Die Tradition des „Politischen Nachtgebets“ um Dorothee Sölle

Stefan Schütze


Die folgenden Erörterungen sind ein Textauszug (S. 39-46) aus dem Buch

Stefan Schütze (2013): Gefeiertes Geheimnis.
Spiritualität, Ritual und Gottesdienst in einer nachtheistischen Religiosität:
GRIN VERLAG


den wir mit freundlicher Genehmigung des Verlages und des Autors veröffentlichen.



5. Die Tradition des „Politischen Nachtgebets“ um Dorothee Sölle

Lektürebasis:

Uwe Seidel und Diethard Zils: Aktion Politisches Nachtgebet. Analysen, Arbeitsweisen und Politische Gottesdienste aus Augsburg, Berlin, Bonn-Bad Godesberg, Dinslaken, Düsseldorf, Köln, Osnarbrück, Rheinhausen, Stuttgart, Trier und Utrecht, Wuppertal 1971

(1) „Googelt“ man im WWW nach den Begriffen „nachtheistisch“ bzw. „nichttheistisch“ und „Gottesdienst“ bzw. „Gebet“, so findet man v.a. Verweise auf die Tradition des „Polititischen Nachtgebets“ um Dorothee Sölle in den späten 60er- und den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Neben der Korrelation von religiöser Praxis mit (befreiungstheologischer) politischer Aktion ging es dabei zentral auch um die Entwicklung einer „nachtheistischen“ Form von Gebet und Frömmigkeit, die Sölles Programm, „atheistisch an Gott (zu) glauben“ entsprach. Das „theistische Gebet" sollte hier in Richtung einer „nachtheistischen Form des Gebets" weiterentwickelt werden, das nicht mehr einen transzendent gedachten Gott zum Handeln anregen, sondern im Sinne der immanenten Gegenwart des Göttlichen in den Taten und Handlungen der Glaubenden diese motivieren, informieren und für die politische Aktion sensibilisieren sollte.

(2) Das „Politische Nachtgebet fußt theologisch auf einer starken Kritik des traditionellen theistischen, aus Sicht der Autoren ideologischen und herrschaftsstabilisierenden patriarchalen dogmatischen Religions- und Gottesverständnisses, die J. Tillmanns so formuliert: „Die Verkündigung eines zeitlosen, immer gleichen Wortes Gottes an einen zeitlosen sich ‚letztlich‘ immer gleichen Menschen entschwindet ins Ghetto der schweigenden Mehrheit, dorthin, wo alle Fragen zugeschüttet und totgetrampelt worden sind. Es wandert ab in eine Welt relativer Stabilität, aus der es auch herkam, die Welt griechischer Metaphysik und Kreislaufdenkens, und wird mit ihr vergehen.“[1]

Max von der Grün ergänzt diese programmatische liturgische Theismuskritik so: Die Erfahrung vieler heutiger Menschen mit den in den christlichen Kirchen gefeierten Gottesdiensten zeigen, „wie die Kirche in ihren eigenen Formen erstarrt ist, dass nicht mehr der Inhalt zählt, sondern nur noch die Form der Institution. … Das Politische Nachtgebet kann nicht über Nacht ausräumen, was sich in Jahrhunderten als Dogma etablierte, aber es kann verdeutlichen, welchen Machtanspruch die Kirche heute geltend macht, ohne den Unterdrückten beizustehen. Wir sind nicht mehr das Volk, das ergeben in den Kirchenbänken sitzt und sich Reden anhört, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben … Das Politische Nachtgebet sehe ich zuallererst als Instrument der Aufklärung, der Information, der Anregung zum Denken für mich und andere …“[2]

Dorothee Sölle fragt in diesem Zusammenhang dann konkret, wie im Rahmen einer solchen politisch sensiblen nachtheistischen Veränderung von christlicher Theologie und christlichem Gottesdienst gerade auch das „Beten“ theologisch neu konzipiert und nach Form und Inhalt verändert werden muss. „Die Schwierigkeit jeder theologischen Aussage heute“, so Sölle, „besteht darin, dass wir zunächst den Schutt abräumen müssen, den die Tradition uns hinterlassen hat, als sie zerfiel. Diese Schwierigkeit stellt sich beim Beten in extremem  Maße.“ Man kann, so Sölle weiter, heute nicht nach neuen, privaten oder öffentlichen, Formen des Betens suchen, ohne dabei „die Zerstörungen“ aufzuspüren, „die mit Hilfe von Gebeten angerichtet worden sind und noch angerichtet werden“.[3]

