Wozu geht der Theologe ins Kino?


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Warum gehe ich als Theologe ins Kino?

Eine Selbstanzeige

Harald Schroeter-Wittke


Ich gehe gerne ins Kino.

Ich liebe Kabarett und Sport schauen.

Ich pflege regelmäßiges nordic walken.

Brett- und Kartenspiele gehören zu meinen Leidenschaften.

Musik höre und mache ich mit Begeisterung.

Mit Genuss lese ich Noten und Wein, weniger Bücher.

Etwas für andere zu arrangieren, fasziniert mich.

Auf meine Weise bin ich auch eine Rampensau.

All dies mache ich (auch) als Theologe.

Warum?

Weil es mir unendlichen Spaß macht.

Ich unterhalte gerne, ich unterhalte mich gerne und ich lasse mich gerne unterhalten.

Ich höre Gott sagen: Let me entertain you.

Ich höre mich sagen: Let me entertain you.

Ich nehme Theologie im Modus der Unterhaltung wahr.[1]


Gott unterhält die Welt, wie es die altprotestantische Orthodoxie eindrücklich in der Schöpfungslehre deutlich gemacht hat. Diese Erkenntnis hat eine ästhetische Dimension, die z.B. Johann Sebastian Bach als Theologe der erhörbaren Ordnung einer Welt, die Gott geschaffen hat und (unt)erhält, zum Klingen bringt.

Gott unterhält sich mit der Welt und umgekehrt: Wir unterhalten uns mit Gott. Wahrheit entsteht nach protestantischem Verständnis im Dialog, sie wird nicht dekretiert. Ein solcher Dialog geschieht etwa im Gottesdienst, wie Luther dies mit seiner Torgauer Formel von 1544 deutlich gemacht hat: "das nichts anders darin geschehe, denn das unser lieber Herr selbs mit uns rede durch sein heiliges Wort, und wir widerumb mit im reden durch Gebet und Lobgesang" (WA 49, 588). Aber dies geschieht auch im freien geschwisterlichen Gespräch auf Augenhöhe, was etwa in der bürgerlichen Frömmigkeit bei Schleiermacher ohne Hierarchisierung eine vorbildliche moderne Ausprägung erfahren hat und heute die Theorien von Seelsorge und Diakonie ebenso prägt wie die Religionspädagogik. Für diese ästhetischen Gestaltungen der Praktischen Theologie haben insbesondere die reformierten Traditionen in Frömmigkeit und Theologie wesentliche Anstöße gegeben.

Schließlich bedeutet das Theologumenon der Unterhaltung aber in Zeiten der Popkulturalisierung auch: Theologie, Glaube, Kirche, Religion machen entweder Spaß oder sie berühren die Menschen kaum noch. Theologie, Glaube, Kirche und Religion müssen lernen, Unterhaltung als wesentliches zeitgenössisches Paradigma bzw. Sinnsystem ernst zu nehmen.

Ich gehe gerne ins Kino, weil es Spaß macht. Das ist für mich ein theologischer Satz.

Das Kino unterhält mich.

Im Kino kann ich meine platonischen Bedürfnisse ausleben. Zurückgelehnt in einem weichen Sessel, im selbstvergessenen Dunkel, gebe ich mich hin, lasse ich mich aufsaugen, setze ich mich einer Totalität aus, die mich mit ihrer Spannung entspannt. Das ist schlicht mitreißend, dem kann nach meiner Erfahrung kaum jemand widerstehen. Das macht Spaß.

Das Kino hat viele Vorteile: Hier riecht man nichts. Der Film ist zweidimensional und wahrt damit einen Abstand. Ich kann dabei körpervergessen essen und trinken. Der Film passiert mich, nicht mir. Weil es diese Distanz gibt, kann ich in meinen (Un)Tiefen berührt werden. Diese Totalität ist ein Als-ob-Raum und kann mich genau deshalb nachhaltig bewegen. Ich bin freiwillig dort und habe meinen Tribut im Vorhinein erstattet. Alles Menschen Erdenkliche ist im Film möglich. Das meiste davon aber überrascht mich als unausdenklich – dann war der Kinogang für mich ein Gewinn. Manches bleibt auch bedenklich. Im Kino bleibe ich völlig sauber und kann mich deshalb dem aussetzen, was in mir, Mensch, schlummert. Ich gehe mit dem mit, was meine Ordnungen unterläuft und sie genauso unterhält. Kino ist ganz(,) schön(,) schmutzig!

