Paradigmen theologischen Denkens


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„Religiöse Ethik“ und „Ethische Religion“

Zur bleibenden Bedeutung von Kants moralphilosophischem Denken für den ethischen Diskurs der Gegenwart

Stefan Schütze

Versuch einer kurzen Zusammenfassung

(1) In meinen „Paradigmen theologischen Denkens“ habe ich mich für die Formulierung eines für mich heute plausiblen religiösen Paradigmas immer wieder wesentlich auf die kritischen philosophischen Weichenstellungen Immanuel Kants bezogen. Dabei habe ich v. a. die zentralen epistemologischen, ästhetischen und religionsphilosophischen Impulse aus Kants kritischem Hauptwerk reflektiert, seine für ihn aber vielleicht noch wichtigeren ethischen Reflexionen zum „kategorischen Imperativ“ unserer autonomen „praktischen Vernunft“ eher am Rande gestreift. Die Frage nach der möglichen bleibenden Bedeutung auch von Kants ethischen Hauptgedanken will ich im Folgenden, wieder im Gespräch mit aktueller v.a. englischsprachiger (nordamerikanischer und angelsächsischer) Literatur zu diesem Thema, nun noch genauer untersuchen.

Kants Ethik hat mich auf der einen Seite genauso wie die anderen, in meinen „Paradigmen theologischen Denkens“ stärker rezipierten Teile seines kritischen Denkens immer fasziniert. Auch Kants Ethik ist subtil und komplex, und, wie ich finde, in vielerlei Hinsicht bahnbrechend. Unsere heutige ethisch-politische Verpflichtung auf universale Menschenrechte, die unantastbare Würde jedes Menschen, die Denk- und Glaubensfreiheit unserer demokratischen Gesellschaften, oder der Gedanke des „Völkerrechts“ wären ohne Kants ethischen Beitrag wohl nicht denkbar. Auf der anderen Seite war Kants Ethik zugleich immer auch derjenige Teil seiner Philosophie, der für mich am meisten „sperrig“ und dekonstruktionsbedürftig geblieben ist. Nicht nur seine dualistische Lösung des „Freiheitsproblems“ hat mich nie ganz überzeugt. Kants Moralphilosophie hat innerhalb seines Gesamtsystems für mich insgesamt etwas besonders Puristisches und Apodiktisches, das auf mich manchmal fast schon totalisierend wirkt, mehr vielleicht als alle anderen Bestandteile seiner Philosophie. Sicher gibt es auch in Kants sonstigem Denken sehr apodiktische, fundationalistisch anmutende Behauptungen, aber sie werden für mich immer wieder kompensiert durch seine zugleich große erkenntnistheoretische „Bescheidenheit“. „(T)he language of true reason is humble“, wie Kant selbst es einmal formuliert hat.[1]

Auch seine Ethik kennt Momente solcher „Bescheidenheit“ oder „humility“, die Jeanine Grenberg sogar als das Wesen der Kant’schen „Tugendlehre“ identifiziert[2], aber sein Bestreben nach völlig „reinen“, von Gefühl, Empirie und Kontingenz gleichsam „gesäuberten“, in der Struktur der Vernunft menschlichen einfach fundational „gegebenen“, „kategorischen“ Handlungsmaximen wirkt auf mich insgesamt teilweise doch sehr rigoros und um eine „Sicherheit“ und „Unverrückbarkeit“ ethischer Urteile bemüht, die den „‘bewilderments‘“ und „‘surprises‘“ unseres Lebens[3] und der „‘tangled, muddy, painful, and perplexed‘“ Wirklichkeit[4], in der wir nach William James auch unsere moralischen Überzeugungen finden und bewähren müssen, einfach nicht gerecht wird.