Das Beten wurde und wird als „Alibi“ missbraucht, das die „Nutznießer und Mitschuldigen“ von Unterdrückung und Unrecht „davon abhält, irgendetwas gewusst zu haben“, es hat so missbraucht zur tatenlosen „Passivität“ angesichts ungerechter Verhältnisse „verführ(t)“, und wurde im Sinne eines „magischen“ Religionsverständnisses gedeutet, „weil Magie dem Menschen schnellere und leichtere Hilfe verspricht, als der christliche Glaube es kann“.[4] „Magisches Beten rechnet mit dem wunderbaren Eingreifen eines extramundanen Wesens, das unsere Schwierigkeit plötzlich und ohne unser Zutun löst“; dagegen gilt es in einem theologisch neuen Verständnis von Spiritualität und Gebet, wie es den „Politischen Nachtgebeten“ zugrunde liegt, „aufzuhören, die eigene Ohnmacht zu verklären und auf den Fetisch, den alles vermögenden Papa, der die Sache schon in Ordnung bringen wird, zu starren.“ Vielmehr sind wir selbst es, die von Gott für das von uns Erbetene in die Pflicht genommen werden: „Denn Gott … hat keine anderen Hände als unsere. Keine anderen Augen, keine anderen Ohren. Der Schrei, den wir nicht hören, wird nicht gehört, das Unglück, das wir nicht wahrnehmen, wird nicht wahrgenommen.“[5]

Auf dieser Grundlage fragt Sölle dann konkret, wie „ein Gebet, das in dieser christlichen, erwachsenen Gottesvorstellung und nicht in theistischen Illusionen wurzelt, aussehen“ kann.[6] Offenbar eben nicht mehr so, dass Gott zum Bewirken des Gewünschten aufgefordert wird, etwa in der Bitte an Gott, Frieden zu schaffen. Dabei ist sich Sölle bewusst, dass diese naive Form eines magischen Bittgebets die liturgische Sprache in vielen Gottesdiensten immer noch prägt, dass „viele landläufige kirchliche Gebete um den Frieden“  nach wie vor „naiv, … reflexionslos und – weil von einer magischen Erwartungshaltung getragen – unchristlich“ sind.[7]

Nicht wirklich weiterführend ist für Sölle auch jene Kompromissform des Betens, die Gott nicht mehr zur direkten Intervention in der Welt, aber zum indirekten Wirken über die Veränderung der „Einsicht“ und „Herzenshaltung“ der „Mächtigen“ und politisch Verantwortlichen auffordert, von ihnen die Veränderung der Verhältnisse erwartet, dabei aber selbst passiv bleibt, und sich der eigenen Verantwortung für die Veränderung der ungerechten Verhältnisse entzieht.

Dagegen stellt Sölle ein neues Verständnis von Gebet als eine auf politischer Information und Konkretion begründete Praxis der „politisch-theologischen Selbstformulierung“[8] von Menschen. Das Gebet um den Frieden etwa heißt dann nicht mehr wie bei Martin Luther „Verleih uns Frieden gnädiglich“, sondern ist wie bei Franz von Assisi die Bitte, „‘Werkzeug deines Friedens‘ selber zu werden“[9]. „Was diese Art des Betens kennzeichnet, ist nicht die passive Erwartungshaltung, die darauf hofft, dass uns der Friede ‚verliehen‘ wird, wie gute Ernte oder Gesundheit, sondern eine Art Kooperation mit Gott. … Wir erwarten nicht mehr Wunder von außen im Gebet, weil wir selber in das Wunder der Veränderung einbezogen sind und im Gebet unsere Zukunft vorwegnehmend formulieren. … Dass Menschen ihren Hunger nach dem Reiche Gottes aussprechen, ist das Beten.“[10]

