Wozu geht der Theologe ins Kino?


Heft 86 | Home | Heft 1-85 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Film ab - Predigt läuft

Ungeordnete Betrachtungen eines Kinogängers, der gelegentlich auf der Kanzel steht

Wolfgang Vögele

1. Predigtschlaf und Popcornrascheln

Aus biblischen Zeiten ist der Kirchenschläfer Eutychus bekannt. Während einer sehr langen Predigt des Apostels Paulus döst er ein. Weil er im Tiefschlaf am Fenster sitzt, stürzt er von der Fensterbank auf die Straße und erliegt seinen schweren Sturzverletzungen (Apg 20,9). Langeweile während der Predigt kann tödlich sein. Der Apostel Paulus kompensiert seine zu lang geratene Predigt, indem er den toten Eutychus umgehend wieder auferweckt. Wir wissen nicht, ob sich Eutychus bei Paulus bedankt hat. Dem Apostel selbst war schmerzlich bewusst, dass seine Rhetorik hinter seiner geistlichen Begabung zurückblieb (2Kor 11,6) und Hörer wie Zuschauer in Gefahr brachte.

Es kommt selten vor, dass ich ins Kino gehe. Wenn ich auf dem mit rotem Cord überzogenen Sessel Platz genommen habe, dann gefällt mir dreierlei, unabhängig von dem Film, der läuft. Ich mag die Atmosphäre gespannter Erwartung in den paar Minuten, bevor der Film anfängt. Ich spure mich ein in die Ungeduld, die über Werbespots und Eisverkäufer nur schwer hinwegsieht. Über zwanghafte Popcornraschler neben und hinter mir kann ich mich sehr ärgern, obwohl Popcornrascheln seit einigen Jahren beim Kinopublikum akzeptiert zu sein scheint. Ich mag die Dunkelheit und Verborgenheit des Zuschauerraums. Und ich mag das Gefühl, das sich beim Verlassen des Kinos nach der Vorstellung einstellt, diese Mischung aus Enttäuschung, Überraschung und Sehnsucht nach dem Ende des Films. Ich war eingetaucht in eine andere Welt, und nun kehre ich zurück in die Wirklichkeit meines Alltags. Nach einem Film mache ich gerne einen Spaziergang, um Bilder und Geschichte in mir nachhallen zu lassen.

Kino, Gottesdienst und Fernsehen holen jeweils eine andere Wirklichkeit hinein in die Wahrnehmung des Zuschauers. Der einfachste Fall ist das Fernsehen. Das Rechteck des Bildschirms ordnet sich ein in das Mobiliar der Wohnzimmerwand. Das Auge konzentriert sich zwar auf den Bildschirm, aber dieser ist nicht groß genug, dass er das gesamte Blickfeld einnimmt. Die gewohnte Alltagswelt der Bücherregale, Vitrinen und herumliegender Zeitungen bleibt im Blick. Das, was sich auf dem Bildschirm abspielt, seien es Nachrichten, Werbespots oder Soap Operas, dringt zwar ins Bewusstsein, aber die televisionäre Bilderwelt füllt es nicht aus. Die Wirklichkeit aus dem Bildschirm wird zum Bestandteil der privaten Wohnzimmerwelt. Fernsehen ist gekennzeichnet durch die Möglichkeit der Ablenkung. Der Zuschauer nimmt das klingelnde Telefon wahr, er holt sich eine neue Tüte Chips oder unterhält sich mit Partnerin oder Partner. Das Fernsehen öffnet ein Fenster zur anderen Welt der Koalitionsverhandlungen, Friedensverträge und Sonderangebote für Staubsauger. Aber es bleibt reduziert auf eine Nebensache. Der Zuschauer kann beständig zwischen Glotze und Alltag wechseln. Das ist bequem, es lenkt ab, und die meisten schlafen sehr gut dabei ein.

Im Kino, während der zwei Stunden der Vorstellung, davor und danach, ist das anders. Kino ist ein Erlebnis der Gemeinschaft, welche die Zuschauer um den Film herum bilden. Wer einen Film sehen will, der sucht einen besonderen Ort, das Kino auf, stellt sich in der Schlange an, um eine Karte zu kaufen, sucht sich einen Platz und wartet auf den Beginn der Vorstellung. Sobald der Film beginnt, geht das Licht, der Zuschauerraum wird abgedunkelt. Für zwei Stunden ersetzen die leuchtenden Projektionen auf der Leinwand den Alltag der Zuschauer, der in der Dunkelheit ausgeblendet ist. Für mich ist es ein sicheres Kennzeichen für einen schlechten Film, wenn ich mir während der Vorstellung bewusst werde, dass ich in einem Kino sitze. Noch schlechter ist der Film, wenn ich mich frage, wie lange der Film wohl noch dauern wird. In einem guten Film bemerke ich erst nach dem Ende der Vorstellung, dass ich in einem Kino gesessen habe. Das Kino, der Film entführt in eine andere Wirklichkeit. Diese kann mit der Alltagswirklichkeit übereinstimmen, muss es aber nicht. Besonders das mainstream Kino aus Hollywood nutzt alle Möglichkeiten computergestützter Bildtechnik, um eine Wirklichkeit zu produzieren, die mit der Alltagserfahrung nicht mehr kompatibel ist: immer größere Explosionen, gewaltigere Feuerbälle, heftigere Maschinengewehrsalven. Die meisten Zuschauer sind daran gewöhnt und können ganz selbstverständlich zwischen Phantasie und Alltag unterscheiden. Wenn nicht, kann es psychologisch gefährlich werden.