(2) Als wesentliche Momente dieser „apodiktischen“ Kant’schen Vernunftethik habe ich dann zunächst v.a. die folgenden Bestandteile herausgehoben:

  • Kants Unterscheidung von „hypothetischen“ und „kategorischen Imperativen“: Nur ein „kategorisches“ Soll, dass einem „Vernunftbegriff(e) a priori[5] entspricht, kann unser Handeln für Kant mit ausreichender Gewissheit und Eindeutigkeit verpflichten. Ein lediglich „hypothetisches“, an „rules of skill“ oder „counsels of prudence“ ausgerichtetes „Soll“ ist für Kant noch keine moralische Verpflichtung, weil es seine Verpflichtungskraft nur abhängig von externen Zwecken hat, und so etwas zum Ausdruck bringt „what is only conditionally rational to do“[6].
  • Kants Bestreitung, dass der moralische „Wert“ einer Sache eine metaphysische Eigenschaft dieser Sache selbst sei. Ihr „Wert“ wird vielmehr erst durch die moralische Struktur unserer Vernunft dieser Sache beigelegt.
  • Kants „Kategorischer Imperativ“ selbst in drei (oder nach anderer Zählung in fünf) Grundvariationen, die für ihn aber Ausdruck eines einzigen gemeinsamen Grundprinzips unbedingter sittlicher Verpflichtung durch unsere Vernunft sind.
  • Kants mit seinem „Kategorischen Imperativ“ verbundene Definition der Menschlichkeit als Selbstzweck, die den Gedanken der „allgemeinen Menschenwürde“ vorbereitet und prägt.
  • Kants Bestimmun des „guten Willens“ als dem einzigen, was „ohne Qualifikation“ gut zu nennen ist.
  • Kants auf den ersten Blick paradoxe Korrelation von „Freiheit“ und „Pflicht“ im Begriff der menschlichen Autonomie.
  • Kants Ausrichtung menschlichen Handelns an „regulativen Idealen“, wie dem „Reich der Zwecke“, dem „ethischen Gemeinwesen“ oder dem „höchsten Gut“.

(3) Diese Grundgedanken der Kant’schen Ethik habe ich dann in einem weiteren Durchgang durch die ausgewählte Sekundärliteratur noch um folgende Momente eines vertieften Verständnisses der Kant’schen ethischen Denkbewegung ergänzt:

  • Das Moment der Betonung ethischer Autonomie, verbunden mit der Achtung der fundamentalen Menschlichkeit jedes menschlichen Wesens, die Kant an die Stelle von heteronomen Begründungen des Handelns und aller Formen religiöser wie politischer Fremdbestimmung gesetzt hat. „Bringing reason to the world becomes the enterprise of morality rather than metaphysics, and the work as well as the hope of humanity“,[7] bringt Christine Kosgaard die dadurch bewirkte humanisierende Wirkung des Kant’schen ethischen Erbes auf den Punkt.
  • Das Moment der Betonung des perspektivischen Charakters aller ethischen Weltorientierung: „Moral faith in God“, so Allen Wood, „is an outlook on the world, a way of viewing, interpreting, evaluating and judging the events of the world, which is not – and could not be – justified by empirical evidence or speculative demonstrations“[8].
  • Das Moment einer „nachtheistischen“ Rekonstruktion der biblischen „Reichs-Gottes-Erwartung“ im Sinne der Idee einer regulativen sozialen Teleologie bzw. des Ideals eines „ethischen Gemeinwesens“, auf das hin menschliches Handeln individuell und sozial ausgerichtet werden kann. Gordon Michalson spricht hier von der „corporate hope embodied in the ethical commonwealth“ als „an earthly version of the kingdom of heaven“[9], die Kants ursprünglich rein individuell gedachte moralische Teleologie einer noumenal ermöglichten „unendlichen Annäherung“ an das Ziel ethischer Heiligkeit zunehmend sozial refiguriert und historisch „erdet“.
  • Das Moment eines funktionalen Verständnisses menschlichen Gottesglaubens als existentiellem Bekenntnis zur Sinn- und Werthaftigkeit unseres Lebens und unserer Welt. „Indeed, the entire argument for the existence of God can be taken as the complex unfolding of an implicit confidence in the rationality of the universe.“[10]
  • Das Moment der Einsicht in die subjektive Brille bei jeder Bestimmung dessen, was in Kants ethischem Erbe für uns heute bleibende Bedeutung hat. Wie das „Ding an sich“, so lässt sich auch „Kants Ethik an sich“ nicht empirisch fassen und auf bestimmte unhinterfragbar gültige Inhalte festlegen. „Given (the) multiplicity of (possible) readings … and the complexity of his thoughts and writings, any claim about what is of enduring value in Kant should be taken as a subjective expression of hope, not as a confident verdict“[11], hat Arnuld Zweig entsprechend formuliert.
  • Das Moment der Fundierung Kant’scher Ethik in einem Bild des Menschen als „dependent and corrupt, yet capable and dignified“ (Grenberg[12]), durch die sie den Menschen zu einer „meta-attitude of humility“[13] führt, die sowohl im grundlegenden moralischen „self-respect“ als auch im „respect for other persons“[14] ihren ethischen Ausdruck findet.
  • Das Moment der Einsicht in den zunehmend geschichtlichen und sozialen Charakter des Kant’schen Projekts einer moralischen Vernunftkritik. Kants Vernunftkritik, so Philip J. Rossi, ist Ausdruck einer “self-discipline of reason”, die für Kant einen “fundamentally social character” hat[15], weil sie auf eine “social union” aller Menschen zielt “that brings about an ethical commonwealth”. Das geschichtliche Herbeiführen eines “ethical commonwealth” als sozialen Endziels der Vernunftkritik ist für Kant nun “nothing more or less than the destiny that befits humanity as the unique species that stands at the juncture of nature and freedom”[16].
  • Das Moment der Einsicht in die irreduzible Komplexität einer viablen ethischen Weltperspektive, die sich allen glatten Systematisierungen und totalisierenden „Metaerzählungen“ sperrt. Gordon Michalson schreibt dazu in „Fallen Freedom“: „The Kant of the textbooks often seems to provide us with a mathematically precise universe, dependable transcendental footholds, a theory of moral obligation firmly grounded in the moral law, and an ambitious aurhorship designed to explain how all these fit together. Yet, as the account of radical evil suggests“[17] ist der wirkliche Kant auch in seiner Ethik sehr viel komplexer, retardierter und widersprüchlicher als das gängige Kantbild ihn erscheinen lässt, und die „telling wobbles“, die er in seine moralische Weltsicht eingebaut hat, zeigen eine „richness“ auch seines ethischen Denkens „often missed in superficial portraits of Kant“.[18]

(4) Diesen letzten Gedanken der irreduziblen Komplexität und Gebrochenheit, die Kants Philosophie insgesamt gegen jeden Versuch einer „glatten“ und widerspruchsfreien Systematisierung von Welt, Leben und Denken – auch gegen seine eigenen totalisierenden und philosophisch hegemonialen Tendenzen, für die er immer auch anfällig blieb – auszeichnet, habe ich dann im folgenden Abschnitt nochmals weiter vertieft, und geschrieben:

Kant ist darin ein „Kind der Moderne“, dass sein moralischer Vernunftglaube und seine ethische Rationalität etwas Apodiktisches und Fundationalistisches haben, das er auch selbst immer wieder hervorhebt: Die epistomologischen Strukturen, die er in seiner „Kritik der Reinen Vernunft“ herausarbeitet, gelten, so schreibt er, notwenig und „a priori“, und sind damit über jede Kontingenz und empirische Bezweifelbarkeit erhaben. Alle Philosophie vor ihm verharrte nach Kant im „dogmatischen Schlummer“, den erst der von ihm entdeckte und formulierte transzendentale Idealismus beenden konnte. Auch das von der autonomen Vernunft sich selbst gegebene „moralische Gesetz“ gilt für Kant „kategorisch“. Es ist wie die Formen der Sinnlichkeit und die apriorischen Kategorien des Verstandes ein „reines“ Produkt der Vernunft ohne jede Beimengung geschichtlicher oder empirischer Kontingenz und Relativität. Insoweit könnte man Kant als einfachen „aufgeklärten Rationalisten“ in der Reihe vieler anderer Aufklärungsphilosophen am Beginn der „Moderne“ interpretieren.