Entscheidend für ein nachtheistisches Gebet ist darum auch nicht mehr die Anredeform an Gott. Auch „eine Klage, die kein Du mehr anspricht, genauso wie ein Lob, das sich ganz in das Gelobte hineingibt“, kann „‘Gebet‘ sein … Ob der Adressat eines Gebetes Gott ist – oder die illusionistische Projektion der eigenen Wüsche – das entscheidet sich an den Inhalten, nicht an den Formen oder der überkommenen Sprache.“[11]

(3) Bei einer konkreten Durchsicht der verschiedenen in „Aktion Politisches Nachtgebet“ veröffentlichten Gottesdienste „aus Augsburg, Berlin, Bonn-Bad Godesberg, Dinslaken, Düsseldorf, Köln, Osnarbrück, Rheinhausen, Stuttgart, Trier und Utrecht” findet man in der Sprache der dort veröffentlichten Gebete dann aber m.E. wenige Formulierungen, die dieser Radikalität des Sölle’schen Gebetsdenkens wirklich Rechnung tragen, sondern viele eher nur leicht modifizierte traditionell theistische Gebetsformeln und Gebetsanreden. Diese traditionellen „Formeln“ werden jetzt aber durchweg kontrastiert mit sehr konkreter politischer Information und Schilderung der von uns Menschen selbst zu verändernden Verhältnisse.

Beim Poltischen Nachtgebet „Minderheiten in unserer Gesellschaft“ in Augsburg 1970 wird etwa „Gott“ weiterhin patriarchalisch-dominisierend als „Herr“ angesprochen, jedoch der traditionelle Gebetsruf „Herr, erbarme dich über uns alle“ neu gedeutet durch ihm entgegengestellte selbstappellatorische politische „Informationsformulierungen“ wie: „Menschen, die mit den Gesetzen in Konflikt geraten, … werden abgeschoben und in Ghettos gesteckt. … Menschen, die neue Ideen vertreten, werden misstrauisch angesehen, Menschen, die eben bloß anders sind, finden unsere Türen verschlossen …“[12]

Ähnlich werden beim Politischen Nachtgebet „Jeder hat eine Chance“ in Düsseldorf 1970 mit der traditionellen dominologischen Christusprädikation „So spricht der Herr“ eingeleitete Bibelworte und der ebenfalls weiter dominologisch formulierte Gebetsruf „Hilf uns, Herr“ mit selbstkritischen politischen Situationsbeschreibungen und selbstappelativen Gebetszielen korreliert, pointiert zusammengefasst in der wiederkehrenden Gebetsbitte: „Hilf uns, Herr, dass wir durch unseren Einsatz die Verhältnisse ändern!“[13]

Auch beim Poltischen Nachtgebet „Kinder klagen an“ in Köln 1970 werden die Gebetsanreden „Herr, unser Gott“ und „Lieber Herr“ verwendet, und in traditionell theistisch-agentialer Sprache Gott gedankt, „dass du unseren Weg bestimmt hast und nicht der Zufall, nicht die Sterne, die manche Leute befragen“.[14] Auch die weitere Anrede „Du bist der Gott unserer Väter“ bleibt ungebrochen einer patriarchalen Redeform verhaftet (die die „Mütter“ nicht nennen zu brauchen meint); lediglich der Fortsatz „Du hast in Menschenhände auf Erden den Fortschritt des Lebens gelegt“ lässt Dorothee Sölles Reformimpuls der „politisch-theologischen Selbstformulierung“ hier anklingen.[15]

Das Poltische Nachtgebet „Lehrlinge – Ausbildung oder Ausbeutung“ in Rheinhausen 1970 redet Gott ebenso ungebrochen dominologisch mit „Herr“ an, und nutzt dann das weitere Gebet zu einer informierenden politisch-theologischen Reinterpretation der traditionellen Rede von „Gottes Geboten“: „Deine Gebote, Herr, sollen unserem Verständnis nach nicht die Herrschaft der wenigen über die vielen sichern“, sondern: „Wach machen wollen uns deine Gebote, Herr, ungerechte Zustände zu durchschauen und gegen sie zu protestieren.“ Der nachtheistische Reformimpuls Dorothee Sölles kommt wieder am ehesten im selbstappellativen Charakter der wiederkehrenden Gebetsbitte zum Ausdruck: „Lass uns für die Gerechtigkeit eintreten, die jedem Menschen zusteht.“[16]