Der Gottesdienstbesucher nimmt sich am Sonntagvormittag eine Stunde Zeit, um die Welt nicht aus dem eigenen Blickwinkel, sondern aus der Perspektive Gottes zu betrachten. Er lässt sich von den Glocken anlocken, singt, begleitet von der Orgel, Choräle, spricht Gebete und Psalmen, verfolgt die Liturgie und hört sich eine Predigt an. Am Ende verlässt er gesegnet den Kirchenraum, welcher so gestaltet ist, dass Augen und Ohren auf diejenige Wirklichkeit Gottes ausgerichtet sind, die doch so schwer zu erfahren und zu begreifen ist: "Niemand hat Gott jemals gesehen." (1Joh 4,12) Dass reformierte, lutherische und katholische Kirchenräume dabei jeweils unterschiedliche architektonisch-theologische Konzeptionen verfolgen, war schon ausführlich in dieser Zeitschrift zu lesen.[1]

Kino und Kirche, auch das Stadion, der Zirkus und das Theater haben gemeinsam: Zuschauer müssen einen besonderen Ort aufsuchen, der von der privaten Wohnung entfernt und damit unterschieden ist. In Kino und Kirche ist etwas zu erleben, was zu einer Gemeinschaft verbindet, der Masse der Zuseher oder der Gottesdienstgemeinde. Kino und Kirche unterscheiden sich im folgenden: Das Kino verpflichtet den Zuschauer zu Stille und Passivität, mit der Ausnahme von Colatrinken und Popcornrascheln. Das gilt im Prinzip auch für den Gottesdienst. Nichts ist schlimmer als die hysterischen Briefe, mit denen sich emeritierte Pfarrer bei den aktiven Kollegen über schreiende Taufkinder beschweren. Aber zu einem guten Teil ist der Gottesdienst neben dem Hören und Wahrnehmen doch auf Teilhabe angelegt: Singen, Beten, Essen und Trinken im Abendmahl. Im Kino stehen Film- und Alltagswirklichkeit wie Hell und Dunkel dualistisch gegeneinander. Dieser Dualismus schließt nicht aus, beides dennoch reflektierend aufeinander zu beziehen. Aber das ist im Film nicht zwingend angelegt. Im Gottesdienst machen Pfarrer, Kantoren, Älteste gemeinsam den liturgischen und homiletischen Versuch, die Wirklichkeit Gottes und die Wirklichkeit des Alltags aufeinander zu beziehen. Wenn dieser Versuch sich in moralischen Appellen erschöpft oder in Banalitäten mündet, haben sich Pfarrer und Älteste umsonst angestrengt. Im gelungenen Fall hallen Predigt, Gebet und Gesang im Gottesdienstbesucher nach und tragen ihn durch die  Woche.

Ich würde nicht so weit gehen, den Kinobesuch als Religionsersatz oder säkularen Gottesdienst zu bezeichnen. Aber die Ähnlichkeiten im Setting gehen doch so weit, dass man über die Beziehung zwischen beidem weiter nachdenken kann. Ich erinnere gut eine Tagung, die ich als Studienleiter einer Evangelischen Akademie organisierte. Thema war die Qualitätssicherung von Gottesdiensten, es ging um liturgische und theologische Professionalität. Viele Teilnehmer, schwerfällige Referate, allgemeine Ratlosigkeit. Beim Abendplenum meldete sich ein Pfarrer, der mit zunehmend erregter Stimme Gottesdienst und Kinobesuch miteinander verglich. Am Ende ließ er der Lautstärke freien Lauf und brüllte: Warum gehen die meisten Menschen lieber ins Kino als in den Gottesdienst? Und er gab sich selbst die Antwort: Weil sie den Gottesdienst langweilig und das Kino spannend finden. Danach breitete sich peinlich Stille aus. Niemand wollte sich von diesem Schrei wachrütteln lassen, niemand wollte mehr etwas sagen. Ich weiß nicht mehr, wie es danach weiterging. Aber der Aufschrei dieses Pfarrers blieb mir im Gedächtnis. Darum ist dieser Essay entstanden. Ich will die Beziehung zwischen Gottesdienst, Religion, Kino und Film an einigen Beispielen entfalten. Dabei will ich mir nicht die verbreitete Unsitte von Religionspädagogen zu eigen machen, die von der Werbung bis zum Kinofilm überall Religion entdecken, um dann über Werbung und Kino zu reden statt über Jesaja und die Psalmen.

2. Nur die Liebe

Es war nicht erstaunlich, dass dem Filmregisseur Michael Haneke vor einiger Zeit die Ehrendoktorwürde einer Theologischen Fakultät verliehen wurde. Einer seiner bekanntesten Filme aus der letzten Zeit trägt den schlichten Titel "Liebe"[2]. In einem Kammerspiel zeigt der Film die Beziehung zwischen Anne und George, einem alt gewordenen Paar, das in einer großzügigen und gutbürgerlichen Pariser Altbauwohnung lebt. Nach einem Schlaganfall und einer misslungenen Operation sitzt Anne im Rollstuhl und muss gepflegt werden. Ihr Ehemann nimmt die Pflegearbeit klaglos auf sich. Er bewahrt selbst dann noch Annes Würde, als sich ihr Zustand immer weiter verschlechtert - bis an sein tragisches Ende.

Haneke erzählt im Grunde genommen eine Geschichte, die jeder Gemeindepfarrer aus der Distanz bei Geburtstags- und anderen Besuchen genauso erleben könnte. Gleichwohl würden die Zuhörer der Predigt eine Erzählung des Pfarrers über alte Menschen als banal empfinden, während in Hanekes Filmerzählung Kräfte der Konzentration, der Emotion und des Künstlerischen wirksam werden, die ihresgleichen suchen. Woran liegt das? Die einfache Antwort würde lauten: Die enorme emotionale Wucht des Film ist geknüpft an die herausragenden Leistungen der beiden Hauptdarsteller Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant. Das ist richtig, aber darin erschöpft sich die Antwort nicht. Haneke wirft einen nüchternen, fast erbarmungslosen Blick auf das Altwerden, Alter, auf das Versiegen von Intellekt und die Schwächung des Körpers am Ende des Lebens. Anne und George wissen, dass sie nicht mehr viel Zeit haben. Sie sind sich bewusst, dass das Leben sich langsam aus Körper und Geist zurückzieht, dass sie sterblich sind.  Und es ist das Faszinierende an Hanekes Regiearbeit, dass er die Fähigkeit zur Verdichtung und zum Weglassen besitzt. Haneke gestattet weder sich selbst noch den Zuschauern eine Abschweifung vom Thema des Alterns. Darin liegt eine künstlerische Strenge, die bis zur Unduldsamkeit geht[3]. Haneke zwingt seine Zuschauer, den Blick nicht vom Ende des Lebens abzuwenden und die Frage nach Dauer, Nachhaltigkeit und Ende einer von Liebe getragenen Beziehung zu stellen.