Aber tatsächlich ist, wie nicht nur Gordon Michalson gezeigt hat, Kants Version des aufgeklärten Rationalismus viel komplexer und weniger glatt rationalistisch als der anderer Aufklärungsphilosophen vor und nach ihm. In Kants „apriorischem“ und „apodiktischem“ Vernunftsystem gibt es, so meine ich, erhebliche „Störfaktoren“, welche die vermeintlich sichere Fundation des menschlichen Lebens „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ immer wieder von innen her subversiv aufbrechen, und seiner Philosophie in mancher Hinsicht schon etwas Dekonstruktives, „Postmodernes“ geben. Solche systemsprengenden Störfaktoren in Kants Denken sind für mich z. B.:

  • Kants radikaler Agnostizismus im Blick auf die fundamentalen Strukturen der Wirklichkeit in seiner „Kritik der Reinen Vernunft“: „For Kant, the things we do not know are the big things, not the little ones“ (Gordon Michalson[19]).
  • Kants Ästhetik des „Erhabenen“ in seiner „Kritik der Urteilskraft“: Im Unterschied zum „Schönen“ ist das „Erhabene“ (insbesondere das „dynamisch Erhabene) für Kant etwas, dass das sonstige „harmonische Spiel“ unserer „Erkenntnisskräfte“ von innen her erschüttert und stört: Dinge, die wir als „erhaben“ erfahren, „appear ‚to be contrapurposive for our power of judgment, unsuitable to our faculity of presentation, and as it were doing violence to our imagination‘ …. We have problems apprehending and comprehending such objects in our intuition and we feel ‚pushed almost to the point of the inadequacy of our faculity of imagination‘ …, which ‚demonstrates its limits and inadequacy‘ … .“[20].
  • Kants „Lehre“ vom „radikal Bösen“ in seiner Religionsschrift: Das „radikal Böse“ bleibt mit dem sonstigen moralischen Optimismus des Kant’schen Denkens in mancher Hinsicht unvereinbar, und Kant umkreist die hierdurch entstehenden Aporien und logischen Brüche mehr, als dass er sie löst. Bei all seiner sonstigen Betonung, dass moralisches „Sollen“ „moralisches Können“ beinhaltet, und der Mensch darum eine natürliche „Anlage zum Guten“ haben muss, steht seine Einsicht in die gleichzeitige unausrottbare menschliche „Neigung zun Bösen“ für „a kind of void in our experience“, einer „absence of meaning“[21], die Kant letztlich nicht in sein System integrieren kann. Auch wenn Kant sein Vertrauen in eine moralische Weltordnung gegen seinen „most profound threat“ [22], das radikal Böse in der Welt, letztlich bekräftigt, erfährt es durch das „radikal Böse“ in Kants Denken doch eine nie ganz aufzulösende Erschütterung und Beunruhigung, die ihn auch zu einer überraschenden Berufung auf die göttliche „Gnade“ führt, die er zwar nicht wirklich konsistent denken kann, aber die nicht trotzdem irgendwie zu denken für ihn noch inkonsistenter und unmöglicher wäre.
  • Kants damit verbundene Einsicht in die grundlegend gebrochene Natur menschlicher Annäherung an das Gute, seine entsprechende Zurückweisung eines „glatten“ historischen Fortschrittsglaubens.
  • Kants Einbettung der aufgeklärten menschlichen Autonomie in einen Zusammenhang ein, der irreduzibel größer ist als sie selbst: „Human reason“ nach Kant „is embedded in and functions within an order that is not fully of its own making“ (Rossi[23]); dem entspricht seine immer wieder bestätigte positive Bezugnahme auf den Gedanken des Unverfügbaren, des „Übersinnlichen“, des Wunderbaren, oder sogar der „Gnade“ in der „Religionsschrift“, und seine trotz im Einzelnen auch vieler entgegenstehender Formulierungen immer wieder durchscheinende dementsprechende Haltung epistemologischer und moralischer „humility“.

