Christi außer mir, aber auch in gegenseitiger Zuwendung vertrauter Menschen eine sein kann, der Choralvers: „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir.“ Ich sah bei einer Aufführung der Matthäus-Passion in Hamburg, wie mehrere Paare sich während dieses Chorals innig anschauten und die Hand drückten, der Partner als Stellvertreter Christi:

„Wenn ich den Tod soll leiden so tritt du dann herfür. Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, nicht: so reiß mich, sondern: so bleib bei mir in meinen Ängsten und meiner Pein.“

Der Partner als Stellvertreter Christi in der Todesstunde, die anthropologische Wahrheit des Christus außer mir. Diese Stelle ist tröstlich und ergreifend schön. Doch der Jesus-Aufschrei verhallt bei Bach im antwortlosen Strom der Tränen. Der Schlusschor in der Matthäuspassion singt: „Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu: Ruhe sanfte, sanfte Ruh.“ Gott liegt tot - kein leeres Grab, keine Auferstehung, keine Erscheinungen, keine schnelle Aufhebung des eben noch schrecklich Erlittenen.

Hans Blumenberg meint in seinem klugen Essay über die Matthäuspassion:

„Welch frommer weiser Verzicht, dass die Matthäuspassion mit der Versiegelung des Steines und den Tränen der Verlassenen schließt. Als sei es für immer, rufen beide Chöre dem im Grabe nach: Ruhe sanfte, sanfte Ruh.“[4]

So eröffnet Bach den skeptischen nichtgläubigen Zeitgenossen, für die es keinen lebendigen Gott mehr gibt, mit dem Zauber seiner Passionsmusik einen neuen Zugang zur Passionsgeschichte als dem Drama vom Tode Gottes. Die Kirchen sind Sonntagmorgen um 10 Uhr oft nicht gut besucht, aber wird eine Bach-Kantate im Gottesdienst aufgeführt und besonders bei den großen Passionen sind sie überfüllt. Der Tod Gottes wird ästhetisch überhöht und geht zu Herzen.

In der mit Tränen endenden Passionsmusik geht aber auch die Anklage Jesu, sein Warum-Schrei verloren. Die väterliche Grausamkeit, die den geliebten Sohn dem Leiden und dem Tod preisgibt, wird in ihrer Anstößigkeit nicht wahrgenommen. Müsste es nicht so sein, dass auch Gott sich mit Tränen niedersetzt, als er merkt, was er mit dem Leidensratschluss für Jesus angerichtet hat!?

Nun, wir wissen, die dogmatisch richtige Antwort auf diese Frage ist die Auferweckung des Sohnes und sein Sitzen zur Rechten des Vaters. Aber wird dadurch die Grausamkeit des seinen Sohn opfernden Vaters weniger anstößig? Und ist mit Jesu Erhöhung zu Gott nicht die Entschädigung nach dem Tode zu dem Modell christlicher Leidensbewältigung geworden, mit fatalen Auswirkungen für anderthalbtausend Jahre?

Aber Gott weint nicht. Es weinen die Frauen. Die Beweinung Christi, der tote Jesus im Schoß der Maria, wird neben der Kreuzigung zum zweiten großen Schmerzensbild des Abendlandes. Aber einmal wagt es ein Künstler, Bernt Notke in Lübeck, den entseelten Sohnesleib dem Vater in die Arme zu legen. Kann Gott vielleicht doch klagen und weinen wie eine Mutter?

Anmerkungen

[1]    Johannes Brahms, Die Chorwerke a capella, 23 Deutsche Volkslieder Nr.1-14, 1864, Chor des NDR, Leitung Günter Jena, DGG 2741018, 1983

[2]    Abgedruckt in: Barock. Lyrik. Drama. Predigten hg v K.Pörnbacher, Zürich oJ,215-217

[3]    Vgl. Gorge S. Bozarth (1996), The origin of Brahms‘‘s „In Stiller Nacht“
http://www.thefreelibrary.com/The+origin+of+Brahms%27s+%27In+Stiller+Nacht.%27-a019129556

[4]    Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt/M, 1998,

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/91/hjb33.htm
© Hans Jürgen Benedict, 2014