So ist die Liebe, sagt Haneke provozierend mit dem Titel seines Films: selbstverständlich, dauerhaft, respektvoll vor den Schwächen des anderen, auch dort wo es aus Gebrechlichkeit und Schwäche anderen peinlich wird. Das Alltagsnarrativ über die Liebe verbindet zielt auf den Anfang, auf das Verlieben, auf die ersten Küsse, auf das Kennenlernen, auf die Trauung, das erste Kind, auf kitschige Träume in Weiß und Pastellfarben. Die langjährige Wegstrecke der Liebe, die darauf folgt, bleibt unbeachtet. Der Blick auf das Ende der Liebe im Tod des einen Partners bleibt weitgehend unbeachtet. In diesen unbeachteten Raum des finalen Stadiums einer Liebesbeziehung richtet Haneke seine Kamera. Liebe ist das dauerhafte Zusammensein mit einem Partner, das am Ende des Lebens nicht vor dessen Schwäche und seinen versiegenden Kräften zurückschreckt.

Man kann aus diesem Film theologisch mehr lernen als aus dem Familienpapier der EKD. Haneke verknüpft den abstrakten Begriff der Liebe im Titel mit einer dichten und bewegenden Filmerzählung, nicht mehr und nichts anderes. Er gestattet sich keine philosophische oder theologische Abschweifung. (Keine Sorge: Ich komme gleich auf einen predigenden Film.) Darin wird Haneke nach meinem Dafürhalten zu einem Vorbild für Predigten. Selbstverständlich, diese sollten die Lebenswirklichkeit alter und dementer Menschen berücksichtigen. Aber entscheidend kommt mir dieses Moment der Verdichtung vor. Viel zu oft begeben sich Predigten auf Abwege des Abstrakten, des Banalen und des zu oft Wiederholten. Haneke predigt filmisch über die Würde des Alters und erzählt eine einzige Geschichte, mehr nicht. In dieser Strenge liegt die Größe dieses Films.

3. Apokalypse sprengt Alltag

Es gibt Filme, die leben von ihrer Unerschrockenheit, vom Unvorstellbaren und von der Überraschung, die sie auslösen. Vom dänischen Regisseur Lars von Trier ist vor allem Mut zu lernen. Ein apokalyptischer Film im Kino? Was vor einigen Jahren für die Kinoästhetik unvorstellbar war, in Lars von Triers Film “Melancholia”[4] wird es Ereignis.

Trier geht das Risiko ein, vom Ende der Welt zu erzählen. Ein Planet, Melancholia genannt, nähert sich der Erde, offensichtlich auf Kollisionskurs. Justine, die traurige Werbetexterin im Brautkleid, blickt zum Nachthimmel. Ihr fällt sofort auf, dass etwas nicht stimmt. Sie feiert eine opulente Hochzeit in einem weitläufigen Landhaus an der Küste, aber gleichzeitig merkt der Zuschauer, dass sie von Angst und Unruhe bestimmt wird. Die Hochzeit ist nur der Versuch, den Trümmern des Melancholischen in ihrem Innern zu entkommen. Deswegen scheitert die Hochzeit, obwohl sich Schwester, Schwager und Vater größte Mühe geben, Justine ein gelungenes Fest zu bereiten. Die Hauptfigur, großartig gespielt von Kirsten Dunst, läuft mehrfach weg von der Hochzeitsgesellschaft. Der Himmel kommt ihr näher als die ausschweifende Party. Dieser Eindruck verstärkt sich im zweiten Teil des Films, der die letzten Tage vor dem Weltuntergang schildert, die keineswegs von Chaos und allgemeiner Untergangsstimmung geprägt sind.

Man kann das kitschig finden, vor allem mit der unterlegten "Tristan"-Musik von Richard Wagner. Aber ich bewundere den Mut von Triers, über die Grenzen des Normalen, Banalen und Pragmatischen hinauszugehen. Ich meine, ein solcher Mut täte auch jeder Predigt gut: sich einmal konsequent in diejenigen Bereiche des Theologischen und Spirituellen hineinzubegeben, die Ungewöhnliches, Staunenswertes und Überraschendes zu bieten haben und von dort mit Entdeckungen zurückzukehren, welche die Wahrnehmungsmuster des Gewöhnlichen sprengen. Allzu oft versandet die Predigt über den Glauben im Konventionellen, und hier wäre das Serum dagegen zu entdecken - zumal sich von Trier theologischer Topoi bedient. Er spielt auf hochvirtuose und künstlerische Weise mit dem Untergang der Erde und den Ängsten der Menschen davor.  So wichtig für eine Predigt das Moment der Alltagsethik[5] sein mag, so gehört doch unabdingbar dazu, die von solcher Orientierung am Alltag gesteckten Grenzen gelegentlich zu überschreiten - und zwar gerade in jene Richtung, vor denen sich Prediger schon immer gefürchtet haben, von der Jungfrauengeburt über die Höllenfahrt bis zu den Endzeitbildern der Offenbarung des Johannes. Sicherheitshalber sei noch erwähnt, dass von Trier nicht an der Wiedererrichtung des metaphysischen Weltbildes arbeitet. Er interessiert sich für die Psychologie des vom bevorstehenden Untergang bedrohten Menschen.

Von Trier hat keinen theologischen Film gedreht, Haneke übrigens ebensowenig, aber bei beiden verwandelt sich, trotz ganz unterschiedlicher ästhetischer Zugänge, die Filmerzählung in eine Meditation über die Grenzen des Menschseins, die theologisch beleuchtet werden, ohne dass das Begriffsinstrumentarium der Theologie verwendet wird.

