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Symbolismus

Vorstellungen ausgewählter Videoclips XL

Andreas Mertin

Eine Art Gemischtwarenladen bilden die Videoclips, die ich für diese Ausgabe des Magazins zusammengestellt habe. Aber der größte gemeinsame Nenner der Clips ist tatsächlich eine Form des Symbolismus.

Lady Gaga – Applause (2013 – 3:35)

Keinen Beifall verdient Lady Gaga – zwischenzeitlich zur Elevin der Performancekünstlerin Marina Abramović mutiert – für ihr Video zu „Applause“. Ist ihre Musik eh schon zur langweiligen Konfektionsware und Clubgestampfe-Fließbandproduktion geworden, so ist das Video eine Form der kulturellen Resteverwertung. „Pop culture was in art, now art's in pop culture in me”. Ja vielleicht, aber die Popkultur, auf die sie sich bezieht und die sie sich angezogen bzw. einverleibt hat, ist dann doch eher die Pop-Art der 50er- und 60er-Jahre und eine Art aufgewärmter Warholismus. Ihre Performance aber als „Appropriation Art“ zu bezeichnen täte ihr doch zu viel der Ehre an. Das ist alles zu glatt und vor allem zu uninspirierend. Wer die Pop-Musik zur Kunst adeln will, muss schon mehr tun, als bloß ein Kunstetikett draufzukleben und einige Nachhilfestunden bei Top-Künstlern des Weltmarktes zu nehmen. Das erinnert an die verzweifelten Versuche der Werbeindustrie, ihre Arbeit mit dem Etikett „Kunst“ zu adeln. Nicht nur der durch und durch industrielle Charakter, die Abkunft aus der Warenwelt spricht dagegen – bei der Werbung und bei Lady Gaga. In der Sache ist „Applause“ ein intertextuelles Gewebe mit Anspielungen auf die Musikszene und zahlreiche vertraute kulturelle Symbole – eine Art Bilder-Recycling.


Majical Cloudz – Childhood’s end (2013 – 3:49)  

Wer der biblischen Krise der Weisheit zugetan ist, dürfte mit den Texten und Visualisierungen des kanadischen Indie-Pop-Duos Majical Cloudz etwas anfangen können. Schwermütig klingt die Musik und fast schon depressiv der Text:

Someone died, gunshot right outside / Your father, he is dead / I see him in my head / Childhood's end / Goodbye my holy friend / Love me, it's a sin / Can you see me caving in? …

Brothers feel / Killing time standing in the field / Our fate, it is sealed / At birth we made a deal / I don't cry / God, tell me why / Love, death, night flight / Best friend crucified

Das in Schwarz-Weiß gedrehte Video unter der Regie von Emily Kai Bock begleitet einen alten Mann in seinen letzten Tagen. Am Anfang klaubt er Wachsmalstift-Reste in der Schule zusammen, in der er als Putzmann oder Hausmeister arbeitet. Dann macht er sich auf den Heimweg durch eine winterliche Stadt. Zwischendurch besucht er zunächst eine menschenleere Kirche, dann einen Supermarkt, in dem er von einem kleinen adrett gekleideten Jungen angestarrt wird. Zuhause angekommen, bereitet er sich eine Tomatensuppe zu, liest in der Zeitung und schneidet das Foto eines jungen Mädchens aus. Dieses Foto malt er dann mit den zusammengeklaubten Wachsmalstiften und Wasserfarben nach. Die Kamera schwenkt durch die Wohnung, die mit Malutensilien gefüllt ist. Der alte Mann schläft erschöpft am Maltisch ein. Durch die Jalousie des Zimmers dringt helles Licht und der alte Mann wacht auf und erhebt sich. Nun wechselt die Darstellungsebene ins Metaphorische. Wir sehen den alten Mann im Schneegestöber zwischen zwei Eisenbahnschienen stehen, den Blick starr auf etwas gerichtet, was hinter der Kamera ist. Im Gegenschnitt erkennen wir, dass es sich um eine Lokomotive handelt. Der Mann fällt (anbetend?) auf die Knie. In einem unwirklichen Einschub sehen wir ihn dann weiterhin im Schneegestöber zahlreiche Menschen fröhlich mit seinem Hut begrüßen. Sein Weg führt ihn aber gegen die Laufrichtung der Menschengruppe aus der Welt fort.

Am Schluss liegt er zwischen den Gleisen im Schnee wie in einem Grab und die Kamera fährt langsam von ihm weg nach oben.

Someone died, gunshot right outside / Your father, he is dead / I see him in my head / Childhood's end / Goodbye my holy friend.

Man kann das natürlich auch insgesamt als Metapher für das anthropomorphe Gottesverhältnis deuten. Das Ende der menschlichen Kindheit.


Majical Cloudz – Bugs Don't Buzz (2013 – 3:22)

Von den vorgestellten Videos gefällt mir das folgende am besten – vielleicht weil es so morbid, rätselhaft, aber auch in einem gewissen Sinne bösartig ist. Der unter der Regie von Gordon von Steiner entstandene Clip zu Bugs don’t buzz von Majical Cloudz ist textlich eine direkte und äußerst ambivalente Ansprache an einen Partner (nach einer gescheiterten Beziehung?): The cheesiest songs all end with a smile / This won’t end with a smile, my love. Das klingt schon ziemlich unheilsschwanger und bedrohlich.