Nur beim Poltischen Nachtgebet „Erziehung zum Ungehorsam“ in Bonn – Bad Godesberg 1969 wird schließlich dagegen nicht das dominologische „Herr“, sondern die allgemeinere Gebetsanrede „Gott“ verwendet, verbunden wiederum mit Gebetsaufforderungen an „Gott“, die zugleich die Form eines politischen Selbstappells haben, z.B.: „Gott, lass uns furchtlos, einsichtig, ausdauernd sein, nein zu sagen, wo immer Menschen verknechten.“[17]

Im Ergebnis ist nach meiner Auswertung festzuhalten, dass das „Politische Nachtgebet“ seinen liturgischen Reformimpuls im Wesentlichen dadurch verwirklicht hat, dass es die traditionelle, patricharchalisch anthropomorphe und dominologische Gebetssprache zwar recht ungebrochen weiterverwendet, sie zugleich aber korreliert mit einer politisch-informierenden inhaltlichen Akzentuierung der Gebetstexte, und v.a einer selbstappellativen Grundform der Gebetsbitten, die die entsprechenden Impulse Dorothee Sölles für ein Neuverständnis von Gebet als eine auf politischer Information und Konkretion begründete Praxis der „politisch-theologischen Selbstformulierung“[18] von Menschen zwar aufgreift, hinter der eigentlichen Radikalität ihres nachtheistischen Ansatzes aber dennoch noch weit zurückbleibt.

(4) Fragt man abschließend zusammenfassend kritisch nach dem Ertrag der liturgischen Bewegung des „Politischen Nachtgebets“ für die Entwicklung neuer, weiterführender und auch nachtheistisch „sprach- und sagfähiger“ Ausdrucksformen für Spiritualität, Ritual und Gottesdienst, so fällt die Bilanz aus meiner Sicht darum gemischt aus.

Das „Politische Nachtgebet“ war sicherlich ein profilierter früher Versuch der Überwindung eines engen, absolutistischen Verständnisses von Religion und Theologie auch in den Formen praktischer, gemeinschaftlicher Frömmigkeit, in der Sprache von Ritual und Gebet. Die theologischen Impulse Dorothee Sölles für eine nachtheistische Rekonstruktion eines liberalen evangelischen Verständnisses von Gebet und Gottesdienst sind aus meiner Sicht auch noch heute richtungsweisend, wenn auch aus der Sicht eines komplextheologischen Verständnisses von Gott, Gottesdienst und Gebet mit gewissen Einschränkungen zu rezipieren (s.u.).

Kritischer ist die Bilanz aber aus meiner Sicht für die Frage der praktischen Weiterentwicklung der  Ausdrucksformen von Ritual, Kultus und Gottesdienst. Inwieweit hat das „Politische Nachtgebet“ auch tatsächlich zu einer neuen spirituellen Sprache und zu einer wirklich nachtheistischen Erneuerung insbesondere der Ausdrucksformen von Gebet und Meditation geführt, einer neuen Gebetssprache, die zugleich theologisch kritisch und spirituell tiefgehend ist, im Sinne von Dorothee Sölles eigener Forderung nach einer Überwindung der an einen himmlischen Weltenlenker gerichteten magischen traditionellen Gebetssprache zugunsten eines neuen, zugleich wirklichkeitsnäheren und mystischeren Betens?

Drei kritische Rückfragen sind hier m.E. aus heutiger Sicht an die Tradition des „Politischen Nachtgebets“ abschließend zu stellen:

  • Inwiefern leidet die Gebetssprache des „Politischen Nachtgebets“ an einer gewissen Tendenz zur Intellektualisierung des Spirituellen, einer gewissen Funktionalisierung des Betens im Rahmen des Ziels der politischen „Information“, die es entgegen seiner befreiungstheologischen Ausrichtung faktisch doch an die kognitiven Voraussetzungen eines eher bürgerlichen Bildungsmilieus bindet?
  • Ist es den Autor/inn/en der „Politischen Nachtgebete“ tatsächlich gelungen, eine neue, nachtheistische Gebetssprache zu entwickeln, die über die Aporien des traditionellen supranaturalistischen Bittgebets auch in formaler Hinsicht hinausführt, und nicht faktisch in dieser Hinsicht doch noch „neuen Wein in alte Schläuche“ (Mk 2, 22 parr.) füllt? Auffallend ist die fast durchgängige Verwendung nach wie vor traditionell dominisierend-patriarchaler Anrufungsformen für das Göttliche wie „Herr“ oder „Vater“, und die nach wie vor beibehaltene Struktur der Formulierung von Handlungsappellen an eine göttliche Wirkmacht, auch wenn die „erbetenen“ Handlungen nicht mehr so sehr auf eine göttliche Intervention in die Welt, als auf eine göttlich gewirkte Veränderung der inneren Haltung der Betenden gerichtet sind.
  • Inwiefern leidet die Gebetssprache des „Politischen Nachtgebets“ dabei auch grundsätzlich an einer gewissen Tendenz zur Reduktion des Religiösen auf das Ethische, und steht damit in der Gefahr einer gewissen spirituellen Äußerlichkeit und mangelnden emotionalen Tiefe, die auch der sog. „mystischen Wende“ der späten Dorothee Sölle noch nicht gerecht wird?

(5) Hierzu abschließend nochmals eine Kontrastierung der Impulse Dorothee Sölles im Zusammenhang des „Politischen Nachtgebets“ mit wesentlichen in meinem Buch „Gott, Welt und Mensch im 21. Jahrhundert“ zusammengestellten theologischen Grundüberlegungen:

Die oben zitierte Formulierung Dorothee Sölles „Gott … hat keine anderen Hände als unsere. Keine anderen Augen, keine anderen Ohren. Der Schrei, den wir nicht hören, wird nicht gehört, das Unglück, das wir nicht wahrnehmen, wird nicht wahrgenommen“[19] ist aus komplextheologischer Sicht vielleicht doch selbst eine reduktionistische Simplifizierung einer komplexen theologischen Frage. Sicher ist „Gott“ im Sinne einer „anatheistischen“ Rekonstruktion von Gottesrede in Übereinstimmung mit der Theismuskritik Sölles nicht als eine Art kosmische „Person“ oder ein agentiales kosmisches Bewusstsein zu denken. In diesem Sinne ist die Rede von „Händen“, „Augen“ und „Ohren“ Gottes, wenn man sie anders als metaphorisch-poetisch deutet, tatsächlich Ausdruck eines „magischen“, voraufgeklärten Gottesdenkens, das im Rahmen einer heutigen säkular-evolutiven Weltsicht nicht mehr zu plausibilisieren ist. Weil ein nachtheistisch gedachter „Gott“ tatsächlich nicht im anthropomorphen Sinne „hören“ und „wahrnehmen“ kann, ist der Satz Sölles „Der Schrei, den wir nicht hören, wird nicht gehört, das Unglück, das wir nicht wahrnehmen, wird nicht wahrgenommen“ richtig und dringlich, aber doch nur ein Teil dessen, was hier komplextheologisch zu sagen ist.

Wenn das Wort „Gott“ für den abgründig-gründigen „glücklichen“ kreativen Prozess steht, aus dem alle Dinge hervorgegangen sind, das „arising and passing that does not itself arise and pass away“[20] // „Entstehen und Vergehen, das selbst nicht entsteht oder wieder vergeht“, dann kann man mit Mark C. Taylor sicherlich sagen:

„In knowing the world, the subject knows itself, and in the subject’s self-consciousness, the world becomes aware of itself“[21], und insofern  "In human beings this creative process has become aware of itself"[22]

„Indem er die Welt erkennt, erkennt der Erkennende sich selbst, und im Selbst-Bewusstsein des Erkennenden wird sich die Welt ihrer selbst bewusst“, und insofern: „In menschlichen Wesen ist dieser kreative Prozess seiner selbst gewahr geworden.“

Oder, wie Catherine Keller es formuliert hat: Nur in seiner Inkarnation in menschlichen Personen wird das Göttliche “personal”:

„The metaphor of streaming love makes it possible for us to relate to the unknowable deep of reality“ in persönlicher Weise: „Its infinite, impersonal mystery gets personal. In spirit and in truth: we find ourselves permeated by love. We may realize that we are in Love. Or is Love in us – inviting, drawing, desiring?“[23]

„Das Bild der sich verströmenden Liebe macht es möglich, dass wir uns“ in persönlicher Weise „auf die unbegreifbaren Tiefe der Wirklichkeit beziehen“: „Ihr unendliches, unpersönliches Geheimnis wird persönlich. Im Geist und in der Wahrheit: Wir spüren, dass wir von Liebe durchdrungen sind. Es kann sein, dass wir gewahr werden, dass wir in der Liebe sind. Oder ist die Liebe in uns – einladend, anziehend, verlangend?“

Insofern sind es tatsächlich jedenfalls in der für uns überschaubaren Wirklichkeit die „Augen“ und „Ohren“ von Gottes Geschöpfen, unsere menschlichen „Augen“ und „Ohren“, durch welche das Göttliche hört oder sieht.