4. Schöpfung beim Frühstück oder Predigt als Film

Die Grenze zur Theologie überschreitet der amerikanische Regisseur Terrence Malick. In seinem Film "Der Lebensbaum"[6] bringt Malick die Irrungen und Wirrungen einer amerikanischen Vorstadtfamilie in den fünfziger Jahren mit nichts weniger als der Schöpfungsgeschichte zusammen. Drei Söhne hat diese Familie. Einer davon stirbt als junger Mann, vermutlich im Krieg. Wieso musste er sterben? Wieso hat Gott das zugelassen? Der Film stellt diese Fragen in Assoziationen, Rückblenden, in großartigen Naturbildern von Wellen und Wasserfällen, von Sternenhaufen und Galaxien, von Vulkanausbrüchen und Sonnenflecken. Er scheut sich nicht, aus der Bibel zu zitieren. Aber er zitiert, er argumentiert nicht mit ihr. Der Regisseur stellt in seinen Bildern Natur gegen Gnade, Unschuld gegen Machtmißbrauch und Barmherzigkeit gegen Herzlosigkeit. Im Grunde ist der Film ein Lobpreis der Schöpfung und ein Gebet um Befreiung aus menschlichen Ängsten.

Ich will nicht verschweigen, dass die assoziativen Passagen gelegentlich sehr in die Nähe der Sonnenuntergangs-Ästhetik von Kawohl-Postern kommen. Aber man hat den Eindruck, dass der Regisseur sich jedes Mal fängt, bevor er vollständig in den Kitsch abstürzt. Ohne mich in die schöpfungstheologischen Details dieses Films zu verlieren, scheint mir der Hinweis auf die Erzähl- und Bildästhetik Maliks wichtig. Er verfolgt ein Programm, das dem Hanekes genau entgegengesetzt ist. Haneke lebt von der Konzentration, Malik von der Assoziation. Seinen Ausgang nimmt er von der Alltagsgeschichte der Vorstadtfamilie. Aber er erzählt diese Geschichte nicht linear, sondern ungeordnet und in Bruchstücken, immer wieder unterbrochen von essayhaften Passagen, die Assoziationen und Interpretationen zur erzählten Geschichte liefern. Dieses geschieht nicht so, dass er im Stil einer Seminararbeit ein Element nach dem anderen interpretieren würde. Malik bietet dem Zuschauer einen essayistischen Film, der dem Zuschauer keine einlinigen (theologischen) Bedeutungen naheliegt, sondern ihn zum Nach- und vor allem Weiterdenken anregt. Der Film muss gar nicht für eine Predigt "rezipiert" werden, er ist selbst eine Predigt. Als ich diesen Film sah, war kein Popcornrascheln zu hören, was ich als positives Zeichen werte. Auf der anderen Seite will nicht jeder in dieser Weise "angepredigt" werden. Es ist faszinierend, im Verlauf des Films zu sehen, wie Malik eine kosmologische Deutung in die Geschichte hineinstellt, Deutung und Erzählung miteinander verschachtelt.

Es entwickelt sich damit ein gemeinsamer Knoten von Film und Predigt, Kino und Kirche. Er besteht im Ineinander der drei Fäden von Erzählung, Deutung und Erfahrung. Haneke beschränkt sich strikt auf die Erzählung. Er überlässt Deutung und Erfahrung dem Zuschauer. Von Triers Film zielt auf die Brücke der Psychologie, welche die apokalyptische Erzählung und die Erfahrung des Zuschauers miteinander verknüpft. In Maliks "Lebensbaum" gewinnt die Deutung ein deutliches Übergewicht. Predigten - so meine eigene Erfahrung und Beobachtung - kommen in der Regel mit einem einengenden Überangebot an Deutung daher. Aber solche Texte mit einem Überangebot an theologischer Deutung sind zwei Gefahren ausgesetzt: Entweder sie langweilen den Zuhörer, weil er das alles schon kennt und zum wiederholten Mal hört. Oder sie engen den Zuhörer ein, weil sie ihn für eine bestimmte Version des christlichen Glaubens gefangennehmen. So oder so ist die Freiheit dessen, der am Gottesdienst teilnimmt, in Gefahr: Es droht ganz unevangelisch Fremdbestimmung.

5. Unsichtbare Fäden

So einfach machen es die drei Regisseure des Films "Wolkenatlas", Tom Tykwer und die beiden Brüder Wachowski sich und ihren Zuschauern nicht. Ihr Film, der auf dem gleichnamigen Roman David Mitchells basiert, ist in diesem Zusammenhang deshalb besonders interessant, weil er einen faszinierenden Gegenentwurf zum linearen Erzählen liefert und weil er um religiöse Vorstellungen von Seelenwanderung, Wiedergeburt und Ewigkeit kreist.

Einen Wolkenatlas kann es nicht geben, weil Wolken in beständiger Bewegung begriffen sind. Ihre Konturen verändern sich beständig und verschwimmen, deswegen können sie nicht kartographiert werden. Genauso verhält es sich mit den Seelen der Menschen, sie haben keine klaren Grenzen und keine deutlichen Konturen. Aus einer Psychoanalyse ergeben sich neue Erkenntnisse, aber keine Landkarte der Seele, die noch dazu über das eigene Leben hinausreicht. Der Film zeigt kunstvoll, wie das Leben von sechs Menschen unterschiedlicher Zeitperioden miteinander verwoben und verknüpft ist. Sie leben zur Zeit des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert in Neuseeland, im 20. Jahrhundert zur Zeit der Ölkrise und in der Zukunft, im 22. Jahrhundert, nach einer schrecklichen atomaren Katastrophe.

Der faszinierende Film lebt von überwältigenden Bildern, von schnellen, manchmal verwirrenden Schnitten zwischen den Zeitebenen und von den Schauspielern, die unter verschiedenen Masken und Rollen stets dieselben bleiben. Das Erzählen zwischen den Zeitebenen verkommt aber nicht zum Lobpreis der von der Postmoderne auf den Thron gehobenen Zufälle. Hinter der anfangs verwirrenden, gegen die Linearität der Chronologie gestellten Szenenabfolge wird eine zweite tiefere, religiöse und theologische Ordnung sichtbar.