(5) Am Ende mache ich dann einen eigenen zusammenfassenden Versuch, zu benennen, was von Kants ethischen Denkanstößen für eine heutige ethische Weltperspektive für mich richtungsweisend und unverzichtbar bleibt, und halte diesbezüglich u.a. fest:

Ich glaube nicht, dass sich ethische Normen und Ideale wie Menschenwürde, Freiheitsrechte oder „Beneficence“, „Love“[24] und „Respect to Others“[25] so eindeutig, klar und notwendig aus der Struktur der menschlichen Vernunft ableiten lassen, wie Kant dies postulierte, weil die Wirklichkeit, die uns mitsamt unser Rationalität und Irrationalität hervorgebracht hat, oft chaotisch, widersprüchlich und uneindeutig ist, und auch unsere „Vernunft“ entsprechend nicht so symmetrisch und mathematisch präzise geordnet ist, wie Kant das noch dachte, sondern eher unscharf, evolutionär offen und fluktuierend. Dennoch enthält unsere Humanität, meine ich, tatsächlich immer wieder Momente einer unbedingten Verpflichtung, der wir uns nur um den Preis der Verleugnung und Beschädigung unserer Menschlichkeit entziehen können. Auch wenn Menschenwürde, Freiheitsrechte oder „Beneficence“, „Love“ und „Respect to Others“ nicht so apodiktisch zu sichern und „a priori“ zu plausibilisieren sind, wie Kant dies dachte oder denken wollte, wenn auch vielen ethischen Entscheidungen eine irreduzible „undecidabiity and aporeticity“ (Manolopoulos nach Derrida[26]) anhaftet, müssen wir sie dennoch riskieren und wagen, „als ob“ sie von unserer Vernunft eindeutig und unbezweifelbar „geboten“ wären, weil diese „Unentscheidbarkeit“ eben nicht mit "indeterminacy nor indecision" zu verwechseln ist, sondern, wie John Caputo es formuliert hat, "'a decision made in the midth of undecidability'" bedeutet.[27]

In diesem Sinne meine ich, dass man, um Kant heute zu folgen, seine „reinen“ apodiktischen ethischen Setzungen und Leitvorstellungen in vielerlei Hinsicht auch dekonstruieren, empirisch „herunterbrechen“, sowie kulturell und geschichtlich „erden“ muss. Kants Begriff des „reinen“, d.h. von aller empirischen Beimischung „gereinigten“ apriorischen ethischen Vernunftsurteils muss zugunsten einer konsequenten Bejahung von „Unreinheit“ rekonstruiert werden - im Sinne einer der geschichtlichen Kontingenz, evolutionären Genese und „Verleiblichung“ auch der grundsätzlichen Begründung und metaempirischen Normierung unser moralischen Orientierungen.

Kants „kategorische Imperative“ wären dann aus meiner Sicht zu revidieren als geschichtlich gewachsene und empirisch bewährte eher weisheitliche, pragmatische „Prüfsteine“ für die moralische Orientierung unseres Handelns, welche die „Goldene Regel“, die sich in fast allen Weisheitstraditionen der Menschheit findet, präzisieren und erweitern. Mit ihrer Hilfe können wir an unsere möglichen ethischen Entscheidungen die Fragen stellen:

  • Im Sinne der „Universal Law Formula“[28]: Sind sie über unsere individuelle Situation hinaus für alle Menschen universalisierbar?
  • Im Sinne der „Formula of Humanity as an End in Itself“[29]: Sind sie mit dem Gedanken der individuellen und gemeinschaftlichen Menschenwürde vereinbar?
  • Im Sinne der „Reich der Zwecke“ – Fassung[30]: Entsprechen sie der sozialen Utopie einer idealen menschlichen Gemeinschaft?