Im wahren Leben, wo der Platonismus m.E. nicht weiter hilft, kommt es meistens anders, mitunter schlimmer. Dort komme ich nicht sauber davon. Dort muss ich mir die Finger schmutzig machen. Da tut das Kino als Ort der Entlastung tut mir gut. Indem es entlastet ist es zugleich ein Ort der Selbst-, aber auch der Welt-, mitunter sogar der Gotteserkenntnis ist.


Seit sieben Jahren gehe ich kaum noch ins Kino. Wir haben mittlerweile drei Kinder. Ich habe gelernt, dass es auch ohne Kino geht. Auch zu Fragen von Sauberkeit und Schmutz habe ich in der Zwischenzeit ein anderes Verhältnis bekommen. Für mich völlig überraschend musste ich feststellen: Ich habe das Kino überhaupt gar nicht vermisst.

Natürlich schaue ich mit meinen Kindern eine Vielzahl von Zeichentrickserien und Kinderfilmen, die theologisch allesamt noch auf eine Aufarbeitung warten: Von Michel aus Lönneberga, Pippi Langstrumpf, Madita über Cars I und II (besonders gut!), Shrek I-IV, Ninjago, Die Pinguine aus Madagascar bis hin zu Kim Possible sowie Phineas und Ferb (einfach sensationell!) etc. Wir haben familiär harte Entzugserscheinungen hinter uns über die Frage, welche Macht der Fernseher haben kann und welch ein Segen es ist, wenn man diese Filme auf DVD hat und die Uhrzeiten des Schauens selbständig bestimmen und aushandeln kann.

Aber nun geht es langsam wieder los mit dem Ins-Kino-Gehen, was ich natürlich auch wieder genieße. Vor einem Jahr waren wir alle, mit dem Jüngsten im Bauch der Mama, erstmals im Kino: König der Löwen in 3D. 3D fanden wir einhellig affig. Glücklicherweise war der Film stark genug, so dass Papa und Sohn sich im Kino in den Armen lagen und gemeinsam heulten (wobei die 3D-Brillen störten). Mein Sohn sagte danach, medial selbstverantwortlich: Schöner Film, aber den schaue ich mir erst wieder mit 12 Jahren an.

Kürzlich waren wir alle zusammen in Turbo – kleine Schnecke, großer Traum: ein Zeichentrickfilm voller Theologie, angefangen von Theo, der Hauptschnecke über all die Hiob-Fragen, wie übel einem das Leben mitspielen kann oder die David-Fragen, wie unmögliche Träume wahr werden können bis hin zum großen Showdown, bei dem die Gerechtigkeit vor den Augen der ganzen Welt Gericht hält und zugleich versöhnt. Mein ältester Sohn (7 Jahre) war völlig begeistert von Zielstrebigkeit und dem Tempo dieses Roadmovies. Meine Tochter (4 Jahre) hielt es nach 60 Minuten nicht mehr aus auf ihrem Sitz. Ich wanderte dann mit ihr durchs Kino, um dieses körperlich totalitäre Erlebnis des Aufgesaugtwerdens angemessen agieren zu können. Natürlich war sie begeistert.

Unser jüngster Sohn, begabt mit Trisomie 21, noch kein Jahr alt, musste voll mitbezahlen und das völlig zu Recht. Er ließ nicht locker, bis er sich in einer Stellung befand, in der er sich völlig gebannt dem soundvollen Lichtspiel hingeben konnte. Er hatte offensichtlich seinen Spaß dabei. Die Frage, ob das bei ihm bleibende Schäden hinterlässt, hat uns natürlich bewegt. Aber genau deshalb, weil das Leben bleibende Schäden hinterlässt, gehen wir ja ins Kino und lassen uns dort unterhalten.

Das Kino lässt mich in die Faszination des Totalitären eintauchen, ohne dabei dran glauben zu müssen. Darum gehe ich als Theologe gerne ins Kino.

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu meine Habilitationsschrift: Unterhaltung. Praktisch-theologische Exkursionen zum homiletischen und kulturellen Bibelgebrauch im 19. und 20. Jh. anhand der Figur Elia, Frankfurt/M. 2000.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/86/hsw15.htm
© Harald Schroeter-Wittke, 2013