Gegen Ende dieses Films kommentiert eine Stimme aus Hintergrund: „Unsere Leben gehören nicht uns. Wir sind verbunden mit anderen. In Vergangenheit und Gegenwart. Und mit jedem Verbrechen und jedem Akt der Güte erschaffen wir unsere Zukunft.“ Alles ist mit allem anderen verbunden. Nichts steht allein, kein Mensch. Nichts geht verloren. Nichts geschieht umsonst. Belohnung und Bestrafung sind unausweichlich. Auch in einem anonymen Grab verschwindet das Gedächtnis an einen Menschen nicht.

Diese Ordnung ist ohne Zweifel religiös, aber ihre Konturen bleiben verschwommen. Sie ist keine Religion, sondern nur ein Wolkenatlas, den es eigentlich nicht geben kann. Der Wolkenatlas kartographiert eine Mischung aus Seelenwanderung und Kosmosvorstellung. Die christliche Theologie verfolgt ein anderes Ordnungsprinzip, aber sie hat mit dem Film gemeinsam die unausgesprochene These, dass die Wirklichkeit dieser Welt nicht für sich selbst steht. Der Film führt eine Gerechtigkeitsvorstellung ein, die darauf beruht, dass nichts unbewertet bleibt. Alles, noch das Aufheben eines Streichholzes oder der achtlose Tritt gegen einen Papierkorb hat Auswirkungen, die möglicherweise erst im nächsten oder übernächsten Leben zum Tragen kommen. Christliche Theologie verfolgt den Gedanken eines Gottes, der als Schöpfer, Erhalter und Erlöser Gerechtigkeit stiftet, die sich in der Gegenwart als Rechtfertigung, in der Zukunft als Endzeit, letztes Gericht und Ewigkeit verwirklicht.  Gerade die in den Evangelien erzählte Geschichte des Jesus von Nazareth lehrt vom Anfang bis zum Ende den Blick auf die Kleinigkeiten, das Abseitige und das Unscheinbare, das Unaufdringliche. Der Stall in Bethlehem ist nicht die Fifth Avenue in New York. Joseph und Maria waren nicht die Kennedys oder die Rothschilds. Und der Erlöser war kein schriller Filmstar und kein machtbewußter Generalsekretär.[7]

Und noch ein Unterschied zwischen "Wolkenatlas" und christlicher Theologie. Die drei Regisseure wie auch der Romanautor der Vorlage lassen es postmodern offen, wie es um die "Wahrheitsfrage" ihrer Ordnung der universalen Seelenwanderung steht. Es könnte ernst gemeint sein, es könnte aber auch nur ein faszinierendes Spiel sein, Ausdruck einer religiösen Sehnsucht, die sich nicht verwirklichen läßt. Der Predigt steht nach meiner Überzeugung dieser Weg postmoderner Spielerei nicht zur Verfügung. Wenn sie es trotzdem tut, betrügt sie den Zuhörer um die Erwartung, in Deutung und Auslegung der Bibel etwas über die Gnade des Gottes Jesu Christi zu erfahren.

Aber man darf den Unterschied zwischen Film und Predigt auch nicht im Gegenüber von Unterhaltung und Unterweisung fixieren. Das Kino, wie bisher sichtbar wurde, unterhält nicht nur. Und die Predigt will nicht nur unterweisen. Es gibt den gemeinsamen Raum der Erzählung, des Narrativen, linear und unterbrochen, chronologisch und episodisch, berührend und distanziert.

6.  Der Mensch im Tier der Schöpfung

In diesem Film ist neunzig Minuten lang kein Mensch zu sehen. Über verödete Eisflächen pfeift eiskalt beißender Wind. Packeis verdichtet sich zu bizarren Landschaften, die sich vor Felsengebirgen auftürmen. In der grellen Mittagssonne ist hinter den Eisschollen das dunkelblaue Meer zu sehen. Aus den wenigen verbliebenen Wasserlöchern schießen Pinguine hervor und gleiten auf dem Eis bäuchlings bis zum Stillstand. Sie richten sich auf und blicken sich um nach den anderen Tieren der Gruppe. Wenn alle aufgetaucht sind, beginnen sie gemeinsam tippelnd, watschelnd und auf dem Bauch gleitend die kilometerlange Strecke zu ihren geschützten Brutplätzen.

In seinem Film „Die Reise der Pinguine“[8] erzählt der französische Regisseur Luc Jacquet von der mühsamen und anrührenden Lebensreise der Kaiserpinguine in der Antarktis. Ihm gelingt mit diesem Film ein hymnischer Psalm auf die Schönheit und Anmut dieser eleganten Tiere, die unter schwierigsten klimatischen Bedingungen in jedem Jahr zu ihren angestammten Brutplätzen zurückkehren, um sich dort zu paaren, ein Nest warm zu halten und die Jungen großzuziehen.

Männchen und Weibchen, beide mit den leuchtenden orangenen Flecken an der Schläfe, wechseln sich beim Brüten und Nahrungsbeschaffung ab; sie nehmen für ihre empfindliche Brut eisige Kälte, wiederholte Schneestürme und dauernde Winterdunkelheit in Kauf. Mehrfach legen die Elternpinguine die weite Strecke zwischen den abgelegenen Brutplätzen und den verbliebenen, vom Wintereis freien Wasserlöchern zurück, in ihrem tapsenden langsamen Schritt, der beim Betrachter gleichermaßen den Eindruck von Unbeholfenheit und majestätischer Würde hervorruft.

Das Ei des jungen Pinguins wird in einer Hautfalte unter dem Bauch aufbewahrt, damit es nicht im kalten Sturmwind erfriert. Die jungen Pinguine wachsen fünf Monate lang bei ihren Eltern auf. Dann verlieren sie ihr graues Jungtiergefieder, und sie ziehen zur nächsten Wasserstelle, um Schwimmen und Fische fangen zu lernen. Mit diesem ersten Sprung ins Meer, mit dem Übergang ins Unbekannte endet der Film. Am Ende des filmischen Schöpfungspsalms steht der Aufbruch in die kalte und dunkle Meereswelt, in ein Pinguinleben voller Gefahren.