Kants bleibende ethische Einsichten bestünden dann vielleicht v.a. in folgenden Erkenntnissen:

  • Legitimität („Handeln aus Pflicht“) ist etwas anderes als bloße Legalität („pflichtgemäßes Handeln“) Wo beide im Widerspruch zu einander stehen, ist auch Widerstand gegen „ungerechte“ Gesetze und „Befehle“ möglich und geboten.
  • Menschen dürfen niemals instrumentalisiert und zum Mittel anderer Interessen gemacht werden, seien sie politischer, ökonomischer oder sonstiger Natur.
  • Menschliche Freiheit und Autonomie muss gegen jede Heteronomie und Fremdbestimmung, seien sie religiöser, politischer oder ökonomischer Natur, verteidigt werden: „Habe Mut“, deinen eigenen Überzeugungen zu folgen, und auf den „moralischen Kompass“ deines eigenen Gewissens zu hören, weil „weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist“ (Luther auf dem „Reichstag zum Worms“[31]).
  • Es gibt in unserem Leben ein unbedingtes „Du sollst“ (Matthias Kroeger[32]), das gerade in der menschlichen Autonomie und Freiheit begründet ist, und nicht „von außen“, durch staatliche, religiöse oder sonstige „Autoritäten“ legitimiert werden kann. Paul Tillich hat diesen Grundansatz von Kants in unserer essentiellen Menschlichkeit begründeten „Pflichtethik“ folgendermaßen in die Gegenwart übertragen: "No outside command can be unconditional, whether it comes from a state, or a person, or God … . A stranger, even if his name were God, who imposes commands upon us, must be resisted ... The moral command is unconditional because it is we ourselves commanding ourselves. Morality is the self-affirmation of our essential being. This makes it unconditional whatever its content may be."[33]
  • Unser soziales Verhalten sollte sich an einem „universal principle of justice“ orientieren, das nach Sullivans „Introduction to Kant’s Ethics“ die Antithese zu jeder Form von Tyrannei ist, in der das Recht durch die jeweilige Macht bestimmt wird und darum „subject“ ist „to the arbitrary whims of whoever happens to posess that power“.[34]
  • Alle menschliche Moralorientierung sollte im Sinne einer „Social Self-Governance of Reason“[35] am regulativen sozialen Leitideal eines „ethischen Gemeinwesens“ oder einer „unsichtbaren Kirche“ ausgerichtet werden.

Man könnte und müsste diese Liste von „Kants bleibenden ethische Einsichten“ sicherlich vielfach ergänzen und modifizieren. Dennoch ist sie für mich zentral und aussagekräftig für die Formulierung einer heute „sag- und tragfähigen“ auch ethischen Perspektive auf unsere Welt. Eine solche ethische Sicht der Welt ist vielleicht nicht, wie Kant es dachte, absolut vernunftnotwendig und rational unabweisbar. Aber sie ist nach meiner Überzeugung dennoch in einem anderen Sinne für uns menschlich plausibel und „geboten“: Wir entscheiden uns für sie, und das nicht nur aus utilitaristischen Gründen, weil sie uns gut tut und uns hilft, die Welt für möglichst viele Menschen besser zu machen. Wir entscheiden uns auch aus religiösen Motiven für sie, weil wir fühlen und empfinden, dass sie unserer Menschlichkeit besser entspricht als andere Weltsichten, für die wir uns entscheiden könnten. Wir drücken mit unserer Entscheidung also eine religiöse Wirklichkeitsintuition aus, die nicht nur, wie Kant es dachte, unserer ethischen Rationalität am besten entspricht, sondern uns auch vorrational und intuitiv anspricht, bewegt und im Sinne eines „ultimate concern“ (Tillich) „in der Tiefe“ überzeugt.



Der ausführliche Gesamttext von „‘Religiöse Ethik‘ und ‚Ethische Religion‘ - zur bleibenden Bedeutung von Kants moralphilosophischem Denken für den ethischen Diskurs der Gegenwart“ kann hier als Download im pdf-Format abgerufen werden.