Aber zugleich ist es ja eben jene „glückliche Kreativität“, welche den Kosmos vom Urknall an (creativity1 // “Kreativität1”) über die allmähliche, jahrmilliardenlange Evolution des Universums, die Ausbreitung von Galaxien und Sternen, die Entwicklung der Biosphäre, bis zur Entstehung von Leben auf unserem Planeten und in seiner Folge der Entstehung von intelligentem, bewussten Leben, das heute die kosmische Evolution selbst begreifen kann (“creativity2” // “Kreativität2”), durchwaltet (Gordon Kaufman), die unser menschliches Sehen und Hören, unsere Fähigkeit zu handeln, und unsere menschliche Ko-Kreativität (“creativity3” // “Kreativität3”) selbst erst hervorgebracht hat und in jedem Augenblick erhält und trägt.[24]

Insofern hat „Gott“ anatheistisch gedacht eben nicht „nur unsere Hände“ im Sinne von (“creativity3” // “Kreativität3”), sondern Gottes „Hände“ werden metaphorisch gesprochen sichtbar (unser menschliches Handeln erst „schaffend“, ermöglichend und tragend) in der Aktivität von creativity1 // “Kreativität1” und “creativity2” // “Kreativität2”. Oder, wie Henry Nelson Wieman diesen Gedanken formuliert hat: Die kreative Kraft des Guten ist nicht menschlich, sondern göttlich, weil sie durch Menschen zwar wirken und ihr Tun durchdringen kann, selbst aber keine Möglichkeit menschlichen Handelns oder Hervorbringens ist, sondern alle menschlichen Möglichkeiten übersteigt bzw. sie erst begründet, eine

„creativity that is more than human, which works in this temporal world and can always be trusted to bring forth richer good beyond the human vision of any time“[25].

„Kreativität, die mehr als menschlich ist, die ihr Werk in unserer zeitlichen Wirklichkeit tut und dabei verlässlich immer reicheres Gutes hervorbringt, das die menschliche Perspektive jeder Zeit übersteigt“.

Diese Perspektive schützt eine nachtheistische Rekonstruktion auch von Spiritualität, „Gottesdienst“ und „Gebet“ vor der Gefahr der Reduktion des Religiösen auf das Ethische, und gibt ihnen (stärker, als dies in der Tradition der „Politischen Nachtgebete“ teilweise zum Ausdruck kam) mystische Kraft, Innerlichkeit und emotionale Tiefe, weil sie eben das menschliche Leben und Handeln fundamental „in face of mystery“ // „im Angesicht des Geheimnisvollen“ (Gordon Kaufman) und in diesem Sinne bestimmt vom Göttlichen deutet.

Unbedingt Recht zu geben ist Dorothee Sölles radikaler Gebetskritik dabei aber m.E. darin, dass der Bezug auf eine theistisch oder nachtheistisch gedachte (das menschliche Vermögen übersteigende und es begründende) himmlische oder kosmische kreative Kraft des Guten niemals ein Verdrängen oder Delegieren menschlicher Verantwortung auf eine transzendente „Über“-Macht bedeuten darf, die die uns Menschen von der Aufgabe der Überwindung menschengemachter Unrechts- und Unterdrückungsverhältnisse oder der Abwendung einer menschengemachten globalen ökologischen Katastrophe dispensiert und entlastet.