Im Vergleich zum "Wolkenatlas" und zum "Lebensbaum" ist das sehr konventionell erzählt, und der Film ist kritisiert worden für seine Tendenz zur Vermenschlichung der Tiere. Gleichwohl handelt es sich nicht um einen simplen, beobachtenden Tierfilm à la Grzimek oder Sielmann, wie sie am Montagabend im Fernsehen zu sehen sind. Der Zuschauer wird aus der Reserve der Beobachtung geholt und zu Staunen und Bewunderung verlockt: ein anrührendes Lob, aber eben keine Lobhudelei, welche die ständigen Gefahren und Grausamkeiten des Pinguinlebens ausblenden würde. In seiner Anmut wird der Film zum Gleichnis auf das Leben selbst, von der Geburt bis zum Tod, von den Gefahren bis zu den Schönheiten, vom Zufall bis zum Schicksal, von Leben schaffen und Leben zerstören. Es ist eine Geschichte, die das Erwachsenwerden von schützender Elternliebe bis zu mutiger, unerschrockener Selbständigkeit nachzeichnet.

In einer Predigt[9] habe ich diesen Film Jacquets als einen Schöpfungspsalm verstanden. Die Predigt legte Jesu Wort von den Vögeln unter dem Himmel aus. Ich zitiere die Übergangspassage: "Jesus von Nazareth hat in seinem Leben bestimmt nie einen Pinguin gesehen. Aber er nimmt die Natur wahr, die wunderschönen Lilien, die unscheinbaren Senfkörner, Getreide, Fische, Vögel. Er ist ein guter Beobachter, und er kann aus genauen Beobachtungen sprechende Gleichnisse machen. Häufiger spricht er von Vögeln, in unserem Predigttext von Sperlingen, von den kleineren unter den Vögeln, die so häufig übersehen werden." Ist dieser Übergang vom Film in die Predigt gestattet? Ist das angemessen?

Jacquets Film ist angelegt wie "Liebe" von Michael Haneke. Beide beschränken sich auf die reine Erzählung und versagen sich jede Art von Deutung innerhalb des Films. Jacquet geht nicht so kunstvoll vor wie Haneke, manche Passagen seines Films winken ohne Worte, aber mit dem großen Zaunpfahl nach der entsprechenden Deutung. Aber diese ist eher ökologisch-moralisch als theologisch geprägt. Den Film als "Schöpfungspsalm" zu verstehen, kommt nicht aus dem Film selbst, sondern aus der Anlage der Predigt. Die Predigt geht theologisch weit über den Film hinaus. Sie ergänzt den Film mit einer Deutung, die nicht in diesem selbst angelegt ist.

7. Versöhnung

Versöhnung zwischen Israelis und Deutschen, zwischen Juden und Christen ist eines der großen Themen der evangelischen Predigt der Nachkriegszeit, nicht nur am 9. November und am 8. Mai, am Israelsonntag und am Volkstrauertag. In Politik, Literatur und Predigt ist über den Nationalsozialismus, den Holocaust unendlich viel geschrieben und geredet worden. Richard von Weizsäckers Rede zum 8.Mai, Marcel Reich-Ranickis Bundestagsrede zum Gedenken an Auschwitz, die Tagebücher Anne Franks, Bernhard Schlinks globaler Bestseller "Die Vorleserin" oder Ruth Klügers "weiter leben", wissenschaftliche Werke wie die von Raoul Hillberg und Eugen Kogon, die Fernsehserie "Holocaust", Steven Spielbergs Spielfilm "Schindlers Liste" und Claude Lanzmanns Dokumentarfilm "Shoah" sind nur wenige herausragende Beispiele aus seiner sehr langen Reihe von Versuchen, sich literarisch oder wissenschaftlich mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust auseinanderzusetzen. 

Es sei an die berühmte Paulskirchenrede Martin Walsers[10] aus dem Jahr 1998 erinnert, um darauf hinzuweisen, dass diese lang anhaltende Auseinandersetzung auch zu Kritik und heftigen Kontroversen führte. Um so wichtiger scheint mir deshalb das Beispiel eines "kleinen", unaufwendig produzierten Dokumentarfilms mit dem Titel "Menachem und Fred"[11].

Menachem und Fred sind Brüder. Beide wuchsen in den dreißiger Jahren in Hoffenheim auf. Hoffenheim ist das Dorf mit dem Bundesliga-Club, auf. Die Brüder waren Juden, und die Familie wurde in das deutsche Internierungslager Gurs in Südfrankreich abtransportiert. Den Eltern gelang es, die beiden Söhne in einem französischen Waisenhaus zu verstecken, wo sie den Krieg überlebten. Die Eltern selbst kamen in Auschwitz ums Leben. Nach dem Krieg wurden die Söhne wurden getrennt. Der eine ging in die Vereinigten Staaten, um Flugzeugingenieur zu werden. Der andere ging nach Palästina, nahm den Namen Menachem an, studierte Theologie und wurde Rabbiner. Jahrzehnte treffen sie sich wieder, nach einer verwickelten Suche über die Kontinente hinweg. Sie lesen die noch erhaltenen Briefe der Eltern und reisen an die Orte, die das Schicksal ihrer Familie bestimmt haben: Hoffenheim, Gurs und auch Auschwitz, wo die Eltern ermordet wurden. Und sie treffen den Sohn des Schulrektors, welcher im Hoffenheim der dreißiger Jahre dafür sorgte, dass die Familie von Menachem und Fred deportiert wurde. Dieser Sohn ist einer der Mitbegründert der Software Firma SAP und der Mäzen des Hoffenheimer Bundesligaclubs: Dietmar Hopp.

Im Unterschied zu den bisher behandelten Filmen handelt es sich bei "Menachem und Fred" um einen Dokumentarfilm, der unprätentiös und leise daherkommt, keine Spur von cineastischem Bombast, selbstverständlich auch kein Mainstream-Kino. Auch in diesem Fall begnügen sich die Regisseure mit dem Dokumentieren, sie lassen das Brüderpaar in vielen Interviews zu Wort kommen.