Literaturverzeichnis

  • Davaney, Sheila Greeve: Historcism. The Once and Future Challenge for Theology, Minneapolis 2006
  • Grenberg, Jeanine: Kant and the Ethics of Humility, Cambridge 2010
  • Hill, Thomas E. (Hg.): The Blackwell Guide to Kant’s Ethics, Chichester 2009
  • Korsgaard, Christine M.: Creating the Kingdom of Ends, Cambridge 2008
  • Kroeger, Matthias: Im religiösen Umbruch der Welt: Der fällige Ruck in den Köpfen der Kirche: Über Grundriss und Bausteine des religiösen Wandels im Herzen der Kirche, Stuttgart 22005
  • Louden, Robert B.: Kant’s Impure Ethics. From Rational Being s to Human Beings, New York, Taschenbuchausgabe 2002
  • Ludwig, Ralf: Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ. Eine Lese-Einführung von Ralf Ludwig, München 1995
  • Manolopoulos, Mark: If Creation is a Gift, New York 2009
  • Michalson, Gordon E.: Fallen Freedom. Kant on Radical Evil and Moral Regeneration, 1990, Taschenbuchausgabe Cambridge 2008
  • Michalson, Gordon E.: Kant and the Problem of God, Oxford 1999
  • Rossi, Philip J., SJ: The Social Authority of Reason. Kant’s Critique, Radical Evil, and the Destiny of Humankind, New York 2005
  • Sullivan, Roger J.: An Introduction to Kant’s Ethics, Cambridge 2008
  • Tillich, Paul: Theology of Culture, New York 1959
  • Wenzel, Christian Helmut: An Introduction to Kant’s Aesthetics. Core Concepts and Problems, Malden (MA), Oxford (UK) 2005
  • Wood, Allen C.: Kant’s Moral Religion. New York 1979, Paperbackausgabe 2009
  • Zweig, Arnulf: Reflections on the Enduring Value of Kant’s Ethics, in: Hill, Thomas E. (Hg.): The Blackwell Guide to Kant’s Ethics, Chichester 2009, 255-264
Anmerkungen


[1]    zitiert nach Louden. Impure Ethics, 182

[2]    Grenberg, Ethics of Humility, s. Literaturverzeichnis

[3]    zitiert nach Davaney, Historicism, 69

[4]    zitiert nach Davaney, Historicism, 70

[5]    vgl. Ludwig, Imperativ, 58

[6]    Thomas E. Hill in Blackwell Guide, 5

[7]    Kosgaard, Kingdom, 3

[8]    Wood, Moral Religion, 176

[9]    Michalson, Problem of God, 99

[10]   Michalson, Fallen Freedom, 20ff.

[11]   Zweig, Enduring Valus, 261

[12]   Grenberg, Ethics of Humility, 50

[13]   Grenberg, Ethics of Humility, 151

[14]   Grenberg, Ethics of Humility, 131ff.

[15]   Rossi, Social Authority, 4

[16]   Rossi, Social Authority, 9

[17]   Michalson, Fallen Freedom, 68

[18]   Michalson, Fallen Freedom, 8

[19]   Michalson, Fallen Freedom, 9

[20]   Wenzel, Introduction, 107

[21]   Michalson, Fallen Freedom, 14

[22]   Michalson, Fallen Freedom, 18

[23]   Rossi, Social Authority, 27

[24]   vgl. Blackwell Guide, 211ff.

[25]   vgl. Blackwell Guide, 229ff.

[26]   Manolopoulos, Creation, 4

[27]   Manolopoulos, Creation, 1

[28]   vgl. Blackwell Guide, 52ff.

[29]   vgl. Blackwell Guide, 83ff.

[30]   vgl. Blackwell Guide, 102ff.

[31]   zitiert nach http://www.luther.de/legenden/ws.html (Stand 12/2013)

[32]   Kroeger, Ruck, 203

[33]   Tillich, Theology of Culture, 134

[34]   Sullivan, Introduction, 12

[35]   Rossi, Social Authority, 41ff.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/88/sts11.htm
© Stefan Schütze, 2014