In diesem Sinne schreibt auch Gordon Kaufman, dass Religion heute keine Vertröstung der Menschen auf eine wunderbare überweltliche Lösung ihrer Probleme mehr bedeuten darf, sondern es zu tun hat

“with the much more basic matter of the objective conditions that make all life – including human life – possible: we are destroying them, and it is we who must find a way to reverse the ecologically destructive momentums we have brought into being.”[26]

„mit der sehr viel grundlegenderen Frage der objektiven Rahmenbedingungen, die alles Leben – einschließlich des menschlichen Lebens – überhaupt möglich machen: wir sind dabei, sie zu zerstören, und wir sind es auch, die einen Weg finden müssen, die ökologisch zerstörerischen Prozesse umzukehren, die wir hervorgerufen haben.“

Der Glaube an die alles menschliche Vermögen übersteigende Macht der göttlichen Kreativität begründet nach Gordon Kaufman wie für Dorothee Sölle darum keine Hoffnung, die menschliches Handeln ersetzt, sondern vielmehr eine Hoffnung, die menschliches Handeln gerade evoziert und orientiert:

„It is a hope about the overall direction of future human history – hope for truly creative movements toward ecologically and morally responsible, pluralistic human existence. A hope of this sort, grounded on the mystery of creativity in the world – a creativity that, on our trajectory, evidences itself in part through our own creative powers – can help motivate men and women to devote their lives to bringing about this more humane and ecologically rightly ordered world to which we aspire. … Thus, we will be led to live in response to, and in so doing will contribute to, the ongoing creative developement of our trajectory – God’s activity among us humans – within this web.“[27]

„Es geht hier um eine Hoffnung für die Gesamtausrichtung der künftigen menschlichen Geschichte – eine Hoffnung auf wahrhaft kreative Bewegungen in Richtung einer ökologisch und moralisch verantwortlichen pluralistischen menschlichen Existenz. Eine Hoffnung dieser Art, die sich auf das Geheimnis der Kreativität in der Welt gründet – einer Kreativität, die sich in unserer evolutionären Bewegungsrichtung teilweise durch unsere eigenen kreativen Fähigkeiten kenntlich macht – kann dazu helfen, Männer und Frauen zu motivieren, ihr Leben dafür einzusetzen, diese humanere und ökologisch besser geordnete Welt hervorzubringen, nach der wir streben. … So werden wir unser Leben als Antwort auf diese unaufhörlich kreative Entwicklung unserer evolutionären Bewegungsrichtung in diesem Netz – auf Gottes Handeln unter uns Menschen – leben, und damit zu ihr beitragen.“

Literatur
  • Kaufmann, Gordon D.: In the beginning … creativity, Minneapolis 2004
  • Keller, Catherine: On the Mystery. Discerning divinity in process, Minneapolis 2008
  • Taylor, Mark C.: After God, Chicago 2007
  • Seidel / Zils: Aktion Politisches Nachtgebet. Analysen, Arbeitsweisen und Politische Gottesdienste aus Augsburg, Berlin, Bonn-Bad Godesberg, Dinslaken, Düsseldorf, Köln, Osnarbrück, Rheinhausen, Stuttgart, Trier und Utrecht, Wuppertal 1971
  • Wiemann, Henry N.: The Source of Human Good, Chicago 1946; Neuauflage Eugene, Oregon, 2008
Anmerkungen

[1]     in: Aktion Politisches Nachtgebet, 10

[2]     in: Aktion Politisches Nachtgebet, 16f.

[3]     in: Aktion Politisches Nachtgebet, 19

[4]     in: Aktion Politisches Nachtgebet, 19f.

[5]     in: Aktion Politisches Nachtgebet, 20

[6]     in: Aktion Politisches Nachtgebet, 20

[7]     in: Aktion Politisches Nachtgebet, 21

[8]     in: Aktion Politisches Nachtgebet, 23

[9]     in: Aktion Politisches Nachtgebet, 19f.

[10]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 23f.

[11]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 24

[12]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 45

[13]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 147f.

[14]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 202

[15]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 204

[16]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 327f.

[17]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 105

[18]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 23

[19]    in: Aktion Politisches Nachtgebet, 20

[20]    Taylor, After God, 311

[21] Taylor, After God, 125

[22]    Taylor, After God, 346

[23]    Keller, On the mystery, 97

[24]    vgl. Kaufman, In the beginning, 76ff.

[25]    Wieman, Source, 115

[26]    Kaufman, In the beginning, 38

[27]    Kaufman, In the beginning, 48

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/82/sts8.htm
© Stefan Schütze, 2013