Die theologischen Fragen entstehen wie von selbst aus der Lebensgeschichte der Brüder. Fred wurde Agnostiker und praktiziert den jüdischen Glauben seit Jahrzehnten nicht mehr. Menachem ging genau den umgekehrten und studierte Theologie und wurde Rabbiner. Als die Familien der beiden Brüder sich zum ersten Mal in Heidelberg begegnen, stellen sich die Kinder und Enkel Freds die Frage nach ihrem jüdischen Glauben. Der Film spricht auch in vorsichtigen Andeutungen von der Versöhnung zwischen den Nachkommen derjenigen, die für die Deportation sorgten, und den Opfern, die überlebten.

Mir scheint diese anrührende Geschichte deswegen für Predigten wichtig, weil sie von Versöhnung (in ihren gelungenen und misslungenen, ihren eingeholten und ausstehenden Aspekten) erzählt und nicht darüber reflektiert. Der Film erzählt von den krummen und schwierigen Wegen begonnener Versöhnung, während Predigten theologisch dasselbe in abstrakten Begriffen und Strukturen fassen - und damit die Lebenswirklichkeit der Gottesdienstbesucher verfehlen. 

8. Maschinenraum und Spurensuche

Nach dem berühmten Wort Karl Barths liegen auf dem Schreibtisch des Theologen die Tageszeitung und gleich daneben die Bibel. Die Tageszeitung suggeriert dabei eine Verbindung von christlichem Glauben und Tagespolitik, allerdings haben auch die Theologen mittlerweile gemerkt, dass neben der Bibel auch ganz anderes liegen oder stehen könnte: der Bildschirm, das Smartphone, das Tablet, ein Roman. Nun ist der Schreibtisch ein einsamer Ort, und gerade ihre dialogische Existenz können Theologen, die sich selbst an den Schreibtischstuhl fesseln, nicht ausleben. Theologie braucht neben dem Lesen und Nachdenken das Gespräch, den Gottesdienst, den Ortswechsel.

Das Gespräch dient dem Austausch von Argumenten sowie der Seelsorge und vor allem dem Trost. Das gilt zum Teil auch für den Gottesdienst, aber dieser geht nicht in Seelsorge auf, er ist nicht nur ein Ort des Nachdenkens, sondern des Gebets und der Liturgie. Zum Gottesdienst gehört ein Moment der Inszenierung. Gottesdienst ist zugleich An-Sprache (Gebet), Erzählung und Deutung.

Genau diese drei Momente kann auch das Kino in sich einschließen, in unterschiedlichen Mischungen, mit unterschiedlichen Akzentsetzungen. Ein Film kann ein Gebet oder ein Psalm in Bildern sein, muss es aber nicht. Beispiele dafür wurden angesprochen. Filme umfassen stets ein Moment der Erzählung und der Deutung. So sehr eines von beiden Momenten zurücktreten kann, so sehr sind beide miteinander verschränkt, auch in Filmen, in denen der Regisseur ganz bewusst auf Deutung (Haneke) oder ganz bewusst auf Erzählung (Malik) verzichtet.

Kino zielt im Gegensatz zur Zeitung nicht nur auf Tagesaktualität, und im Gegensatz zur Literatur zielt es nicht allein auf Sprache und Wort, sondern auf Bilder. Das Kino ist eine Maschine zur Erzeugung von Bildern, die Erfahrungen vermitteln. Ich spreche bewusst von einer Maschine, denn die erzeugten Erfahrungen sind nicht unmittelbar, sie sind künstlich erzeugt, im günstigen Fall Kunst, im guten Fall Handwerk, im schlechten Fall Kitsch oder Schund.

Insofern kann Theologie auf ganz unterschiedliche Weise im Kino andocken und Filme aufnehmen. Wege, die vom Film zur Predigt führten, wurden demonstriert. Wie der Gottesdienst erfordert das Kino vom Zuschauer einen Ortswechsel. Die Wohnzimmerkultur des Individualismus, das Verpuppen in der Wohnzimmerwelt von Glotze, Spielekonsole, Web-TV, Desktop Computer fördert eine Kultur der Gefahrlosigkeit und der Schutzhäute, durch die die Wirklichkeit erfolgreich auf Abstand gehalten wird. Wer sich nicht mehr bewegt, der fällt bald, im Ohrensessel, die Beine hochgelegt und mit der Chipstüte in der Hand, in den kulturellen Winterschlaf.

Film im Kino funktioniert genauso wie Gottesdienst in der Kirche, nur mit einem Ortswechsel, der die Glaubenden wie die Cineasten aus ihren eigenen vier Wänden befreit. Heimkino reduziert die Leinwand auf den Flachbildschirm neben der Schrankwand. Gottesdienst im Fernsehen? Schweigen wir darüber.

Wenn das Kino ein Maschinenraum für Erfahrungen ist, dann kann der Theologe davon freimütig und eklektisch Gebrauch machen. Nicht jeder Film eignet sich, aber einige Filme eignen sich - manchmal vollkommen unerwartet - ganz besonders. Filme eignen sich nicht als "Beispiele" als Oberflächen aus Zelluloid, in deren Tiefe sich unerkannte biblische Wahrheit verbirgt. Wer Kino und Theologie miteinander zum Tanzen bringen will, muss sich tiefer auf "Konstruktion", Regie und Erzählweise des jeweiligen Films einlassen.

Dem entspricht ein doppelter Begriff von Theologie: Theologie als Spurensuche und als Antwort. Die Frage, wie sich in der Theologie Spurensuche und Antworten zueinander verhalten, wäre einen zweiten Essay wert. Der Theologie als  Spurensuche steht auch das Kino offen, wie alle Lebensräume und -welten des Kulturellen. Spurensuche zielt auf Erfahrungen des Transzendenten in der Lebenswelt, wie auch immer sie gestaltet sein mögen. Theologie als Antwort gibt diesen Erfahrungen eine bestimmte - christliche - Deutung, die auf den Erzählungen der Bibel aufruht.[12] Suchen und Antworten sind nicht dasselbe, aber sie stehen zueinander in einem Entsprechungsverhältnis. Das Kino steht als fremder, nicht-kirchlicher, aber sehr wohl als  zu Zeiten religiöser Raum dazwischen.