Die visuelle Umsetzung dazu zeigt uns zunächst einige Blatthornkäfer (Pleurophorus caesus), Verwandte des ägyptischen Skarabäus, in Nahaufnahme beim Erkunden einer für sie fremdartigen künstlichen Landschaft. Sie krabbeln wie große Totenkäfer durch das Bild. Dann sehen wir einige Exemplare der Gattung in einer Art Theater-Puppenstube herumklettern, sozusagen „über Tisch und Bänke“. In der nächsten Szene blickt ein menschliches Auge schlammverkrustet um sich, später schlägt eine Hand langsam einzelne Töne auf dem Klavier an. Diese verschiedenen Bildebenen werden nun im Folgenden weiter entwickelt und kunstvoll miteinander verknüpft.

Eine Hand setzt eine Kakerlake zu den Blatthornkäfern in die Puppenstube, die dann auch über das Klavier krabbelt. Eine menschliche Figur entsteigt einem ölartigen Schlamm und erhebt den Blick gegen den Himmel. Und so summieren sich die Symbole für das Entsetzen, den Ekel und die Vergänglichkeit. Noch das Artifiziellste wird zerstört. Vanitas par excellence. Und am Ende des Clips geht dann alles in Flammen auf, ein apokalyptisches Autodafe einer Beziehung, die mit dem Tod nicht endet, sondern über den Tod hinausgeht:

Wait with me in slimy wet darkness  
I’ll be right beside you, my love
Bugs don’t buzz when their time approaches
We’ll be just like the roaches, my love.

Ja, wir sind nur Kakerlaken. Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh; denn es ist alles eitel. (Prediger 3,19ff.)

Der Clip vermeidet jede Form der Eindeutigkeit, er stellt Symbole bereit, die wir aus der Kulturgeschichte der Menschen und aus der jüngsten Geschichte kennen, aber er belässt ihnen ihre Mehrdeutigkeit.

Wem Bugs dont buzz zu morbid ist, dem empfehle ich


Villagers - Earthly Pleasures (2013 – 4:09)

Die Gruppe Villagers ist eine 2008 gegründete irische Indie-Folk-Band, die für ihre „dunkle Lyrik“ gelobt wird. Der Clip zu „Earthly Pleasures“ hergestellt unter der Regie von Tom Werber ist analog zum Liedtext kunstvoll parabelartig aufgebaut.

Alles beginnt bei der morgendlichen Toilette und dem existenziellen Zweifel: “Naked on the toilet with a toothbrush in his mouth / When he suddenly acquired an overwhelming sense of doubt / Every single piece of baggage he'd been holding on his back / Was beginning to d-d-dig in and then his back began (began) to crack”

Der Protagonist fällt ins Bodenlose und sieht sich in einen Kriegsschauplatz des Jahres 1822 versetzt (vermutlich der griechische Unabhängigkeitskrieg). Er sieht die Grauen des Krieges, aber wird auch gezwungen, mitzumachen: „And so he did as all the others had already done / He put his finger on the trigger and he got em some“. Eventuell könnte hier eine visuelle Adaption des Gemäldes „Der Tod des Markos Botsaris“ von Ludovico Lipparini vorliegen.

Der Protagonist fällt wieder zurück in den Malstrom seines Zweifels und landet in der sich anschließenden Szene in der mit Milch gefüllten Badewanne einer kosmischen ägyptischen Göttin. Dieser klagt er sein Leid, aber sie erweist sich als ziemlich unbeeindruckt:

“And so he frantically described to her the kingdom at her feet / As she continued with her manicure and poured another tea / As he was recounted tales of misery and suffering and pain / She was yawning at the ceiling, so he had to up his game.”

Eine Bitte erfüllt sie ihm, er darf eine Wunsch auf ihre Stirn schreiben und der Betrachter liest dort das Wort „Pleasure“, was man mit „Vergnügen – Freude – Lust – Genuss – Gefallen – Pläsier“ übersetzen könnte. Die Göttin schmeißt dann den Protagonisten mit großem Schwung in den Kosmos hinaus, wo er durch Galaxien taumelt und vielleicht nicht ganz unerwartet in der (Musikanten-)Hölle von Hieronymus Boschs Garten der Lüste (Garden of earthly delights) landet.

Fazit des Sängers: Am Ende gibt es kein Erwachen aus diesem Alptraum des Zweifels, man bleibt hoffnungslos in ihm gefangen. “Now I truly understand / That I don't understand a thing / So let this earthly pleasure sing”.

P.S.: Ubi sunt

Ach ja, Katy Perry hat es mit Roar diesmal nicht über die Aufmerksamkeitsschwelle geschafft. Zu banal.

Aber für die Freunde des Schlagers möchte ich doch noch etwas nachtragen: den Auftritt von Marlene Dietrich bei der UNICEF-Gala 1962, bei dem sie das Lied „Where Have All the Flowers Gone“ in der durch sie berühmt gewordenen deutschen Fassung singt. Das Lied selbst greift einen Topos von Predigt und Literatur des Mittelalters auf: "Wo sind sie (geblieben), die vor uns auf der Welt waren?"

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/86/am461.htm
© Andreas Mertin, 2013