9. Postscriptum: Warum geht der Theologe ins Kino? Zweiundzwanzig Antworten

Es gibt viele Gründe, ins Kino zu gehen.

Der Theologe geht ins Kino,

  • weil er keine Predigten schreiben will, die wie Kirchenschlaftabletten wirken.
  • weil er Popcornraschler[13] hasst.
  • weil er seine Predigten gerne im Dunkeln vorbereitet.
  • weil er Scarlett Johannson in den Filmen Woody Allens mag.
  • weil er manchmal gern mit anderen Menschen zusammen ist, ohne mit ihnen zu reden.
  • weil er froh ist, manche Erfahrungen (Seelenwanderung, Einschlag eines fremden Planeten auf der Erde, Geburt und Tod eines Kaiser-Pinguins) nicht selbst machen zu müssen.
  • weil er gern mit den Augen anderer über die Schöpfung staunt, inklusive Pinguine, Scarlett Johannson und die Küstenlandschaft in "Melancholia".
  • weil er nach dem Film das Gefühl mag, vom wiederkehrenden Alltag zugleich enttäuscht und fasziniert zu sein.
  • weil er neidisch ist, wie viele Menschen vor der Leinwand sitzen.
  • weil er sehr gerne laut über den Film tuschelnde alte Damen in der Reihe hinter ihm zurechtweist.
  • weil er hofft, dass der einundachtzigjährige Edgar Reitz noch mindestens drei weitere Teile seiner "Heimat"-Serie dreht.
  • weil ihm die Nervosität gefällt, die ihn überkommt, wenn er ein Kino besucht, in dem die Plätze nicht nummeriert und darum nicht garantiert sind.
  • weil er noch keinen Gottesdienst besucht hat, in dem der Pfarrer so attraktiv aussah wie George Clooney.
  • weil er hofft, einmal wieder einen Film zu sehen, in dem er die Musik so wunderbar findet wie in der Scheunenbau-Szene von Peter Weirs "Der einzige Zeuge"[14].
  • weil er in manchen Filmen Großartiges und Professionelles über Kasualien, Liturgie, Predigt und Pastorenhabitus  lernen kann (Rowan Atkinson in "Vier Hochzeiten und ein Todesfall"[15]).
  • weil er sich "Das Leben des Brian" lieber noch einmal anschaut als die Szenen zum viertausendsechshundertdreiundneunzigsten Mal in der Predigt nacherzählt zu bekommen.
  • weil die Dolby-Surround-Anlage akustisch mehr leistet als die jahrzehntealten Stereolautsprecher in der Kirche, die Liturgen und Prediger unverständlich tönen lassen.
  • weil er manchmal gern die Schauburg gegen die feste Burg im Choral eintauscht.
  • weil das Rascheln mit Chips vor dem Fernseher noch viel schlimmer ist als das Rascheln mit Popcorn vor der Leinwand.
  • weil er nicht wie Eutychus aus dem Fenster stürzen kann, wenn er während der Predigt einschläft.
  • weil ein Sperrsitz in der ersten Reihe manchmal bequemer ist als eine ungepolsterte Kirchenbank.
  • weil er schlechte Filme besser findet als schlechte Predigten.

Anmerkungen



[1]    Andreas Mertin, Die Geste des weißen Raumes, 2013, http://theomag.de/83/am439.htm.

[2]    Https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2012/09/23/alte-liebe/

[3]    Ebenfalls sehr eindrucksvoll zum Thema Alter und Demenz, aber eben doch nicht so stringent wie Haneke, der Film "Das kleine Zimmer" der Schweizer Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond. Er schildert die Geschichte von Edmond, einem altgewordenen störrischen Pflanzen- und Musikliebhaber, und von Rose, seiner Krankenschwester. Der diabeteskranke Edmond leidet unter dem Verlust seiner Selbständigkeit. Rose hat die Totgeburt ihres Sohnes noch nicht überwunden. Es ist sehr eindrucksvoll zu sehen, wie diese beiden eigensinnigen Menschen lernen, sich gegenseitig zu helfen und dann am Ende auseinandergehen. Vgl. https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2011/10/04/das-kleine-zimmer/

[4]    Https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2011/10/13/schwarzer-untergang/

[5]    Wolfgang Vögele, Weltgestaltung und Gewißheit. Über Alltagsethik und theologische Anthropologie, Münster 2007.

[6]    Https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2011/06/20/lebensbaum/

[7]    Wolfgang Vögele, Fußspuren und andere Kleinigkeiten der Heilsgeschichte. Predigt über Lk 1,67-79, 2.12.2012, http://www.predigten.uni-goettingen.de/predigt.php?id=3896&kennung=20121202de

[8]    Http://www.diereisederpinguine.de/

[9]    Wolfgang Vögele, Predigt über Mt 10,26-39, 31.10.2005, http://www.predigten.uni-goettingen.de/archiv-7/051031-2.html#_ftn1.

[10]   Martin Walser, Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche am 11.Oktober 1998, http://opus.bsz-bw.de/hdms/volltexte/2005/488/pdf/walserRede.pdf

[11]   http://wolfgangvoegele.wordpress.com/2010/10/24/menachem-und-fred/. Vgl. auch den Trailer http://www.youtube.com/watch?v=7MEOL2F6_e8 und das Presseheft: http://filmlichter.de/images/Menachem_Fred/MF_Presseheft_210709.pdf.

[12]   Dazu Wolfgang Vögele, Gelehrte Theologie und gelebte Religion, PTh 92, 2003, 251-265; ders., Welches Handeln folgt aus dem Glauben? Theologische Bemerkungen zu Werten, Orientierungen und Gewißheit, ZEE 48, 2004, 95-106.

[13]   Dazu, ohne dass ich die Reaktion der gezeigten Platzanweiserin befürworten würde: http://www.youtube.com/watch?v=hn3fqO0AAA8.

[14]   Leider in schlechter Qualität: http://www.youtube.com/watch?v=hCXCeV5RbHg.

[15]   Leider in schlechter Qualität: http://www.youtube.com/watch?v=6vBadGJp1hQ.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/86/wv06.htm
© Wolfgang Vögele, 2013